12. THEORIE DER PRAXIS: EIN METAMODELL ZUR INTEGRATION TRANSAKTIONSANALYTISCHER METHODEN

Perspektiven für eine Weiterentwicklung
transaktionsanalytischer Theorie und Methodik
Vortrag auf dem 19. Kongreß der
Deutschen Gesellschaft für Transaktionsanalyse
Berlin, Mai 1999

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Was ist Ihrer Meinung nach das Ziel transaktionsanalytischen Arbeitens – in Psychotherapie, Beratung, Supervision, Pädagogik, Training, Coaching, wo auch immer? Wie viele Antworten fallen Ihnen auf diese Frage ein?

Wir könnten beginnen bei ‚Erfüllung des Vertrages‘; nun, aber das trifft auf jeden Autokauf auch zu. Machen wir es etwas spezifischer. ‚Skriptheilung‘, ‚Symbiosen lösen‘, ‚Engpässe durchbrechen‘, ‚intrapsychische Veränderung‘, ‚Verhaltensänderung‘, ‚Antreiber und Einschärfungen lösen‘, ‚Ausstiege aus dem Racket-System finden‘, ‚Erwachsenen-Ich-Besetzung fördern‘....

Damit kommen wir der Sache näher – und gleichzeitig doch nicht. Es gibt so etwas wie generell definierte Ziele transaktionsanalytischen Arbeitens nicht. Es gibt im Grunde nicht einmal so etwas wie die Transaktionsanalyse im Sinne eines konsistenten und vernetzten Gebäudes einheitlicher Theorie und Methodik.

Als ich vor ungefähr 20 Jahren zur TA stieß, war ich begeistert und fasziniert von der Klarheit, der Einfachheit und der Wirksamkeit dieser Methode. Das hatte ich im Laufe meines Psychologiestudiums bei Verhaltenspsychologie, nondirektiver Therapie, Psychoanalyse und Familientherapie so nicht gefunden. Das war die Therapieform für mich!

Es dauerte aber nicht lange, bis ich in meiner Ausbildung herausfand, daß – je mehr ich mich in die Materie vertiefte – die Sache immer komplizierter und immer weniger konsistent wurde. Ich fand heraus, daß der Begriff ‚Ichzustand‘ bei einem Autor etwas deutlich anderes bedeuten konnte als bei einem anderen. Ähnlich ging es mir mit ‚Skript‘, ‚Racket‘, ‚Spiel‘ und so weiter. Obwohl es immer die gleiche Sprache mit denselben Termini war, schien die Bedeutung dieser Transaktionsanalyse doch – von Ansatz zu Ansatz und von Person zu Person – ziemlich zu variieren.

Damals, am Anfang der 80er Jahre, unterschied man 3 offizielle Schulen der TA: die ‚klassische‘ TA, die Neuentscheidungsschule von Bob und Mary Goulding und die Cathexis-Schule von Jacqui Schiff und ihren Schülern.

Die Differenzen zwischen ihnen schienen in mehr als nur in Auslegungsfragen zu bestehen: ich selbst hörte Bob Goulding auf einem Seminar – auf die Frage nach den Unterschieden zwischen Neuentscheidungs- und Cathexis-Schule angesprochen – sagen: „I don’t talk about the Schiffs.“ Und – auf der anderen Seite – eine Aussage von Shea Schiff, einem der damaligen Hauptrepräsentanten der Cathexis, auch auf einem Training: „I didn’t know that we and Gouldings agreed at least at one point.“

Das machte die Sache nicht einfacher; schließlich hatte ich in jedem Ansatz sinnvolle, praktikable und auch überzeugende Elemente gefunden. Dann ging es Schlag auf Schlag: ab Mitte der 80er Jahre tauchten mehr und mehr neue Ansätze auf. Tiefenpsychologische TA, Systemische TA, Integrative TA, Sozialpsychologische TA – um nur die wichtigsten zu nennen. Jeden einzelnen dieser Ansätze fand (und finde) ich beeindruckend, wesentlich und unverzichtbar. Das Problem war (und ist) nur, daß jeder von diesen Ansätzen sich als die zentrale und wesentliche Art und Weise präsentiert(e), TA zu konzipieren und zu praktizieren.

All die Zeit, bis heute, habe ich mich damit beschäftigt, eine konsistente und kohärente Art und Weise zu finden, mit TA umzugehen. Es hatte (und hat) oft den Anschein, daß einem dieser Ansätze zu folgen bedeutet, die anderen mehr oder minder links liegen zu lassen – statt sie zu integrieren.

Vor zwei Jahren zählte ich die mir bekannte Ansätze in TA, die sich als „Schulen“ bezeichnen oder so bezeichnet werden, zusammen – und kam auf insgesamt 9 (Untergruppierungen nicht berücksichtigt). Und jede von ihnen schien mir ihren Hauptfokus auf einen bestimmten Punkt zu legen: auf die intrapsychische Dimension, auf Sozialpsychologie, auf Verhalten und Lernen, auf systemisches Denken usw. Und jede Theorie versuchte, TA von ihrem speziellen Fokus her zu erklären und so so etwas wie Konsistenz zu erreichen.

Um es in einem Bild zu sagen: wir haben ein großes Hochhaus, aber das ist nicht von Anfang an durchgeplant worden, sondern ist im Lauf der Zeit ungleichmäßig gewachsen. An einer Stelle wurde aufgestockt, an einer anderen angebaut, an einer dritten ein Korridor zugemauert und dahinter umgestaltet. Manche Stockwerke sind eher mühsam zu erreichen, andere haben mehrere Zugänge. Der Versuch, das alles jetzt zu vereinheitlichen, sozusagen jeden Gebäudeteil von überall her erreichbar zu machen, würde bedeuten, daß große Menge an Bausubstanz und an eigenständiger Charakteristik des Gebäudes verlorengeht. Warum muß man vom fünften Stockwerk direkt in das erste kommen und von dort wieder ebenso direkt ins achte? Vielleicht gibt es Stockwerke, die nur auf Umwegen zu erreichen sind und wo man dann auf demselben Umweg wieder zurück muß - aber soll man deswegen gleich das ganze Stockwerk zumauern oder zur Hälfte wegreißen?

Ich finde es spannend, sich in dem ganzen Haus zurechtfinden zu können und darüber nachzudenken, welche Etage sinnvollerweise wann betreten werden kann. Dabei können wir natürlich sinnvollerweise festlegen, wo das Stockwerk ist, in dem wir unseren Hauptschwerpunkt haben wollen - das tiefenpsychologische, das systemische, das verhaltensorientierte, aber warum deswegen die anderen Etagen stillegen?

Allmählich begann ich mich zu fragen, ob theoretische Integration wirklich das war, was ich wollte und was Sinn machte. Vielleicht ist es ja sehr nützlich, verschiedene theoretische Gesichtspunkte zu kennen, wenn man verschiedene Dinge in der Arbeit fokussiert.

Und vielleicht gibt es einen Weg, um alle diese vielen Ansätze oder Schulen oder Foki in der Praxis zu integrieren.

Mein Ziel ist, so viel vom Reichtum der TA in ihrer Gesamtheit methodologisch zu integrieren; damit meine ich eine Integration transaktionsanalytischer Methoden und Techniken, indem ich ein Gesamtkonzept für den Arbeitsprozeß vorschlage. Dieses Prozeßkonzept ist für Psychotherapie ebenso anwendbar wie für Supervision, Coaching, Beratung, Training oder Organisations- und Teamentwicklung – natürlich mit jeweils unterschiedlicher Schwerpunktsetzung.

Daher nenne ich es ein ‚Metamodell zur Integration transaktionsanalytischer Methoden‘. Es ist kein neuerlicher Versuch, das ganze TA-Gebäude in einem konzentrierten und fokussierten Licht darzustellen und schon gar kein Anspruch, es neu zu errichten. Es stellt für mich eine Möglichkeit dar, sich in diesem Gebäude zu bewegen und seine Teile nutzbar zu machen, je nachdem, wo der Fokus der jeweiligen transaktionsanalytischen Arbeit liegt. Ich verstehe es als Beitrag zu einer Theorie der Praxis.

Ich unterscheide insgesamt 7 verschiedene Foki transaktionsanalytischen Arbeitens. Ihre Reihung ist nicht hierarchisch; sie sind alle wichtig, und sie tauchen alle im Verlauf des transaktionsanalytischen Prozesses auf, manchmal mehr im Vordergrund, manchmal mehr im Hintergrund. Sie werden in unterschiedlichem Ausmaß berücksichtigt, je nachdem, um welche Art von Arbeit es sich dabei handelt.

In einem ersten Teil meines Vortrages möchte ich Ihnen diese Foki einen nach dem anderen am Beispiel des psychotherapeutischen Prozesses vorstellen; anschließend werde ich darauf eingehen, wie die Arbeit mit den 7 Foki in Coaching, Supervision und Beratung aussehen kann.

Stellen Sie sich vor, Sie sind PsychotherapeutIn, und eine neue Klientin kommt zu Ihnen in die Praxis. Sie haben sie bis jetzt nur am Telefon gehört; jetzt ist sie hier zu ihrem Erstgespräch.

Nehmen wir an, sie ist eine Mittdreißigerin; nennen wir sie der Einfachheit halber Frau Schubert.

Noch bevor sie zu sprechen beginnt, können Sie Ihre ersten Beobachtungen machen. Frau Schubert ist eine kleine, stark übergewichtige Frau. Sie kleidet sich etwas nachlässig, nicht besonders feminin. Dann beginnt sie mit leiser, verhaltener Stimme zu sprechen. Dabei verwendet sie häufig Wendungen wie „Das ist dann wieder typisch für mich“ oder „Blöd, wie ich bin...“.

Und wenn Sie diese Dinge sehen, hören, riechen, spüren, dann sind Sie schon mitten im ersten Fokus:

Das erste, das Ihnen ein Mensch zeigt – bevor Sie nach seinen Problemen oder ihrer Lebensgeschichte fragen, bevor sie beginnen, einen Behandlungsvertrag zu etablieren, ja, bevor Sie ein einziges Wort sagen, ist die Art und Weise, wie er oder sie mit sich selbst in Beziehung steht.  Man könnte auch sagen: wie sehr er (oder sie) in Kontakt oder außer Kontakt mit sich selbst ist.

Dieser Bereich umfaßt ein Spektrum, das von Verhaltensmerkmalen bis zu intrapsychischen Aspekten reicht; wir können dabei verschiedene transaktionsanalytische Methoden einsetzen: zum Beispiel mit der (Verhaltens) Diagnose der Ichzustände (welche Ichzustände besetzt der Mensch vorwiegend und wie tut er/sie das?) Wir können der Frage nachgehen, ob und welche Trübungen erkennbar sind; wir können existentielle Grundpositionen erkennen und vieles mehr.

Tiefenpsychologische Dimensionen beginnen, sichtbar zu werden: wie entwickelt sind das Ich und das Selbst? Wie wird Unbewußtes ausgedrückt (z.B. in Träumen)? Wie ist die innere Triebbalance?

Natürlich kommt dieser erste Fokus die ganze Behandlung hindurch zur Anwendung; alle anderen Foki erlauben weitere Rückschlüsse darauf, in welcher Beziehung die Person zu sich selbst steht. Ob in diesem Bereich Veränderung auftritt, ist in hohem Maß Gradmesser für den Erfolg der Psychotherapie.

Früher oder später – wahrscheinlich früher –wird Frau Schubert über andere Menschen zu sprechen beginnen: darüber, wie ihr Mann sie nicht versteht, ihr nicht zuhört, wie er immer nur Sex will; über ihren Chef, der sie ständig anschnauzt, über ihre Kinder, die nicht auf sie hören. In diesem Bereich liegt auch der Hauptgrund, warum sie zur Therapie gekommen ist: sie fühlt sich einsam und unglücklich; ihr Leben macht so für sie keinen Sinn. Sie weiß nicht, ob sie in der Ehe mit ihrem Mann bleiben soll – und wenn ja, wie sie „ihn dazu bringt, mit mir anders umzugehen.“ Sie weiß nicht, ob sie in ihrem Job als Buchhalterin in einem Kleinunternehmen bleiben soll. Sie kennt zuwenig Menschen, vor allem wünscht sie sich Freundinnen.

Und damit sind wir beim 2. Fokus:

Das bedeutet: wir befassen uns damit, welche Ich-Zustände und welche ihrer Rollen (angepaßtes Kind-Ich, kritisches Eltern-Ich) die Person vorzugsweise im Kontakt mit Anderen aktiviert; und wir haben es mit den Arten der Transaktionen (parallel, gekreuzt, verdeckt) und den transaktionellen Muster zwischen Frau Schubert und anderen Menschen zu tun. Wir können beginnen, nach wiederkehrenden Inhalten Ausschau zu halten, also nach Spielen und Rackets. Wir können die Art von strokes, die Frau Schubert hauptsächlich gibt und erhält, analysieren. Oder wir können uns mit Symbiosen und symbiotischen Einladungen, kurz mit passiven Verhaltensweisen beschäftigen – und einiges mehr; die Transaktionsanalyse bietet in diesem Bereich, der ja gewissermaßen ihr ureigenster ist,  eine Fülle von Methoden und Denkansätzen.

Und natürlich finden sich die ersten Querverbindungen zum Fokus 1: die Beziehung, die jemand zu anderen Menschen hat, läßt auch Schlüsse darauf zu, wie er mit sich selbst in Kontakt (oder außer Kontakt) ist.

Frau Schubert erzählt, daß sie es an ihrem Arbeitsplatz fast nicht mehr aushält: ihr Chef nennt sie nur ‚die Dicke‘, was die Kollegen sehr erheitert; zu Firmenveranstaltung wird sie nur dann eingeladen, wenn es sich gar nicht anders machen läßt.

Auf die Frage, warum sie sich denn das gefallen ließe, sagt sie: „Was soll ich denn sonst tun? Ich bin halt eine lächerliche Figur.“

Wichtig ist, daß wir uns bewußt sind, daß alles, was uns Frau Schubert erzählt, ihre Sichtweise, ihr Blickwinkel ist – und damit natürlich nicht dasselbe, wie wenn wir sie in Gruppentherapie beobachten könnten. Das ist ein Grund dafür, daß es sinnvoll ist, Personen nicht nur in Einzeltherapie, sondern auch in Gruppen zu erleben.

Ein Beispiel dafür: eine frühere Patienten von mir erzählte immer wieder empört, daß ihr Freund einfach nicht bereit sei, mit ihr über die Beziehung zu reden, wie sehr sie es auch versuche. Auf die Dauer werde ihr wahrscheinlich nichts anderes übrigbleiben als sich von ihm zu trennen. Allerdings sei das dann die vierte Beziehung in fünf Jahren, die scheitere (die Frau war Anfang 30).

Die Frage, was denn ihr Anteil daran sein könne, daß er nicht mit ihr rede, wies sie immer wieder zurück. Erst als sie sich tatsächlich von ihm getrennt hatte und über die gescheiterte Beziehung zu trauern begann, stellte sich heraus, daß sie immer wieder in wild eskalierende Wut und Gewalttätigkeit verfallen war, wenn er nicht sofort bereit gewesen war, mit ihr über Dinge zu reden, die sie störten.

Das bedeutet nicht, daß Mißtrauen angebracht ist gegenüber dem, was die Menschen, mit denen Sie arbeiten Ihnen erzählen. Es ist nur wichtig, zu berücksichtigen, daß es sich nicht um die alleinige und objektive Wahrheit handeln kann, sondern nur um die subjektive Sicht  dieser Person – mit allen Verleugnungen und Beschönigungen, die dazugehören (und die natürlich auch etwas über die Beziehung zu anderen Menschen und zu sich selbst aussagen).

Die Analyse der Beziehungsmuster einer Person ermöglicht exakte und differenzierte Rückmeldungen über ihr Beziehungsverhalten; dadurch erhält sie die Chance, Veränderungen vorzunehmen. Auch hier gilt die Aussage, die für den ersten Fokus getroffen wurde: ob die Art und Weise, wie ein Mensch mit anderen Menschen in Beziehung tritt, anders geworden ist, ist ein entscheidender Gradmesser für den Erfolg der Therapie (aber auch der Beratung, Supervision etc.).

Sie haben – und das ist der 3. Fokus – aber auch eine sehr spezifische Beziehung, die Sie direkt beobachten können und nicht nur auf Frau Schuberts Erzählungen angewiesen sind: die Beziehung von Frau Schubert zu Ihnen und vice versa.

Sie bemerken, daß Frau Schubert Sie mit größter, schon fast devoter Hochachtung behandelt; was immer Sie sagen, es ist für sie sehr, sehr wichtig und bedeutungsvoll. Mehr und mehr begibt sie sich in eine sehr überangepaßte Position Ihnen gegenüber, die aber gleichzeitig – subtil – mit immer mehr Ansprüchen an Sie verbunden ist.

Zum Beispiel sagt sie am Ende einer Stunde: „Bitte, sagen Sie mir noch etwas Nettes! Das muß dann wieder die ganze Woche vorhalten, sonst sagt ja nie einer was Nettes zu mir.“

Sie merken, daß Ihnen dieses Verhalten langsam, aber sicher auf die Nerven zu gehen beginnt, denn hinter all der Idealisierung hat es ja auch etwas Grenzüberschreitendes. Jede Konfrontation dieses Aspekts führt aber zu großen Kränkungen auf der Seite Frau Schuberts. So erzählt sie Stunde für Stunde ganz genau jedes Detail ihrer sexuellen Kontakte zu ihrem Mann, alle Praktiken, die er von ihr verlangt – und das alles in eher unappetitlicher Breite. Auf die Frage, was denn der Grund für diese Auflistungen sei, antwortet sie tief betroffen: „Ich wollte doch nur ehrlich und aufrichtig sein. Ich habe gedacht, hier kann ich alles erzählen. Kann ich Ihnen denn jetzt auch nicht mehr vertrauen?“

Was hier vorgeht, hat der Psychoanalytiker Greenson (1967) so erklärt: auf eine Person in der Gegenwart wird so reagiert, als wäre sie eine Person aus der Vergangenheit. Eine emotionelle Erfahrung, die nicht zu der aktu­ellen Person, sondern zu einer anderen gehört, wird auf das Jetzt übertragen.

Freud sagt dazu (1912):

"Die unbewußten Regungen wollen nicht erinnert werden (...), sondern streben danach, sich zu reproduzieren." (Seite 491)

Das bedeutet, daß uns der Klient über sich und seine frühen Beziehungserfahrungen erzählt, in dem er die Beziehung zu uns so zu strukturieren versucht, wie er es früher erfahren und erlebt hat.

Noch einmal Freud (1912): er stellt fest, "... daß gerade sie (die Übertragungsphänomene, K.S.) uns den unschätzbaren Dienst erweisen, die verborgenen und vergessenen Liebesregungen der Kranken aktuell und mani­fest zu machen (...).“

Indem Frau Schubert sich also so verhält, wie ich das vorher beschrieben habe, gibt sie uns Indizien darauf, wie ihre Beziehung zu jemand Wichtigem (ihrem Vater? Ihrer Mutter?) gewesen sein könnte: devot und unterwürfig, voller Angst, gleichzeitig mit heimlicher Wut darüber, daß ihre Beziehungssehnsucht unerfüllt bleibt (die Distanzlosigkeit stellt eine Form passiver Aggressivität dar). Mit narzißtischer Bestürzung reagiert sie auf jede auch nur andeutungsweise Form der Zurückweisung – ein Indiz dafür, wie früh ihre Beziehungswünsche frustriert wurden (die verschmelzende Grenzenlosigkeit, die sie sich wünscht, ist die eines sehr kleinen Kindes) und wie wenig sie auf gesunde Art lernen konnte, Frustrationen zu ertragen.

Die Gefühle und Impulse, die das bei Ihnen auslöst (daß sie Ihnen langsam, aber sicher auf die Nerven geht) – das ist Ihre Reaktion auf das, was Frau Schubert auf sie projiziert: die Gegenübertragung, will heißen, die Tendenz, sich dieser Projektion anzupassen, also so zu werden, wie diese frühen Bezugspersonen zu ihr waren.

Hier wird der Therapeut selbst zum Instrument der Beziehung: er/sie spürt an sich selbst, was der Klientin angetan wurde (nämlich Aggression und Zurückweisung, vielleicht auch Grausamkeit und Sadismus). Ein Impuls zur Langeweile könnte darüber erzählen, wie der/die Klient/in als Kind kein Interesse bei seinen/ihren Eltern fand.

So kann man herausfinden, welche Art von Beziehung der/die Klient/in braucht;  das professionelle Vorgehen wird planbar und kann zielgerichtet daraufhin gestaltet werden, daß in der Beziehung zum Therapeuten mehr und mehr erwachsene Elemente möglich werden und dadurch Beziehung jenseits von Idealisierung und Wiederholung entstehen kann.

Wir können diesen Aspekt auch unter dem Gesichtspunkt der Diagnose von Ichzuständen definieren: in der Analyse der Beziehung der Person zu sich selbst und zu anderen Menschen, im ersten und im zweiten Fokus, wird auf die Ichzustände, die die Person besetzt, aus ihrem Verhalten her geschlossen. Mit der Gegenübertragung kommt die zweite Form der Ichzustandsdiagnose zur Anwendung – die soziale Diagnose. Aus dem Ichzustand, den ich besetze, kann ich einen komplementären bei der Klientin vermuten; wenn ich elterlich reagiere (oder reagieren will, wie im Fall der Ärgerlichkeit in Frau Schuberts Beispiel), ist die Wahrscheinlichkeit groß, daß sie selbst einen Kind-Ichzustand aktiviert hat. 

Mittlerweile sind Sie im Therapieprozeß mit Frau Schubert schon ein gutes Stück vorangekommen und  haben eine Menge über sie, ihre Beziehungen zu anderen Menschen und zu Ihnen erfahren. Sie können nun darangehen, diese Informationen miteinander zu verbinden.

Sie können zum Beispiel sagen: „Frau Schubert, wir arbeiten jetzt seit fünf Stunden miteinander, und ich möchte Ihnen gerne etwas von meinen bisherigen Beobachtungen und Schlußfolgerungen mitteilen. Mir ist beispielsweise aufgefallen, daß Sie sich selbst in diesen fünf Stunden mindestens 25 mal ‚blöd‘ genannt haben. Ist Ihnen das nachvollziehbar?“

Sch.: „So oft? Wirklich so oft? Na ja, daß ich das manchmal sag‘, weiß ich schon, aber wirklich so oft? Wenn Sie es sagen...“

Sie fahren fort: „Sie erzählen mir viel von Ihren Schwierigkeiten mit anderen Menschen, besonders mit Ihrem Mann und Ihrem Chef. Es schaut so aus, als ob Sie sich in diesen Konflikt als klein oder unterlegen erleben würden, als unwichtig und hilflos. Wie denken Sie darüber Frau Schubert?“

Sch.: „Ja, ja, richtig. Ja, so komme ich mir vor. Die sind immer die Stärkeren.“

Und Sie wieder: „Und noch eine Beobachtung, die ich gemacht habe: wenn Sie zu mir sprechen, wirken Sie sehr respektvoll...“

Sch. (kichert): „Na ja, Sie sind der Therapeut!“

„...so, als ob ich eine sehr, sehr mächtige Autoritätsperson wäre. So wie in dieser Bemerkung eben. Ich bin gerade dabei, diese Beobachtungen und Überlegungen zu verbinden, Frau Schubert, und ich möchte Sie gerne etwas fragen: können Sie sich an Zeiten früher in Ihrem Leben erinnern, wo das für Sie so war: Sie unwichtig, blöd, hilflos – und andere mächtig, autoritär, bestimmend?“

Bekanntlich gibt es neben der Verhaltens- und der sozialen Diagnose von Ichzuständen noch zwei weitere Formen: die historische und die phänomenologische. Mit einer Frage wie der vorherigen haben sie begonnen, historische Ichzustandsdiagnose durchzuführen. Sie explorieren auf einer vorerst hauptsächlich kognitiven Ebene Frau Schuberts Lebensgeschichte, genauer gesagt, die Geschichte der Beziehungsmuster, die sie verinnerlicht hat. Und ‚verinnerlicht‘ bedeutet: geschluckt im Sinne eines Abwehrmechanismus, um die damit verbundenen Gefühle und Erinnerungen bewältigen und nicht mehr spüren zu müssen. Das sind die ‚unbewußten Regungen‘, von denen Freud in dem vorher angeführten Zitat sagt, daß sie danach strebten ‚sich zu reproduzieren‘, sich im Sinne eines Wiederholungszwanges das ganze Leben hindurch fortzusetzen. Kurz gesagt: Sie sind (gemeinsam mit Frau Schubert) bei dem angelangt, was in der TA ‚Skriptarbeit‘ genannt wird, bei dem was Eric Berne als das ‚Herzstück der TA‘ bezeichnet.

Dafür gibt es viele Arbeitsansätze in der TA. Das wahrscheinlich eleganteste Konzept zur Exploration, Bearbeitung und Veränderung des Skripts bietet das Racket-System von Erskine/Zalcman (mittlerweile von Richard Erskine zutreffender Skript-System genannt). Dieses System stellt den Zusammen-hang zwischen Abwehrmechanismen, skriptbildenden Glaubenssätzen, aktuellem Verhalten und lernpsychologischem Verstärken her. Es kann unter verschiedensten Prämissen eingesetzt werden: unter tiefenpsychologischer ebenso wie unter verhaltensorientierter.

Aber auch andere TA-Modelle lassen sich in der Analyse der verinnerlichten frühen Beziehungsmuster einsetzen: das Miniskript (Kahler), das Engpaßmodell von Goulding/Goulding, das von Steiner  (1982) entwickelte Modell der Skript-Matrix. Auch die Konzepte von Passivität und Symbiose der Schiff-Schule sind letztlich Modelle zur Arbeit mit dem Skript.

Die Arbeit mit Frau Schubert entwickelt sich zu einem dichten Prozeß: sie entdeckt mehr und mehr von ihrer Lebensgeschichte – über ihren Vater, der lieber einen Sohn gehabt hätte und sie hart und gefühllos behandelt hat, über ihre Mutter, die ihren Mann damit zufriedenstellen wollte, daß sie ihm ein braves und ruhiges Mädchen präsentierte. Sie trifft wichtige Neuentscheidungen – sich selbst wichtig zu nehmen, sich gegen ihren Mann und ihren Chef zu wehren. Sie kommt in Kontakt mit den abgewehrten Gefühlen von Traurigkeit und vor allem Wut. Sie überlegt die Trennung von ihrem Mann, der mit ihrer Veränderung nicht gut zurecht kommt und immer wieder unkontrollierte Wutausbrüche hat.

Frau Schubert hat ihre Situation am Arbeitsplatz deutlich verbessert und wehrt sich mit Erfolg gegen ihren Chef; insgesamt ist ihr Selbstbewußtsein deutlich gewachsen. Und trotzdem: auf komplizierte Situationen reagiert sie immer noch häufig damit, als erstes zu denken oder zu sagen ‚Blöd, wie ich bin...‘

In der Therapiegruppe, in die sie aus der Einzeltherapie gewechselt ist, verwickelt sie sich von Zeit zu Zeit immer wieder in Spiele, in denen sie sich in der Opferrolle erlebt.

Das ist ein Punkt in der Therapie, an dem sich die Geister scheiden. Erlebnisorientierte Ansätze, gestalt- und körpertherapeutische Verfahren, aber auch die Erskine’sche Integrative Psychotherapie ebenso wie die tiefenpsychologische TA  sind in ihrer Heilungsphilosophie tief vom Freud’schen Denken geprägt: ‚Katharsis‘, reinigendes Wiedererleben der verdrängten traumatisierenden Situationen befreie vom Wiederholungszwang. Viele Jahre lang habe ich auch so gearbeitet. Patienten, die – obwohl sie viele entscheidende Skriptsituationen regressiv bearbeitet hatten – trotzdem wieder in alte destruktive Muster fielen, hatten offensichtlich noch nicht genug oder nicht  an den entscheidenden Punkten neu entschieden. Mittlerweile denke ich, daß die einseitig Überbetonung des kathartischen Aspekts (den ich ohne Zweifel für bedeutungsvoll halte) auch ein bißchen mit magischem Wunschdenken zu tun hat: wenn man den entscheidenden traumatisierten Punkt findet und ihn wiedererlebt, dann ist sozusagen der Zauberschalter umgelegt und das ganze Leben verändert.

In einigen früheren TA-Lehrbüchern (z.B. bei Stan Woollams/ Michael Brown) findet sich unter den notwendigen Schritten der Therapieplanung auch der Aspekt ‚relearning‘ ( neben beispielsweise ‚redicision‘). Das reflektiert darauf, daß destruktives Verhalten und destruktive Beziehungsgestaltung nicht nur Folge von psychodynamischen Vorgängen (Abwehrstrategien) sind. Sie sind auch eingelernt im Sinne der  traditionellen Lern- und Verhaltenspsychologie: also angeeignet durch klassisches Konditionieren, durch Prägung und durch Lernen mittels Versuch und Irrtum.

Stellen Sie sich beispielsweise vor, daß bei uns auf ein vollständig anderes Schriftsystem umgestellt würde, aus  sinnvollen und vereinfachenden Gründen, die Ihnen auch einsichtig wären. Sie würden die neue Schrift durchaus gerne lernen und ihre Anwendung spannend finden. Und trotzdem würden Sie – wenn zum Beispiel jemand sagt ‚Unterschreiben Sie bitte hier‘ ungezählte Male, wahrscheinlich für den Rest Ihres Lebens, immer wieder automatisch mit der alten, Ihnen seit Jahrzehnten vertrauten Schrift zu schreiben anfangen. Meine Großmutter war eine Frau, die sehr viel schrieb – Tausende Seiten von Briefen und Tagebuchnotizen. Als Kind hatte sie Kurrentschrift gelernt, die dann in Österreich 1938 auf die lateinische Schrift umgestellt wurde. Damals war sie 44. Sie lebte noch weitere 40 Jahre, und all die Tausenden Seiten, von denen ich sprach, schrieb sie in lateinischer Schrift. In ihren letzten Jahren konnte sie ihre Einkäufe nicht mehr erledigen, und wir Enkelkinder taten das für sie, unterstützt von säuberlich in lateinischer Schrift beschriebenen Einkaufszetteln. Manchmal fiel ihr in letzter Minute, wenn ich gerade ihr Haus verließ, noch etwas ein, das sie vergessen hatte. Nervös sagte sie: „Gib den Einkaufszettel noch einmal her, sonst merkst du es dir nicht!“ – und notierte die vergessenen Dinge in Kurrentschrift. Ein bißchen Streß hatte genügt, sie in ein Muster zurückfallen zu lassen, das seit Jahrzehnten nicht mehr aktuell war, aber das über fast 40 Jahre hindurch eingeprägt war.

In diesem Fall läßt sich nicht einmal von destruktiven Skriptmustern sprechen, die ursprünglich unter großem emotionellem Druck entstehen und sich daher auch entsprechend intensiv einprägen. Das Skript wird ja nicht nur als Abwehrstrategie gegen Traumatisierungen entwickelt, sondern auch durch Versuch-Irrtum-Lernen, durch Prägung und durch Konditionierung; damit es funktioniert, muß es sozusagen ‚auswendig gelernt‘ werden. So wird es im Lauf des Lebens zu einem guten Teil automatisiert, sowohl das Verhalten als auch die tausendfach innerlich wiederholten und äußerlich bestätigten Skriptglaubenssätze.

Lernpsychologisch gibt es – neben Konditionieren, Prägung und Versuch-Irrtum-Lernen – eine vierte Art: das Lernen durch Einsicht: und das spielt in Veränderungsprozessen eine wesentliche Rolle. Damit gemeint ist Neu- und Umlernen durch bewußte Verhaltensänderung, durch Ausprobieren neuen Verhaltens und durch Lernen am Modell des/der Therapeuten/in, Beraters/in, Supervisors/in usw. Dabei geht es darum, Dinge, die durch innerpsychische Umstrukturierungs- und Verstehensprozesse erarbeitet wurden, in die Realität des Alltags umzusetzen.

Dabei ist es wichtig, zu beachten, daß Menschen eine ihnen individuell eigentümliche Art und ein persönlich spezifisches Tempo des Lernens haben – und das ist der fünfte Fokus des Metamodells.

Wenn Frau Schubert leichter durch visuelle Stimulation lernt als durch auditorische, dann wird es für sie wichtig sein, verschiedene Erlaubnisse oder neue Verhaltensregeln auch geschrieben oder in Bildern dargestellt zu sehen. Vielleicht haben Sie ihr oft und oft verbal (und auch glaubwürdig) erklärt, daß es ok ist zu denken, sich als Frau gleichwertig zu fühlen und so weiter. Eines Tages finden Sie in Ihrem Clipart-Programm folgenden Cartoon:

Sie kommen spontan auf die Idee, ihn auszudrucken und geben ihn Frau Schubert in der nächsten Stunde. Sie ist begeistert und hängt ihn sich zu Hause auf; das Bild gibt ihr Mut, in den Auseinandersetzungen mit ihrem Mann standhaft zu bleiben und Power zu entfalten.

Frau Schubert macht ermutigende Veränderungen; zugleich scheint aber ihre Familie davon nicht besonders begeistert zu sein. Je deutlicher auf dem Tisch liegt, was bisher unausgesprochen war – daß die Ehe sehr schlecht ist und eine Trennung nicht auszuschließen – umso heftiger reagieren die Kinder. Das jüngste, ein sechsjähriges Mädchen, näßt nächtlich wieder ein; die beiden älteren Jungen (12 und 14) sind ihr gegenüber eher aufsässig und mürrisch und scheinen sich ganz dem Vater zuzuwenden. Die Versuchung für Frau Schubert, wieder in ihre alten Muster zurückzukehren, indem sie versucht, alle zufriedenzustellen und sich selber als Opfer fühlt, ist enorm.

Menschen sind zwar eigenständige Einzelwesen - aber sie leben und handeln notwendigerweise in den verschiedensten sozialen Gebilden: in Partnerbeziehungen, Familien, Arbeitsteams, Freizeitorganisationen, politischen Verbänden usw. In diesen Systemen sind sie „auf fundamentale Art unentwirrbar miteinander verbunden“, wie Massey/Massey (1995, S. 162), zwei Vertreter der systemischen TA, treffend beschreiben..

Diese Systeme entwickeln ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten, die nicht unbedingt mit den individuellen Bedürfnissen ihrer Mitglieder harmonieren müssen: in erster Linie sind Systeme darauf aus, ihren eigenen Weiterbestand zu sichern, und das durchaus unabhängig vom Willen einzelner Teile des Systems. Dazu ist so etwas wie ein - zumindest relatives - Gleichgewicht notwendig, auch wenn das oft ein ‘Gleichgewicht des Schreckens’ ist. Damit ist gemeint, daß der Ist-Zustand, der sich ja durch jahrelanges Ausbalancieren entwickelt hat, wenn nur irgendwie möglich, aufrechterhalten werden soll. Nichts anderes versuchen der Mann und die Kinder von Frau Schubert – ihre Tendenzen, in die alten Muster zurückzukehren, zeigen das deutlich.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, damit umzugehen; ob das System oder Teile des Systems in die Arbeit eingebunden werden oder ob sie mit Frau Schubert ausschließlich alleine weiterarbeiten – die Tatsache, daß ihre sozialen Systeme Einfluß auf sie haben und sie wiederum auf die Systeme, ist für die Therapie bedeutungsvoll. Es kann gelingen, diese Systeme nicht zu Bremsern, sondern zu Förderern von Frau Schuberts Wachstum und Veränderung werden zu lassen, wenn die anderen Personen auch ihre Chance und vor allem das Entwicklungspotential für das System sehen können.

Das Skript-System von  Richard Erskine läßt sich in anschaulicher Weise nicht nur für die Prozesse von Einzelpersonen, sondern auch für die Verflochtenheit dieser Personen in Paaren und Familien verwenden (‚interlocking script systems‘). Aber auch für Gruppen, Team- und Organisationsprozesse kann man damit die innere skriptmäßige Bezogenheit der Personen untereinander und die eigenständige destruktive Dynamik des Systems als Ganzes erfassen  (ich habe das selbst für Gruppentherapie- und Teamsupervisionsprozessen durchdekliniert).

Sie erinnern sich: Frau Schubert ist stark übergewichtig; dieses Thema taucht in der Therapie immer wieder auf; sie setzt sich intensiv mit der Diskriminierung von dicken Menschen und Diskriminierung und Ausgrenzung im allgemeinen auseinander. Das führt letztlich zu einem Engagement für eine Hilfsorganisation für von Abschiebung bedrohte Asylanten.

Auch mit der Beziehung zwischen Mann und Frau, den historischen Umständen des Patriarchats könnte sie sich auseinandersetzen – und damit mit ihrer Rolle als Frau jenseits des individuellen Skripts in ihren soziokulturellen, politischen und ökonomischen Bedingtheiten. Auch Dinge wie Umweltzerstörung, Krieg, Rechtsradikalismus beschäftigen und beunruhigen sie mehr und mehr, je mehr sie sich von ihrer selbszentrierten egoistischen Opferposition entfernt. Je weiter die Therapie fortschreitet, umso häufiger diskutiert sie ihre politischen und sozialen Ansichten mit Ihnen und will von Ihnen dezidierte Stellungnahmen dazu hören.

So sehr solche Themen in Anfangsphasen einer Psychotherapie Widerstandsphänomene sein können – „Ist es nicht schrecklich, wie Frauen diskriminiert/ Ausländer ausgegrenzt/ Meere und Atmosphäre zerstört werden? Wozu soll ich denn mühsam irgendwas in meinem Leben ändern, wenn doch rundherum alles so schrecklich ist?“ – so bedeutungsvoll sind sie insgesamt. Zuerst einmal sind es Realitäten unseres Lebens, die uns beschäftigen; wir alle sind Teil und Produkt von Gesellschaft, Geschichte und Kultur, wir alle sind mit ökonomischen und politischen Umständen konfrontiert, mit Macht und Machtlosigkeit.

Der Auseinandersetzung mit diesen Umständen hat in der Psychotherapie eine intensive Bedeutung: sie trägt zum Ganz-Sein der betreffenden Person bei. Psychotherapie soll Menschen helfen, Individuen und Teil der Menschheit zu werden.

Wir können nun aus diesen 7 Foki, die ich Ihnen am Beispiel des psychotherapeutischen Verfahrens und am Beispiel der Frau Schubert kurz skizziert haben, aus diesen 7 Sektoren, einen ganzen Kreis bilden -

- und haben damit ein anschauliches Diagramm für den komplexen Prozeß dieses Metamodells, das es erlaubt, so viele transaktionsanalytische Methoden und Ansätze einzubeziehen, wie es sinnvoll erscheint – bei gleichzeitiger individueller Schwerpunktsetzung.

Wenn wir das Ganze zeichnerisch auf ein Flußdiagramm umlegen, dann könnte ein ‚idealtypischer‘ psychotherapeutischer Prozeß, bei dem alle Foki in etwa gleich gewichtet werden, so aussehen:

Sieben verschiedene Stränge entwickeln sich zuerst verhältnismäßig unabhängig voneinander und werden nach und nach zu einem einheitlichen Prozeß zusammengebunden. Bei einem Therapeuten, der sich beispielsweise schwerpunktmäßig zur tiefenpsychologischen Schule der TA rechnet, werden wahrscheinlich die Stränge ‚Übertragung-Gegenübertragung‘ und ‚Verinnerlichte frühe Beziehungsmuster‘ stärker ausgeprägt sein, bei jemandem aus der Systemischen TA der Strang ‚Soziale Systeme‘.

Bei einer erfolgreichen Behandlung werden in allen 7 Bereichen merkbare Veränderungen festzustellen sein; damit wird das Modell auch zu einem Gradmesser für den Therapieerfolg.

Wie gesagt: ich habe das Feld ‚Psychotherapie‘ zur exemplarischen Darstellung gewählt, aber das Metamodell mit den erwähnten 7  Foki kann überall dort angewandt werden, wo mit TA gearbeitet wird: in Supervision, Coaching, Beratung, Erwachsenenbildung, Pädagogik, Organisationsberatung usw. Die Ausprägung der verschiedenen Stränge, die Intensität, mit der die Foki angewandt werden, wird sich allerdings je nach Verfahren deutlich unterscheiden: in Einzelsupervision wird möglicherweise der Hauptschwerpunkt auf der Beziehung zu anderen Menschen (eben denen, mit denen der Supervisand arbeitet) liegen, in Organisationsberatung oder Teamcoaching vielleicht auf dem systemischen Aspekt.

Um das zu verdeutlichen, erzähle ich Ihnen ein kurzes Fallbeispiel aus dem Bereich Einzelcoaching.

Hans, 37, hat seit einigen Monaten eine neue, sehr gut bezahlte Stelle als Produktionsleiter eines Werks in einem metallverarbeitenden Großbetrieb. Er hat 400 Mitarbeiter unter sich. Hans kommt zum Coaching, um von vornherein mit unterstützender Begleitung in die neue Führungsposition hineinzuwachsen. Ihn bewegen Fragen wie Mitarbeitermotivation, Delegation, Zielvereinbarungen und Ähnliches.

Nach einigen Stunden wird einer seiner Abteilungsleiter mehr und mehr zum Thema, mit dem Hans große Schwierigkeiten hat; nach seinen Aussagen demotiviert der Mann seine Mitarbeiter, hält von all dem ‚neumodischen Kram‘ wie Menschenführung, Management, Organisationspsychologie gar nichts und läßt Hans immer wieder auflaufen.

Das ist ein sehr häufiger Beginn für ein Führungskräftecoaching: im Mittelpunkt steht der Fokus 2 – die Beziehung, in diesem Fall die berufliche Beziehung, zu anderen Menschen. Der Zugang ist aber ein anderer als in der Psychotherapie: im Vordergrund stehen nicht so sehr wiederkehrende Muster (das wäre erst im Konflikt- oder Problemcoaching so), sondern das Erarbeiten möglichst konstruktiver und produktiver Zugänge zu den Mitarbeitern.

Allmählich kommt Hans mit seinem Abteilungsleiter (nennen wir ihn Herr Müller) in eine komplizierte Situation: Da die Schwierigkeiten mit Herrn Müller schon jahrelang bestehen, hat von seinem Chef, dem Geschäftsführer, explizit das OK, Herrn Müller ‚loszuwerden‘ (so die Formulierung des Geschäftsführers). Gleichzeitig aber hat dieser angedeutet, daß es aufgrund der langjährigen Verdienste Herrn Müllers um die Firma und ihren Aufbau nicht im Interesse des Eigentümers sein, ihn zu kränken und schon gar nicht zu entlassen.

Es stellt sich heraus, daß Hans‘ Vorgänger bereits an Herrn Müller gescheitert ist und deswegen die Firma verlassen hat. Vieles deutet darauf hin, daß der implizite (geheime) Führungsauftrag an Hans eigentlich ist, das Problem Müller so zu lösen, daß alle zufrieden sind: der Eigentümer, der Geschäftsführer und Herr Müller selbst (also etwas Unbedeutendes wie die Quadratur des Kreises zu schaffen).

Damit sind wir beim systemischen Strang unseres Modells, dem 6. Fokus. Er ist beim Coaching wesentlich mehr im Vordergrund als in der Psychotherapie. Ihn – also Dinge wie Unternehmenskultur, Organisationsstruktur, offene und verdeckte Hierarchien und Entscheidungsstränge, offene und verdeckte Führungsaufträge - zu wenig zu beachten würde heißen, das Coaching zu sehr auf die Einzelperson zuzuspitzen. Die (und ihre Fähigkeit oder Unfähigkeit mit Problemen umzugehen) kommt erst beim nächsten Schritt ins Spiel.

Hans kommt mehr und mehr unter Druck; sein Spaß an der Arbeit wird weniger, er schläft schlecht und ganz allmählich schleichen sich Ängste ein, überfordert zu sein und zu versagen. An dieser Stelle ist es für ihn sehr hilfreich, mit dem Miniskript-Modell zu arbeiten: er ist zwischen der Einschärfung ‚Schaff’s nicht!‘ und dem Antreiber ‚Sei perfekt!‘ gefangen.

Menschen reagieren häufig dann mit Skriptverhalten bzw. ziehen sich dann auf ihre Glaubenssätze zurück, wenn sie unter äußeren Streß geraten (wie z.B. die Quadratur des Kreises zu schaffen). Dadurch multiplizieren sie diesen Streß, und bevor sie in der Lage sind, im sozialen System Interventionen zu setzen, müssen sie ein Stück weit aus dem Skript aussteigen. Mit anderen Worten: wir – Hans und ich – arbeiten jetzt am 4. Fokus, dem Skript. Das geschieht in einer ganz anderen, wesentlich weniger regressiven Weise als in der Psychotherapie. Auch der Fokus 5 – Lernen und Umlernen – ist hier im Spiel:

Indem Hans verschiedene Lösungsmodelle erarbeitet, um aus seinem Antreibersystem auszusteigen, kann er sich den tatsächlichen Problemen seiner momentanen beruflichen Situation zuwenden: das Hauptproblem ist weder sein Antreiber noch Herr Müller als solcher. Das Hauptproblem ist der doppeldeutige Organisationsauftrag, ist eigentlich das Abwälzen der Verantwortung des Geschäftsführers auf ihn.

Das hat dann mit Fokus 2 – der Beziehung zu anderen, in dem Fall zu seinem Vorgesetzten – und Fokus 1, der Beziehung zu sich selbst zu tun: wie wichtig nimmt Hans sich und seinen Arbeitsauftrag?

Fokus 7 – das politische, ökonomische und soziale Umfeld – spielt in Coachingprozesses immer intensiv mit, da es ja in der Regel um Menschen in Wirtschaftsprozessen geht. Manchmal ist das nur implizit, quasi im Hintergrund der Fall, manchmal sehr explizit. Zum Beispiel: Führungskräfte, die Kosteneinsparungen durchsetzen sollen, am besten durch Personalreduktion.

Der 3. Fokus – die Übertragungs- und Gegenübertragungsbeziehung – wird im Coaching sehr niedrig gehalten, obwohl er natürlich immer eine gewisse Rolle spielt.

Wir könnten das jetzt ebenso für Supervision, Einzel- oder Paarberatung, Training und Ausbildung, Organisationsentwicklung, Pädagogik und andere Verfahren durchdeklinieren. In allen Prozessen spielen alle 7 Foki eine Rolle, in allen Prozessen treten in diesen 7 Bereichen Veränderungen auf. Die Unterschiedlichkeiten dabei sind gleichzeitig ein Unterscheidungsmerkmal für diese verschiedenen Prozesse. Das heißt: anhand der Art und Weise, anhand der Intensität, mit der mit den einzelnen Foki gearbeitet wird, kann man ein bestimmtes Verfahren – wie zum Beispiel Therapie, wie zum Beispiel Coaching – definieren.

 

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