2011: Der Don Quijote vom Bindermichl (Habringer/Rathke)

Fremd
Es war einmal, vor langer, langer Zeit…
Oder nein: es könnte einmal sein, in ferner, ferner Zukunft…
Oder noch einmal nein: es geschieht jetzt, hier, mitten unter uns…
Ein Mensch, ein kleiner Mensch, kommt zur Welt. Er ist so winzig, so zerbrechlich, so verletzlich, und ihm begegnet die Angst. Sie ist ihm fremd, die Angst, er hat sich bisher so sicher, so behütet gefühlt. Er will sie nicht haben diese Angst, er will sie nicht kennen, er schreit und er weint. Doch niemand nimmt sie ihm. Wer ist schuld an seiner Angst? Wer hat ihm seine Sicherheit genommen?
Und es begegnen ihm andere Menschen. Sie sind fremd, er weiß nicht, was sie von ihm wollen. Haben sie ihm seine behütete Welt genommen? Sind sie schuld daran?
Er wächst heran. Ihm begegnet noch Vieles: als erstes der Zorn. Er ist ihm fremd, er kennt ihn nicht, aber er gibt ihm das Gefühl, seiner Angst nicht mehr begegnen zu müssen. Er will ihn auch nicht, diesen Zorn, er will endlich seine Sicherheit wieder haben.
Und ihm begegnet Sicherheit, aber er ist misstrauisch: wird sie ihm wieder genommen werden? Da ist sie schon wieder, diese verfluchte Angst, er will ihr doch nicht mehr begegnen! Und er tut Dinge, die ihm fremd sind. Er will sie nicht, diese fremden Dinge, aber er will weg von der Angst. Er versucht, ein guter Mensch zu sein – aber er ist sich fremd. Er versucht, ein böser Mensch zu sein – aber er ist sich fremd.
Und ihm begegnet eine tiefe, tiefe Traurigkeit. Sie schmerzt so sehr, und sie ist ihm fremd. Er will Sicherheit, er will Geborgenheit. Wer hat sie ihm genommen? Wer ist schuld daran?
Er wird erwachsen. Es ist ihm fremd, das Erwachsensein, und es macht ihm schon wieder Angst. Er will ihr nicht begegnen, wie oft soll er das noch sagen?
Und er tut Dinge, die ihm fremd sind. Er versucht, klug zu sein – und es ist ihm fremd. Er versucht, dumm zu sein – und es ist ihm fremd.
Ihm begegnet die Scham – und sie ist ihm fremd. Er will sie auch nicht haben, die Scham, und sie macht ihm Angst. Schon wieder Angst! Sie ist ihm immer noch fremd, er will sie nicht haben. Wer ist schuld? Wer hat ihm schon wieder genommen, was er sich so wünscht? Wo ist sie hin, seine Sicherheit?
Und ihm begegnet Sehnsucht – und sie ist ihm fremd. Er will sie nicht, sie tut weh, und sie macht ihm Angst.
Wieder tut er Dinge, die ihm fremd sind. Er ist stark – und es ist ihm fremd. Er ist schwach – und es ist ihm fremd.
Und ihm begegnet die Liebe – und sie ist ihm fremd. Sie macht ihm Angst.

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