2012: Tartuffe (Molière)

„Tartuffe“ und die Verliebtheit in uns selbst

Der griechischen Sage nach war der Jüngling Narkissos (Narziss) so sehr in seine eigene Schönheit verliebt, dass er bei dem Versuch ertrank, sein eigenes Spiegelbild im Wasser zu küssen.
Narzisstische Menschen sind von sich selbst besessen und gleichzeitig tief in ihrem Inneren von ihrer Minderwertigkeit überzeugt; sie können nicht genug Bestätigung und Liebe von außen bekommen. Sie manipulieren und verführen andere, um sich in deren Zuwendung spiegeln zu können. Sie geben nichts und nehmen alles, sie ertragen keinerlei Kritik. Sie sind ungeheuer leicht beleidigt und tief getroffen, sie nehmen alles, aber auch wirklich alles persönlich. In der Psychologie sprechen wir von der ‚narzisstischen Kränkung’. Andere müssen genau so sein, wie sie sie haben wollen. Jeder Ausdruck der Eigenständigkeit anderer Menschen, jedes andere Bedürfnis als ihr eigenes wird als Bedrohung des eigenen fragilen Ich erlebt und erbarmungslos verfolgt: mit Hass, mit Rückzug, mit eisiger Kälte. Gern suchen sie Zuflucht in Ideologien, die rigoros zwischen Richtig und Falsch unterscheiden, weil sie in ihnen eine Bestätigung ihres eigenen eindimensionalen Denkens und übergeordneten Rückhalt finden. Ihre Welt ist in ‚gut’ und in ‚böse’ eingeteilt: ‚gut’ ist, was für sie, ‚böse’, was gegen sie ist.

In ‚Tartuffe’ zeichnet Molière ein exaktes Bild narzisstischer Menschen und ihrer Unfähigkeit zu lieben. An der Oberfläche entsteht eine klare, einfache Welt, die fein säuberlich in ‚Gut’ und ‚Böse’ unterscheidet und uns das Leben leicht macht: Orgon und Tartuffe, auch Frau Pernelle, sie sind die ‚Bösen’, alle anderen ‚gut’ und in die Enge getrieben: Elmire, Orgons lieblos behandelte Gattin, seine Tochter Mariane, die verzweifelt ihren Valere zu lieben scheint. Und ganz besonders ‚gut’ ist natürlich das Dienstmädchen Dorine, die sich frech über die kleinbürgerlichen Konventionen hinwegsetzt. Sie wird zu unserer Hauptidentifikationsfigur, die es den ‚bösen’ und lächerlichen Narzissten so richtig zeigt. Und schon, ohne dass wir es merken, hat Molière uns entlarvt - unser eigener Narzissmus springt an: o ja, wir gehören zu den ‚Guten’, wir fühlen uns bestätigt, so ‚böse’ wären wir natürlich nie. Wir fühlen uns sicher in dem Bild, das Molière uns zu zeigen scheint: seht her, seid nicht so bigott, seid nett zu euren Mitmenschen, seid nicht so hinter dem Geld her, und schon gehört ihr zu den ‚Guten’.

Und schon sind wir gefangen; denn es ist kein idyllisches Bild, es ist ein Spiegel. Wir finden uns wieder in den ‚guten’ Menschen in dem Stück, verliebt in uns selbst wie Narkissos. Doch wenn wir genauer hinsehen: Dorine – manipuliert sie nicht genauso wie Tartuffe, nur schlauer? Haben wir das nicht schon selbst getan – versucht, zwei Menschen zusammenzubringen oder zusammenzuhalten, nur weil wir wollten, dass sie zusammenkommen oder zusammenbleiben? Damit unsere romantischen Illusionen von der Liebe wenigstens von anderen gelebt werden, wenn wir es schon selbst nicht schaffen? Und damit wir uns in Szene setzen können?

Und Elmire, Orgons Gattin? Sind wir so immun dagegen, von jemandem umschmeichelt oder begehrt zu werden, den wir gar nicht mögen? Ist das Motiv unseres Handelns ist wirklich selbstlos der Wunsch nach dem Glück anderer? Oder nicht vielmehr die Rache an jemandem, der uns narzisstisch gekränkt, der uns seine Liebe entzogen hat?

Und die arme Mariane, der arme Valere? Wie schnell zweifeln denn wir an der Liebe eines anderen, einer anderen, wenn dieser Mensch uns nicht perfekt liebt und damit unserem Narzissmus schmeichelt? Unterwerfen wir uns nicht auch aus Feigheit willkürlichen Autoritäten, nicht ohne heimlich über sie zu schimpfen?

Aber auch Orgon und Tartuffe: nein, wir sind natürlich nicht rechthaberisch. Wir haben noch nie gesagt: die passen einfach nicht zusammen, er ist zu alt für sie, sie ist zu klug für ihn. Wir haben noch nie anderen Menschen unseren Willen aufgezwungen, wir haben es nicht einmal versucht. Schon gar nicht unser Denken, unsere Religion, das, was wir für unsere ‚wahren’ Grundsätze halten. Das würden wir nie tun. Und heucheln schon gar nicht.

Nein, denn wir sind gut. Wir halten uns für gut. Denn – wir alle sind Tartuffe.

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