2016: Der Tag, an dem der Papst gekidnappt wurde (Bethencourt)

„Ich glaube, Sie zögern noch, ein wirklicher Papst zu werden“: Wunschprojektionen, mit denen wir uns identifizieren wollen

Ein „wirklicher Papst“ - so hätten alle Albert IV. gern, aber jeder einen für seine eigene Wirklichkeit: Sam Leibowitz einen Propagandisten des Weltfriedens, sein Sohn Irving einen militanten Kämpfer für dasselbe Ziel, und Kardinal O’Hara einen strengen Zuchtmeister der Menschheit.
Seit einigen Wochen wünscht sich Österreich vom neuen Regierungschef, er solle ein „wirklicher“ Bundeskanzler sein, der einerseits die Wirtschaft fördern, andererseits die Armut bekämpfen und vor allem Entscheidungen treffen soll, welcher Art auch immer. Und in den Diskussionen um die Wahl des Bundespräsidenten wünschte sich jeweils die Hälfte der Wählerinnen und Wähler, der eine Kandidat solle ein „wirklicher“ Bundespräsident sein, ebenso wie die andere auch – aber die wollten einen ganz anders „wirklichen“. Wir wollen „wirkliche“ Beziehungen von den Menschen, in die wir uns verlieben, die Ärzte, die wir brauchen, sollen uns „wirklich“ behandeln.
Unsere Vorstellung von „Wirklichkeit“ ist eine höchst subjektive und individuelle, aber wir halten das, was unseren Wünschen und Vorstellungen entspricht, gerne für die allgemeingültige Wahrheit. Fragen Sie Singles oder Menschen, die in ihren Beziehungen unglücklich sind, wie denn ihr „wirklicher“ Partner, ihre „wirkliche“ Partnerin beschaffen sein sollte: sie werden vollkommen unterschiedliche Antworten erhalten. Manche werden das Wunsch-Äußere beschreiben, andere einen idealtypischen Humor, erotische Qualitäten, Bildung, Alter. Aber ein Element ist fast immer dabei: „jemand, der mein Leben vollständig machen soll“. Aspekte, die uns selbst fehlen (oder von denen wir glauben, dass sie uns fehlen), werden von Anderen erwartet. Wir projizieren auf sie wie auf eine Leinwand. Sie sollen uns die Wünsche erfüllen, die wir selbst nicht verwirklichen können. Sie sollen uns in unserem Leben „wirklicher“ machen.
Sams und Saras Wirklichkeit ist mit dem Tod ihres ältesten Sohnes auseinandergebrochen: „Wenn ich darüber spreche, kommt’s mir vor, als ob nicht ich es wäre, die darüber spricht. Ich tu so, als wäre es gar nicht passiert“ sagt sie. Wenn der Papst nun für Weltfrieden sorgt, wenn keines Menschen Wirklichkeit am gewaltsamen Tod zerbricht, dann - ja dann kann doch vielleicht auch ihrer beiden Wirklichkeit und damit ihr Leben wieder ganz werden.
„Mancher denkt sich Abenteuer aus und ganze Romane und dichtet sich das Leben zurecht, um wenigstens auf diese Weise nach Wunsch zu leben“, sagt Dostojewski. „Ach du Scheiße! ...Die Welt ist wieder normal“ – mit diesem Satz endet das Stück vom gekidnappten Papst.  Sams Abenteuer und Roman ist zu Ende, das Leben, wie es ist hat ihn wieder eingeholt. Wie ihm bleibt uns nichts Anderes übrig, als dieses Leben zu nehmen, wie es ist, wenn wir nicht im Wunsch-Roman, in der auf andere projizierten Schein-Wirklichkeit leben bleiben wollen. Und das heißt: uns selbst zu nehmen, wie wir sind: widersprüchlich, unvollständig, unberechenbar – und in all dem liebenswert.

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