24 Systemische Therapie meets Transaktionsanalyse

SYSTEMISCHE THERAPIE MEETS TRANSAKTIONSANALYSE
STROKES: DAS BEZIEHUNGSKONZEPT DER TA

Lehranstalt für Systemische Familientherapie

Linz, Jänner 2015

Woke up this morning my house was cold
Checked out the furnace she wasn't burnin'
Went out and hopped in my old Ford
Hit the engine but she ain't turnin'
We've given each other some hard lessons lately
But we ain't learnin'
We're the same sad story that's a fact
One step up and two steps back
(...)
It's the same thing night on night
Who's wrong baby who's right
Another fight and I slam the door on
Another battle in our dirty little war
When I look at myself I don't see
The man I wanted to be
Somewhere along the line I slipped off track
I'm caught movin' one step up and two steps back
(Bruce Springsteen, One Step Up)

Heute morgen aufgewacht, das Haus war kalt
Kein Feuer mehr im Ofen
Raus aus dem Haus, in meinen alten Ford
Doch der Motor springt nicht an
Harte Lehren, das, in letzter Zeit
Doch wir lernen nichts daraus
Gleiche Geschichte, Tag für Tag:
Ein Schritt vor und zwei zurück
(...)
Jede Nacht das gleiche Spiel:
Wer ist im Recht, wer ist es nicht
Noch ein Kampf in unserm miesen Krieg
Noch ein Gefecht, und ich knall’ die Tür
Wenn ich mich so anseh, keine Ahnung mehr
Wo der Mann ist, der ich so gerne wär
Irgendwo vom Weg gerutscht
Und ich steck fest – ein Schritt vor und zwei zurück.

Kaum ein Rockmusiker beschreibt festgefahrene Beziehungsmuster so treffend, wie Bruce Springsteen das tut. Er ist der Poet des Vor und Zurück, der enttäuschten Hoffnungen, des Suchens, des Findens und des Verlierens. Darum habe ich ein Lied von ihm als Einstieg in mein Thema für heute abend gewählt: in das Beziehungskonzept der Transaktionsanalyse.

Ich weiß nicht, was und wie viel Sie von der TA schon kennen. Es gäbe viele Möglichkeiten, um Ihnen einen Einstieg zu ermöglichen, denn ein spezielles Charakteristikum der TA ist, dass sie kein durchgängiges Konzept bietet. Sie ist ein Puzzle aus vielen verschiedenen Ansätzen,  Zugängen, Methoden und Techniken, die sich alle auf die vielfältigste Weise miteinander verbinden lassen. Sie ist eine Summe aus Konstrukten, die Tiefenpsychologie, humanistische Psychologien, Verhaltens- und Systemische Psychologien miteinander verknüpft. Sie bietet  Möglichkeiten, individuelles und interaktives Verhalten zu beschreiben und zu verstehen, psychodynamische Ansätze, lebensgeschichtliche Erklärungsmodelle und Modelle menschlicher Beziehung – und das alles natürlich mit dem Fokus der Veränderung, indem die TA das Denken mit dem emotionalen Erleben und dem Verhalten in sozialen Zusammenhängen verbindet.

Es gibt ein Element in der TA, das einen Zugang zu all diesen Modellen und Zugängen ermöglicht: das Modell der Strokes.

Über Kommunikation und wie man sie und das, was in ihr schiefläuft, erklären und benennen kann, muss ich Ihnen wahrscheinlich nichts erzählen. „Strokes“ aber bedeutet mehr: der Terminus erfasst die Energie, die wir untereinander austauschen.

‚Strokes’ nennt Eric Berne, der Vater der Transaktionsanalyse ‚Einheiten der Wiedererkennung’ zwischen Menschen. Das Wort ist im Grunde unübersetzbar (obwohl es mit ‚Zuwendung’ oder, eher unbeholfen, ‚Streicheleinheiten’ versucht wurde), denn im Englischen bedeutet es sowohl ‚Streicheln’ als auch ‚Schlagen’. Berne meint, dass Menschen einen ihnen biologisch innewohnenden ‚Hunger’ danach haben, wahrgenommen zu werden und diese Wahrnehmung in der Kommunikation auszudrücken. Er unterscheidet Strokes nach vier Typen: zum einen positive und negative, zum anderen bedingte und bedingungslose.

Bedingungslos positive Strokes beziehen sich auf die Person als Ganzes: „Ich liebe dich“ oder „Schön, dass du da bist“.
Bedingt positive (einfach gesagt Lob) erfassen die Leistung oder das Verhalten eines Menschen: „Toll, wie du das hingekriegt hast!“ oder „Gut, dass du dich darum kümmerst.“
Bedingt negative Strokes bedeuten Kritik; auch sie beziehen sich auf Leistung und Verhalten: „Ich bin nicht zufrieden damit, wie du deine Hausaufgaben erledigt hast.“ oder „Ich finde es nicht gut, wenn Sie zu spät kommen.“
Bedingungslos negative Strokes schließlich beziehen sich (wie die positiven) auf den ganzen Menschen: „Ich mag dich nicht.“ oder, in der schlimmsten Form, „Ich wünschte, du wärst nie geboren worden.“

Und Strokes können natürlich verbal und nonverbal ausgetauscht werden.

Wir alle brauchen Strokes, wenn wir keine erhalten, erleben wir das als Mangel. Wir lernen, uns welche zu organisieren – so, wie wir sie eben kriegen können, nach den Prinzipien:
- Negative Strokes sind besser als gar keine
- bedingt negative sind immer noch besser als bedingungslos negative
- wenn bedingungslos positive nicht zu kriegen sind, dann sind bedingt positive immer noch besser als negative.

Wir entwickeln unsere persönliche Muster zum Geben und Nehmen von Strokes. Nach diesen Mustern gestalten wir unsere Beziehungen. Strokes sind gewissermaßen der Schmierstoff menschlicher Beziehung; mit ihnen gestalten wir den sozialen Energieaustausch. Darüber entwickeln wir ein Bild von uns, von anderen Menschen und vom Leben insgesamt. Wenn dieses Bild einmal gefestigt ist, wenn die entsprechenden Glaubenssätze daraus entwickelt sind, dann filtern wir Strokes aus, die nicht in unser Lebenskonzept passen, oder wir definieren sie um.

Kennen Sie Menschen, die auf Lob gar nicht reagieren und einfach weiterreden, als ob Sie nichts gesagt hätten? Sie filtern positiv bedingte Strokes aus.
Oder andere, die jede Form von Kritik, und sei sie noch so sachlich und konstruktiv, als Ablehnung ihrer ganzen Person empfinden? Sie definieren bedingt negative Strokes zu bedingungslos negativen um.
Ein weiteres häufiges Stroke-Muster besteht darin, bedingungslos positive Strokes – also Liebe – zu bedingt positiven umzudeuten. Das bedeutet im inneren Emfpinden: sie (er) liebt mich ja gar nicht als Mensch, sondern nur, weil ich so gut kochen kann, mich so sehr um die Kinder kümmere, ihr so tolle Geschenke mache usw. Wenn ich diese Liebe nicht verlieren will, muss ich weiter leisten.

Strokes und Stroke-Muster sind ein sehr effektives Konzept, um zu analysieren, was in der Kommunikation und damit in der Beziehung von Menschen dysfunktional ist (und natürlich auch, um das zu verändern). Das Stroke-Konzept ist ein dynamisches: Strokes sind mehr als der Austausch von kommunikativen Inhalten, sie sind der Austausch der Energie, die Beziehung zwischen Menschen herstellt. Jeder einzelne Mensch hat sein persönlich entwickeltes Stroke-Muster. Einerseits bietet sich dadurch ein Zugang zu veränderter konstruktiver Interaktion, andererseits zur individuellen Persönlichkeit und der Geschichte der beteiligten Menschen.

Ebenso entwickelt jedes soziale System ein ihm eigenes, gemeinsam aufrecht erhaltenes Stroke-Muster. Das Stroke-Konzept ist also gleichzeitig ein Zugang zum Individuum in seiner Gegenwart und seiner Geschichte als auch zu Funktionalität und Dysfunktionalität eines sozialen Systems. Ich werde das anhand der Arbeit mit einem Paar zeigen (seine ganze Geschichte und mehr zur transaktionsanalytischen Arbeit mit Paaren finden Sie in meinem im kommenden Herbst erscheinenden Buch).

Hans und Marlene sind seit fast 30 Jahren zusammen, verheiratet sind sie seit 28 Jahren. Viel haben sie erlebt in dieser Zeit, drei Kinder großgezogen, beruflichen Aufstieg und Niedergang, Krankheiten, Seitensprünge, Affären, Außenbeziehungen, Verletzungen und Entschuldigungen, Verzeihen und Unverzeihlichkeit. ‚Krieg und Frieden’, so meint Hans, könnte man ihre Geschichte nennen, und sie wäre wohl ebenso umfangreich wie Tolstois berühmter Roman.
Marlene sagt bei unserem Erstgespräch: „So kann es nicht weitergehen!“ Und Hans antwortet prompt: „Ja, aber wie dann? Wir haben schon alles probiert – aber wir kommen nicht auseinander, und wir kommen nicht zusammen.“ Ein Schritt vorwärts, zwei zurück, und keiner von beiden ist der Mensch, der er oder sie sein möchte. Sie stecken fest. Irgendwo unterwegs sind sie vom Weg abgekommen.

Hier ein Auszug dazu aus den Therapieprotokollen:

M: Ich glaube, es gibt wirklich keinen Tag und vor allem keine Nacht mehr, in der wir nicht streiten. Mittlerweile auch vor anderen Leuten. Das ist so kräfteraubend.
Th: Und worum geht’s da?
M: Um alles. Um nichts. Ums Rechthaben. Er hält dann stundenlange Monologe, in denen er mir Gott und die Welt erklärt und vor allem, wie fehlerhaft und an allem schuld ich bin.
H: Moment, da muss man dazu sagen, dass es immer damit anfängt, dass sie etwas Kränkendes sagt. Irgendetwas fällt ihr immer ein, das sie an mir stört.
M: Du benimmst dich aber auch ständig daneben!
H: Da! Da ist es wieder! ‚Ständig’ – was soll denn das heißen? Das heißt doch, dass alles, alles an mir verkehrt ist! Merkst du denn nicht, dass du mich total bloßstellst? Dass das weh tut?
M: Und glaubst du nicht, dass dein unmögliches Verhalten auch weh tut? Dass du einfach peinlich bist und ich mich schämen muss? Ich will keinen Mann, für den ich mich schämen muss!
H (bemüht beherrscht): Schon klar, ich hab ja nie behauptet, dass ich fehlerfrei bin. Aber dass du dich dafür schämst, dafür kann ich nichts. Sag doch nicht ‚immer’ und ‚ständig’, sag doch, was genau dich stört! Vielleicht finden wir dann einen Weg!
M: Ach, das ist doch sinnlos, das hab ich doch so viele Jahre lang versucht. Du versprichst, dich zu ändern, aber es funktioniert nicht. Deine Wutanfälle, deine Ungeduld, deine Intoleranz - da, jetzt sag’ ich es dir genau, was mich stört! Aber du wirst es ja doch nicht hören wollen! Ich hab’ so lange versucht, an dich zu glauben und an uns, das Gute in uns zu sehen, ich kann einfach nicht mehr (fängt an zu weinen).
H (beugt sich zu ihr und versucht, ihre Hand zu nehmen): Wein doch nicht, Schatz, ich versprech’ dir...
M (zieht die Hand ruckartig weg): Lass mich! Du willst mich doch nur wieder besänftigen!

Sehen wir uns den vorher geschilderten Austausch zwischen Hans und Marlene unter dem Stroke-Fokus an.
Sie sagt: Er hält stundenlange Monologe (...) wie fehlerhaft und an allem schuld ich bin. Ein bedingt negativer Stroke für Hans – und Marlene erlebt, dass Hans ihr mit seinen ‚Monologen’ bedingungslos negative Strokes gibt.
Hans: Irgendetwas fällt ihr immer ein, das sie an mir stört. Das ist ein bedingungslos negativer Stroke für sie (durch die Verallgemeinerung ‚immer’), und er berichtet von bedingungslos negativen Strokes für ihn.
Marlene: Du benimmst dich aber auch ständig daneben! Ebenfalls eine Verallgemeinerung, ebenfalls bedingungslos negativ. Dementsprechend antwortet Hans:
Das heißt doch, dass alles, alles an mir verkehrt ist! Und er zahlt mit gleicher Münze zurück: Merkst du denn nicht, dass du mich total bloßstellst?
Dann wieder Marlene: (Merkst du nicht) Dass du einfach peinlich bist und ich mich schämen muss? Ich will keinen Mann, für den ich mich schämen muss! Auch hier bedingunslos negativ: Ich will dich nicht als Mann!
Dann versucht es Hans mit einem bedingt negativen Stroke:
Sag doch nicht ‚immer’ und ‚ständig’, sag doch, was genau dich stört!
Und Marlene scheint tatsächlich anzunehmen und zu bedingt negativen Strokes überzugehen: Deine Wutanfälle, deine Ungeduld, deine Intoleranz da, jetzt sag’ ich es dir genau, was mich stört!  In dieser Vehemenz allerdings kommen sie wieder bedingungslos negativ an. Als sie zu weinen beginnt –ein bedingt negativen Stroke (ich bin verzweifelt über dein Verhalten) -, probiert Hans es mit einem positiven Stroke: er versucht, ihre Hand zu nehmen:
Wein doch nicht, Schatz, ich versprech’ dir...
Doch Marlene bleibt bei negativen Strokes – sie zieht ihre Hand zurück, und zwar heftig: wieder bedingungslos negativ. Ein Schritt vorwärts, zwei zurück.

„Du versprichst, dich zu ändern, aber es funktioniert nie“, sagt Marlene. Nein, das kann auch nicht funktionieren, denn bei Beziehungsproblemen geht es nicht darum, dass er sich ändert oder dass sie sich ändert. Es ist ein gemeinsames Muster, das die beiden da entwickelt haben. Wann immer eine/r versucht, auszusteigen, holt ihn (sie) der (die) Andere zurück. Der Grundansatz meiner Arbeit mit Paaren ist: es geht darum, die Beziehung zu verändern, nicht spezifisch die Einzelpersonen. Die verändern sich dann mehr oder weniger zwangsläufig mit. Daher gehe ich in dieser frühen Phase einer Paartherapie auch nicht den individuellen Hintergründen für das spezifische Stroke-Muster nach, sondern dem Muster selbst.

Hans und Marlene tauschen weitgehend begingungslos negative Strokes aus. Das ist natürlich ein emotionell schreckliches Muster – wer kann so etwas schon auf die Dauer ertragen? Hier liegt auch ein Grund dafür, dass sie nicht voneinander lassen können: wir ertragen es kaum, bedingungslose Ablehnung einfach so stehen zu lassen. Wir legen sehr viel Energie in den Versuch, das zu verändern oder zumindest abzumildern. Was Hans und Marlene natürlich haben (und auch geben) wollen – wie alle Menschen – sind positive Strokes. Hans’ gescheiterter Versuch dazu zeigt aber, dass diese im momentanen Stroke-Muster des Paares keinen Platz haben: Marlene kann sie nicht annehmen. Der Wechsel wäre zu rasch und zu abrupt. Wenn wir Menschen helfen wollen, ihr Strokemuster zu verändern, dann geht das nur Schritt für Schritt. Zu ungewohnte Strokes können den persönlichen Stroke-Filter nicht passieren und werden umdefiniert: in der gemeinsamen Analyse sagt Marlene, sie habe Hans’ Geste – ihre Hand zu nehmen – als Versuch erlebt, so zu tun, als ob nichts wäre.

Wenn wir genau auf die Gesprächssequenz sehen, entdecken wir gegen Schluss einen Punkt, an dem ein klein wenig Bewegung in den Dialog kommt: die beiden gehen kurz von bedingungslos negativen zu bedingt negativen Strokes über: Hans fordert Marlene auf, nicht ‚immer’ und ‚ständig’ zu sagen, und sie präzisiert dann, was genau sie stört. Dieser kurze Strokeaustausch bezieht sich nicht mehr auf die Personen, sondern auf ihr Verhalten.

Die beiden jetzt aufzufordern, sich statt der vielen bösen Dinge etwas Nettes zu sagen, würde Strokes von ihnen fordern, die sie nicht geben wollten und nicht nehmen könnten. Zu groß ist das durch gefühlte Millionen an Verletzungen entstandene Misstrauen.

Th: Ich möchte Sie bitten, noch einmal an den Punkt zurückgehen, an dem Sie, Marlene, begonnen haben zu weinen. Vorher haben Sie, Hans, Ihre Frau aufgefordert, die Kritik an Ihnen zu präszisieren und nicht zu verallgemeinern. Das haben Sie, Marlene, dann auch sehr deutlich getan und dann zu weinen begonnen haben. Wenn wir – bildlich gesprochen - unser Video von der Szene an diesen Punkt zurücklaufen lassen: Hans, was ist in Ihnen vorgegangen, bevor Sie versucht haben, die Hand Ihrer Frau zu nehmen?
H: Sie hat mir leid getan. Ich habe mich schuldig gefühlt an ihren Tränen.
Th: Sie haben sich schuldig gefühlt.
H: Ja, und das hat mich eigentlich geärgert. Diese Krokodilstränen, habe ich mir gedacht. Aber natürlich hat sie mir auch leid getan.
Th: Wollen Sie das Ihrer Frau direkt sagen, in aller Widersprüchlichkeit? Ganz spezfisch auf die Situation bezogen, ohne Verallgemeinerungen.
H: Wenn du in so einer Situation zu weinen beginnst, tut mir das leid. Andererseits ärgert es mich, weil es mir ja Schuldgefühle machen soll.
Th: Marlene?
M: Hmm... irgendwas stimmt schon an dem, was er sagt. Er soll sehen, wie ich mich kränke. Aber ich kränke mich ja wirklich!
Th: Ich kränke mich, weil...?
M: Weil ich ihn nicht erreiche! Ich kann sagen, was ich will, er schießt immer zurück!
Th: Immer?
M: Nein, immer nicht. In Streitsituationen. Da hört er... (zu Hans) da hörst du nicht zu.
H: Ja, weil das so pauschal kommt. Da muss ich mich einfach wehren.
M (nach einer Pause): Das will ich nicht, dass du dich so wehren musst.
H (nickt): Ich will das ja auch nicht.

Der Unterschied ist emotional spürbar und kognitiv erfassbar: die beiden setzen sich mit dem, was sie sagen und hören, auseinander, und sie hören einander (natürlich in Grenzen) zu.

Diese erste Veränderung des Paar-Stroke-Musters ist natürlich nicht der Weisheit letzter Schluss und nicht die Lösung aller Paarkonflikte. Aber es ist ein erster substanzieller Schritt, um den Rhythmus des ‚ein Schritt vorwärts, zwei zurück’ zu stoppen. Wir überspringen jetzt einige Sitzungen mit Hans und Marlene, in denen es um die Veränderung des Stroke-Musters und um das Zulassen der Gefühle geht, die sie in ihrer schwierigen Situation haben.

Allmählich werden in dieser Arbeit zwei Aspekte deutlich:
- die Geschichte, die die beiden miteinander haben, im Guten wie im Bösen
- und die Menschen, die sie beide sind – im Kontext ihrer Lebensgeschichte, mit dem, was sie schon in die Beziehung mitgebracht haben.
-
In der Sprache des Stroke-Konzepts: die Geschichte davon, wie sie ihr gemeinsames Stroke-Muster entfaltet und ausgebaut haben, und die Geschichte davon, wie sie einzeln ihre persönlichen Stroke-Muster entwickelt haben.

Ich lerne Hans als sehr leistungsbezogenen, hart arbeitenden Menschen kennen, der sich selbst als „wahrscheinlich burnout-gefährdet“ einstuft. Probleme jeder Art sind für ihn etwas, das schnell gelöst werden muss. Wenn das nicht möglich ist, wird er rasch wütend und sucht die Schuld dafür bei anderen. Er fühlt sich im Grund sehr einsam und unverstanden, nicht nur von Marlene, auch von den Kindern. Aus diesem Gefühl heraus hat er auch wiederholt Außenbeziehungen aufgenommen, diese aber zugunsten der Familie aufgegeben.

Sein Stroke-Muster lässt sich so beschreiben:
- die besten Strokes, die für ihn zu bekommen sind, sind bedingt positive – nämlich für Leistung; davon kann er nicht genug kriegen
- nach bedingungslos positiven Strokes (so geliebt zu werden, wie er als Mensch ist) sehnt er sich wie wir alle, kann sie aber, wenn er sie bekommt, nicht annehmen, sondern definiert sie zu bedingten um: als Marlene sagt, sie sei trotz aller Schwierigkeiten immer noch bei ihm, weil sie ihn einfach liebe, antwortet er: „Na ja, das Haus und mein Geld sind schon auch schwerwiegende Argumente.“
- bedingt negative Strokes (also Kritik) kann er fast nicht annehmen. Klar, denn das Ausbleiben von Lob nimmt ihm ja die einzigen positiven Strokes, die er gelten lässt. Er definiert bedingt negative zu bedingungslos negativen um: Marlene zeigt sich an Sexualität desinteressiert („Wenn er mich vorher anbrüllt, kann ich mir das einfach nicht vorstellen!“). Dazu sagt er: „Wenn du keinen Sex mit mir willst, dann heisst das ganz klar, dass du mich nicht mehr liebst!“
- seine Grundüberzeugung ist, das letztlich alles im Leben auf bedingungslos negative Strokes für ihn hinausläuft („Wissen Sie, schlussendlich liebt mich ja doch keiner!“)

Die Art und Weise, wie wir Strokes annehmen, nicht annehmen und redefinieren, sind natürlich wiederum Strokes an die Adresse des/der Anderen. Wenn ich jemanden lobe und seine Freude darüber erlebe, ist das wiederum ein bedingt positiver Stroke für mich. Hans Redefinitionen von Marlenes Strokes – nicht zuletzt die Zurückweisung ihrer Liebe –emfpindet Marlene bedingungslos negativ an. Dementsprechend reagiert sie mehr und mehr ebenso.

Wenn wir Menschen dabei erleben, wie sie Strokes austauschen, dann erzählt uns das verschiedene Arten von Geschichten: die Geschichte davon, wie die beiden sich miteinander dorthin entwickelt haben, wo sie jetzt sind (die Geschichte ihres Systems), und die Geschichte davon, wie jeder von ihnen es als Kind gelernt hat, ihr (sein) Leben und seine (ihre) Beziehungen so zu gestalten,wie sie es jetzt tun. Die Stroke-Muster von Menschen erzählen uns Geschichten von Liebe und Nicht-Liebe, von Geliebtwerden und von Nicht-Geliebtwerden. Wir beginnen also mit dem Stroke-Konzept bei den gegenwärtigen Mustern der Beziehung; indem diese  verändert werden, kann die Geschichte des Systems ‚Paar’ deutlich werden. Von dort aus gehen wir der substanziellen Frage nach, wie es gekommen ist, dass es so gekommen ist.

Dafür verwenden wir in der TA den Begriff ‚Skript’: damit ist der unbewusste Lebensplan gemeint, der in der Kindheit unter dem Einfluss der Eltern und anderer Beziehungspersonen entwickelt wird. Dieser Lebensplan ist ein ursprünglich lebenserleichterndes, manchmal lebensrettendes, heute aber an vielen Punkten dysfunktionales Konzept darüber, wie wir uns, Andere und das Leben sehen, erleben und gestalten. Strokes und ihr Austausch sind die Art und Weise, wie wir uns skriptgebunden verhalten – und wie wir das Skript aber auch hinter uns lassen können.

Hans ist als drittes von sieben Kindern auf einer Nebenerwerbs-Landwirtschaft aufgewachsen. Sein Vater war unter der Woche in der Stadt, um in der Fabrik zu arbeiten, während die Mutter – schwer überfordert – den Bauernhof führte. Hans sagt, er hat seine Mutter „mehr als Maschine als als Menschen“ kennengelernt. Sie arbeitete ununterbrochen bis zur Erschöpfung, und Hans – als ältester Sohn nach zwei Töchtern – sah sich bald als ‚Mann am Hof’, der die Mutter in der körperlichen Schwerstarbeit zu unterstützen hatte.

Hans: Sie werden das vielleicht nicht glauben, aber eigentlich war das schön, zumindest manchmal. Es ist zwar weit über meine Kräfte hinausgegangen, aber wenn die Mutter und ich am Abend beisammen gesessen sind und besprochen haben, was am nächsten Tag geschehen muss, dann habe ich mich schon sehr erwachsen gefühlt. Und je älter und kräftiger ich geworden bin, umso weniger Fehler habe ich gemacht.
Th: Fehler?
H: Na ja, wenn ich nicht aus dem Bett gekommen bin, zum Beispiel, weil ich einfach todmüde war. Wenn dann vor der Schule keine Zeit mehr war, die Kühe zu melken. Das musste ja alles noch mit der Hand geschehen, damals.
Th: Und was ist dann passiert?
H: Zuerst einmal, dass die Mutter nicht mehr gesprochen hat. Ich meine, gar nichts mehr. Viel geredet hat sie ja nie, aber dann hat sie getan, als ob ich überhaupt nicht da wäre. Die Besprechungen am Abend haben dann nicht stattgefunden oder, noch ärger, mit einer von den Schwestern und ich bin ins Bett geschickt worden. (Pause, er atmet tief)
Th: Aber da war noch Schlimmeres.
H: Ja. Am Freitag, wenn der Vater heimgekommen ist aus der Fabrik, dann hat sie es ihm erzählt. Heimlich. Ich hab’ mich früher immer so gefreut, wenn er heimgekommen ist, ich bin ihm entgegengelaufen, und er hat schon von weitem gerufen „Hansl!“ Und manchmal, wenn ein bisschen Zeit war am Wochenende, dann hat er zu mir gesagt: „Komm, setz dich her zu mir, Hansl.“ Einfach hersetzen. (Pause)
Th: Aber wenn Sie ‚Fehler’ gemacht haben?“
H: Ja. Dann hat sie es ihm erzählt. Aber das habe ich anfangs ja gar nicht gewusst. Er hat auch so getan, als ob nichts wäre. Aber irgendwann war dann dieses ‚Setz dich her zu mir.“ So wie immer. Und dann hat er mch auf einmal angeschaut und hat gesagt: „Ich hab da was für dich, Hansl.“ Und ich hab’ gehofft, er hat mir etwas aus der Stadt mitgebracht, das war früher manchmal so. Aber er hat dann den Gürtel aus der Hose gezogen.
Marlene (betroffen): Mein Gott, das hast du mir ja nie erzählt...
H (leise): Scheiterknieen, mit dem Gürtel auspeitschen, das volle Gewaltprogramm. Praktisch jedes Wochenende. Ich hab’ aufgehört, mich auf ihn zu freuen. Ich hab’ mich gefürchtet. Irgendein Fehler ist mir unter der Woche immer passiert.
M: Jetzt versteh’ ich, warum du nie Fehler machen darfst!
Th (zu M): Und warum es für ihn so unerträglich ist, wenn er sich im Streit wieder so erlebt, als ob alles an ihm falsch wäre. Denn für falsch sein, für Fehler, gibt es furchtbare Strafen. Dann wird das, was er einmal als Liebe erlebt hat, zu Gewalt und Ablehnung.

Hier wird deutlich, wie das TA-Konzept der Strokes nicht nur hilft, gegenwärtige Muster des Paares zu verändern, sondern wie es auch der Schlüssel zu den Skripts der Partner ist. Dadurch wird verstehbar, was den Anderen unbewusst antreibt: frühe Beziehungs- (also Stroke-) Muster werden in die Gegenwart übertragen. An bestimmten Punkten ihrer Interaktion hat Hans (in seinem Erleben) nicht mehr Marlene vor sich, sondern eine Kombination aus seiner Mutter und seinem Vater: Anerkennung (die für Liebe gehalten wird) gibt es nur für Leistung, wirklicher Liebe kann man nicht trauen. Kritik an Fehlern führt zu vollständiger Ablehnung (denn Gewalt wird natürlich als bedingungslos negativer Stroke erlebt). Indem Marlene das in der Paartherapie betroffen miterlebt, wird ihr klar, wie Hans so geworden ist, wie er ist.

Und Hans helfen diese Erkenntnisse, Verantwortung für sein gegenwärtiges Handeln, Denken und Fühlen zu übernehmen, indem er seine Vergangenheit von der Gegenwart trennt. Genauer gesagt: indem er lernt, Marlene als eine andere Person als seine Eltern zu sehen und zu erleben.

Parallel dazu und damit verflochten arbeite ich an Marlenes Stroke-Muster und ihrer Lebensgeschichte (auf die ich hier aus Zeitgründen nicht so ausführlich eingehen möchte).

In Kürze: sie ist ein Einzelkind. Als sie drei war, haben ihre Eltern sich getrennt. Sie hat ihren Vater erst wieder gesehen, als sie sechzehn war und sich selbst um den Kontakt bemühte. Die Mutter war eine in sich zurückgezogene, vermutlich depressive Frau. Marlenes Welt war dementprechend Stroke-arm; am ehesten gab es spärliche bedingt positive und bedingt negative Strokes („Ein Kopfnicken oder ein Kopfschütteln, wenn ich es richtig oder falsch gemacht hatte, das war so ziemlich alles.“) Dieses Defizit versuchte sie auszugleichen, indem sie sich eine Fantasie-Vater kreierte. Ab dem Alter von 8 schrieb sie ihm Briefe (die nie abgeschickt wurden), in denen sie sich ihn als liebevoll und zugewandt vorstellte und dokumentierte, was er in ihrer Vorstellung alles mit ihr unternommen hatte. So erfand sie bedingungslos positive Strokes für sich – tatsächlich aber erlebte sie massiv bedingungslos negative: vom Vater, dem sie offensichtlich gleichgültig war, und von der Mutter durch ihre Zurückgezogenheit und Lieblosigkeit.

Hans erlebt sie auf doppelte Weise als Wiederholung ihrer ‚Geschichte von Liebe und Nicht-Liebe’: durch seine häufige Abwesenheit wie ihren fantasierten Vater („Immer, wenn er nicht da ist, stelle ich mir vor, wie schön es sein wird, wenn er heimkommt“) und durch seine Zurückgezogenheit zu Hause wie ihre Mutter („Dann sitzt er am Computer und nickt nur geistesabwesend, wenn ich etwas zu ihm sage.“)

Ein Schritt vorwärts, zwei zurück: wenn Marlene und Hans miteinander wirklich in Kontakt sind als die Menschen, die sie sind, dann haben sie den Eindruck, es könnte noch einmal gutgehen. Wenn sie in ihre Kindheits-Stroke-Muster rutschen, wenn sie ihre frühen Beziehungserfahrungen auf einander übertragen, dann verheddern sie sich in ihrem gemeinsam gestrickten Paar-Stroke-Muster. Dann kommen sie vom Weg ab – ‚somewhere along the line I slipped off the track’ hat Bruce Springsteen vorhin gesungen.

Im ersten Schritt haben Hans und Marlene also Veränderungen ihrer gegenwärtigen Stroke-Muster erarbeitet. In Schritt eineinhalb setzen sie sich damit auseinander, wie es aus ihrer Kindheit her kam, dass es so gekommen ist.

Die Arbeit mit dem Skript ist komplex, schon in der Einzeltherapie und erst recht mit den beiden Personen eines Paares. Destruktive Antreiber und Skripteinschärfungen, Glaubenssätze und abgewehrte Gefühle werden auseinandergeklaubt und bearbeitet. Immer wieder verwickelt die Vergangenheit sich mit der Gegenwart – wie ein Gummiband zieht das Skript Menschen in ihre Geschichte zurück. Manchmal zieht man selbst daran, dann tut das der/ die Andere.

Je klarer diese Verwicklung den beiden wird, desto besser sind sie gerüstet für den zweiten Teilschritt der Arbeit mit der Vergangenheit: mit ihrer Vergangenheit als Paar, ihrer gemeinsamen Geschichte von Liebe und Nicht-Liebe. Natürlich spielt dieser Aspekt von Anfang an immer eine Rolle. Wirklich substantiell ist es erst jetzt möglich, sich damit auseinanderzusetzen – jetzt, wo die aktuellen alltäglich zugefügten Verletzungen weniger geworden sind und wo die Schatten der Kindheit nicht mehr alles andere (unbewusst) überdecken.

An dieser Stelle möchte ich mich wieder aus der Geschichte der Paartherapie mit Hans und Marlene ausklinken. Ich denke, es ist deutlich geworden, wie das Stroke-Konzept in der Transaktionsanalyse als Link in verschiedener Hinsicht eingesetzt werden kann: einerseits als Verbindung zwischen der Dynamik interaktiver Muster und persönlicher Hintergründe, andererseits als integrativer Link zwischen verschiedenen therapeutischen Ansätzen. Es – das Stroke-Konzept - kann (in unterschiedlichem Ausmaß) kombinieren:
- systemische Sichtweisen von der Bezogenheit des Individuums auf seine sozialen Zusammenhänge
- verhaltenspsychologische Zugänge durch den Umgang mit Lernen, Verlernen und Neulernen kommunikativer Muster
- tiefenpsychologische Konzepte durch das Verständnis für den Umgang mit lebensgeschichtlichen Verletzungen und Traumata
- bindungs- und beziehungstheroretisches Verständnis über die existenzielle Bedeutung menschlichen Kontaktes und menschlicher Zuwendung
- die Werte der humanistischen Psychologien, mit denen die TA gemeinsam in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entstanden ist.

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