27. Die heiße Kartoffel: Das Weitergeben von Angst und Schuld von einer Generation auf die nächste

Vortrag auf der Jugend- und Kindertagung 2015 des VPA

Linz, Oktober 2015

Da kam der Herr hernieder in einer Wolke und trat daselbst zu Mose und rief aus des Herren Namen. Und der Herr ging vor seinem Angesicht vorüber und er rief: Herr, Herr, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue! der da bewahrt Gnade in tausend Glieder und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde, und vor welchem niemand unschuldig ist; der die Sünden der Väter heimsucht auf Kinder und Kindeskinder bis ins dritte und vierte Glied.

Dieses Zitat aus dem 2. Buch Mose der Bibel, vor allem sein letzter, grausamer Teil, ist ein oft verwendetes Wort geworden. Historisch diente es unter anderem zur Rechtfertigung von Judenverfolgungen, heute begegnet es uns auf englisch oder deutsch als Titel zahlreicher Bücher, als Filmitel, in TV-Serien wie ‚Star Trek’ oder den ‚Simpsons’, als Titel von Rocksongs, beispielsweise von Black Sabbath oder Tom Waits oder auch als Computerspiel. Was ist so faszinierend an dieser merkwürdigen, eigentlich schrecklichen Formulierung, deren mündliche Überlieferung etwa 3500  Jahre zurückreicht, ihre schriftliche 2500 Jahre? Es scheint ein Archetypos zu sein, der wie viele Mythen, Sagen, Geschichten, Legenden metaphorischen psychologischen Bezug auf den Menschen aller Zeiten hat.

Vor mehr als zwanzig Jahren hatte ich ein seltsames und bewegendes Erlebnis. Auf Einladung einer Kollegin hielt ich Ausbildungsworkshops in England, bei denen transaktionsanalytische Theorie mit Selbsterfahrung verbunden war. Viele der persönlichen Arbeiten der Teilnehmer und Teilnehmerinnen berührten ihre Familiengeschichten, die fast in jedem Fall von Traumatisierungen durch den Zweiten Weltkrieg, insbesondere durch den Bombenkrieg auf England, beeinflusst wurden. Menschen, die verschüttet waren, die alles durch die Angriffe alles verloren hatten, die dabei ums Leben gekommen waren, Soldaten, die bei der Landung in der Normandie 1944 gefallen waren, zogen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Menschen, die an dieser Trainingsgruppe teilnahmen, Familientraumata, die von Eltern und Großeltern an ihre Kinder und Enkelkinder berichtet wurden und die deren Lebensthemen formten. Immer wieder fühlte ich dabei nicht nur Betroffenheit und Mitgefühl, sondern mehr und mehr Scham und Schuld. Waren nicht mein Vater und mein Großvater selbst Soldaten in der deutschen Wehrmacht gewesen? Sie waren zwar nicht an den Angriffen gegen England beteiligt, sondern an der Front im Osten, aber waren nicht sie, war nicht mein österreichisches Volk Teil der Maschinerie des Dritten Reiches gewesen, die unfassbares Leid über die Menschheit gebracht hatte, dessen Wunden bis heute nicht wirklich verheilt sind? Ich verspürte das starke Bedürfnis, eine Entschuldigung auszusprechen, eine Entschuldigung an diese Menschen, deren Familien so viel Leid angetan worden war – im meinem Namen für die Sünden meiner Väter.

Lange befasste ich mich nicht mehr damit, hin und wieder fiel mir das Erlebnis ein, das ich mir nicht wirklich erklären konnte, es auch nicht versuchte. Die Geschichte meines Vaters war mir nur so weit präsent, dass er im April 1944 mit noch nicht 16 Jahren eingezogen worden war und bis zum Kriegsende an der zurückweichenden Ostfront in der Luftabwehr eingesetzt worden war. Ich kannte Fotos von diesem halben Kind in Wehrmachtsuniform, ich wusste, dass seine Onkel in der Waffen-SS waren und dass einer gefallen war. Die anderen beiden hatte ich als entzückende alte Herren kennen gelernt. Viel hatte mein Vater nicht erzählt, praktisch gar nichts, ein paar Anekdoten aus seiner kurzen Ausbildungszeit. Die siebte Gymnasialklasse war entfallen, als die jungen Männer im Herbst 1945 in die achte zurückkehrten, waren die Hälfte der Plätze leer geblieben. Dieses – bruchstückhafte – Wissen hatte mir geholfen, einiges an der harten, manchmal grausamen Seite meines Vaters besser zu verstehen. Ich wusste ja, dass er traumatisiert sein musste.

Doch dann passierte etwas. Mit Mitte siebzig musste er sich einer Operation unterziehen, und im postoperativen Zustand wurde er verwirrt und aggressiv. Er wollte flüchten, riss sich die Schläuche heraus und musste fixiert werden. Als ich ihn besuchte, lag er in hilfloser Verzweiflung und panischer Angst in seinem Bett und erzählte mir, er sei von „den Russen“ gefangen genommen worden und sie würden medizinische Experimente an ihm durchführen. Allmählich gelang es mir, ihn zu beruhigen. Dann begann er zu weinen und sagte: „Aber vielleicht ist es die gerechte Strafe für das, was ich getan habe.“ Mehr war dazu nicht zu erfahren, aber ich hatte begriffen: er war nicht nur ein missbrauchter, in den Krieg gezwungener junges Milchgesicht gewesen – er war mitschulidg geworden. Er hat sich sein ganzes restliches Leben schuldig gefühlt, darüber aber nie gesprochen. Er wurde zum überzeugten Antifaschisten und besuchte Auschwitz und die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel. Er versuchte, sich von seinen Schuldgefühlen zu befreien, und es ist ihm nicht gelungen. Und er hat sie unbewusst an mich weitergegeben – genauer gesagt, ich habe sie mir, ebenso unbewusst, genommen. Die „Sünden“ des Vaters waren zu denen des Sohnes geworden.

Was steckt hinter diesem Phänomen – ein Mensch übernimmt die ungelösten Themen seines Vaters, seiner Mutter, manchmal auch von Großeltern? Wie kann man diesem unbewussten Prozess auf die Spur kommen? Und, vor allem, wie lässt er sich psychotherapeutisch behandeln?

Lassen Sie mich dazu ein wenig ausholen. Einer der grundlegenden Begriffe in Theorie und Methodik der Transaktionsanalyse ist das Skript. Darunter verstehen wir einen unbewussten Lebensplan, den Menschen in der Kindheit unter dem Einfluss der Botschaften der Eltern und anderer wichtiger Bezugspersonen entwickeln. Skript bedeutet, bestimmte Glaubenssätze über sich selbst, andere Menschen und das Leben zu bilden, entsprechende Gefühlsmuster zu verinnerlichen und Beziehungserfahrungen aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu übertragen. Skript lässt uns die Realität verzerrt wahrnehmen, und zwar so, dass sie immer wieder als Beweis dafür dient, dass alles so ist, wie es immer war und immer sein wird. Wir „entscheiden“ uns als Kinder für diese Konstruktion, nicht im Sinne erwachsener Entscheidungen, die Alternativen abwägen, sondern auf der Basis intuitiver emotioneller und auch physiologischer Prozesse. Skript wird aber nicht aufgeprägt wie ein Stempel, sondern stellt einen eigenständigen kreativen Prozess des kleinen Menschen dar, um mit einer schwierigen, manchmal auch lebensfeindlichen Umwelt umzugehen. Es gibt Sicherheit und Halt. Für ein Kind ist die Bildung eines Skripts hoch funktional – nur wird vieles im späteren Leben dann dysfunktional. Das ist dann der Punkt, an dem Menschen zur Psychotherapie kommen. Dann analysieren wir als Transaktionsanalytiker die gegenwärtigen und vergangenen Muster und arbeiten am Skript und dessen Veränderung. Dabei stößt man nicht selten auf das Phänomen, dass es Teile des Skripts gibt, mit ihm verwoben, zu denen sich kein plausbiler Zugang zu eigenen Erfahrungen, Traumatisierungen und Skriptentscheidungen des Patienten oder der Patientin finden lässt. Meist haben diese Elemente mit Scham, Angst und Schuldgefühlen zu tun.

Ein Beispiel:
Harald, Anfang 40, kommt zur Therapie weil er an undefinierbaren Ängsten und vor allem an quälenden Schuldgfühlen leidet. Was immer in seinem Leben schiefläuft (und er definiert sehr viel als „schieflaufen“), er fühlt sich schuldig daran, und zwar in einem Ausmaß, das ihn Tag und Nacht verfolgt. Beispielsweise verursacht er in der Tiefgarage einen unbedeutenden Blechschaden an einem anderen Fahrzeug. Er meldet ihn bei Polizei und Versicherung, aber es lässt ihm keine Ruhe. Er eruiert den Besitzer des anderen Autos, ruft ihn an, um sich zu entschuldigen und sich zu erkundigen, ob er tatsächlich in Kenntnis gesetzt worden sei. Ein paar Tage später meldet er sich wieder, ob der Schaden schon repariert worden und alles gut gegangen sei. Er will die andere Person auf einen Kaffee einladen, um sich noch einmal zu entschuldigen. Als diese dankend ablehnt, ist er verzweifelt: er werde jetzt mit dieses Schuld weiterleben müssen. Dieses Muster begleitet ihn durch sein ganzes Leben hindurch, lässt ihn übervorsichtig und sozial gehemmt werden - wodurch das Risiko, Dinge falsch zu machen, erst recht steigt. Gleichzeitig wird sein Verhalten von brennenden Schamgefühlen begleitet, „weil ich ja weiß, dass das peinlich ist, was ich da mache. Trotzdem kann ich nicht anders.“ Die Analyse seiner zugrunde liegenden Lebenserfahrungen und in der Kindheit erlernten Beziehungsmuster ist schwierig, weil in der Therapie immer wieder neues „Verschulden“ zum Thema wird - wofür er sich dann wieder bei mir umfangreich entschuldigen muss. Seine Kindheit ist weitgehend nach den üblichen Maßstäben verlaufen, manche Dinge waren gut, andere weniger, aber es lässt sich nichts wirklich Greifbares festmachen, das dieses Ausmaß an Schuldgefühlen erklären könnte. In früheren Behandlungen wurde er als „angstneurotisch“ diagnostiziert, was vielleicht aus der Symptomatik ableitbar sein kann. Aufgrund einer doch deutlich anderen Psychodynamik kann ich diese Einschätzung aber nicht teilen.

Harald wird uns später wieder begegnen. Lassen Sie uns zuerst einen Blick darauf werfen, was da psychologisch vorgeht. Dieses Phänomen - dass etwas Bestandteil des Skripts ist, was nicht eigentlich zum originären Skript eines Menschen zu gehören scheint - hat als Erste bereits 1969 eine der legendären „Urmütter“ der Transaktionsanalyse beschrieben: Fanita English, die nächstes Jahr (hoffentlich) das biblische Alter von 100 Jahren erreichen wird. Auf den Vorschlag Eric Bernes, des Gründers der TA, hin nennt sie es „Episkript“. Die Vorsilbe „epi“ bezeichnet im Griechischen etwas über das Ursprüngliche Hinausgehendes, nicht eigentliche Dazugehöriges, so, wie ein „Epilog“ das Schlusswort ist, das eigentlich nicht mehr zur Handlung eines Buches dazugehört. Sie sagt dazu, „dass sich ein Episkript zu einem Skript verhält wie ein Krebsgeschwür zu einem pulsierenden Organ.
Es hat seine eigene Art, auf Kosten des Organs, dem es anhaftet, zu wachsen.
Eine Zeit lang scheint es nicht viel Schaden anzurichten, aber beim Weiterwachsen greift es störend in die Aufgaben des Organs ein, an welches es angehängt ist und möglicherweise dringt es in den ganzen Organismus der Person ein und überwältigt ihn, wenn es nicht im Zaum gehalten oder herausgeschnitten wird.“

„Episkript“ bedeutet, dass ungelöste Skriptteile projektiv, also unbewusst, an einen anderen Menschen weitergegeben  werden, um sich selbst innerpsychisch zu entlasten. Der Andere, das Kind, identifiziert sich damit in einem Akt der Liebe und dem Versuch, den Elternteil verstehen und ihm nahe sein zu können. Die Psychoanalytikerin Melanie Klein nennt das „projektive Identifikation“: Teile des Selbst werden in einem unbewussten Abwehrmechanismus abgespalten, die andere Person identifiziert sich damit.

Fanita English fand dafür einen sehr eingängigen und plakativen Begriff (wie das in der TA oft der Fall ist): „hot potato game“ nannte sie das Weitergeben von eigenen ungelösten Problemen von einer Generation auf die nächste. „Pass on the hot potato“ ist in den USA eine gebräuchliche Redewendung, die etwa ähnlich verwendet wird wie bei uns „den Schwarzen Peter weitergeben.“ Sie bezieht sich auf ein Kinderspiel, bei dem Musik gespielt und ein Gegenstand als symbolische „Heiße Kartoffel“ hin- und hergeworfen wird. Der Spieler, bei dem sie angelangt ist, wenn die Musik zu spielen aufhört, hat verloren. Die Symbolik ist eindeutig: etwas, das mir zu heiß ist, wird jemand anderem zugeworfen – wobei dieser andere es natürlich auch fangen, also aufgreifen und nehmen muss. Dieses Aufnehmen der Projektion und das Umwandeln zur Identifikation hat natürlich mit dem eigenen Skript zu tun. Das Kind hat vorher schon gelernt, seine eigenen Bedürfnisse hinter die der Bezugsperson zu stellen und Verantwortung für sie und ihr Wohlergehen zu übernehmen. Und so entsteht genau diese krebsartige Verwachsung, von der ich vorher gesprochen habe: der Organismus des eigenen Skripts nährt den Fremdkörper so, als ob er zu ihm gehören würde.

Das Weitergeben von kleineren heißen Kartoffeln passiert wahrscheinlich in jeder Eltern-Kind-Beziehung. So erinnere ich mich, dass ich meinem älteren Sohn, als er etwa sechs war, den Ratschlag gab, nicht so dickköpfig zu sein, weil ich aus eigener Erfahrung wüßte, wie schwer man sich damit manchmal tut. Darauf antwortete er lapidar: „Wie soll ich etwas lösen, das nicht einmal du lösen kannst? Ich bin klein, und du bist groß!“ Erfreulicherweise hatte er die Kartoffel nicht aufgefangen.

Um Dinge dieser Art geht es hier aber nicht, sondern um wirklich schwerwiegende therapierelevante projektive Identifikationen, die meist mit massiver Angst, Scham und intensiven Schuldgefühlen verbunden sind. Derart gewichtige heiße Kartoffeln werden nur dann weitergegeben, wenn eine schwere Traumatisierung des Elternteils vorliegt. Das können beispielsweise Kriegsereignisse sein (wie im geschilderten Fall meines Vaters), Krankenhaustraumata, tiefgreifende Verlusterfahrungen durch Trennung oder Tod, Gewalt und im speziellen sexuelle Gewalt. Es müssen nicht notwendigerweise nur kindliche Traumatisierungen sein, auch solche aus dem erwachsenen Leben können dabei zum Tragen kommen.
  
Viele Traumatisierungen entstehen durch politische Umstände, manche liegen weit zurück in der Geschichte. Mit der zunehmenden Zahl an Migranten und Flüchtlingen aus Kriegs- und Krisengebieten wird nicht nur die Zahl unmittelbar traumatisierter Patienten für uns Psychotherapeuten wachsen, sondern auch – gerade für Kinder- und Jugendlichentherapeuten - die Zahl der in ihrem Episkript mittraumatisierten Menschen der zweiten und dritten Generation. Um damit umzugehen, ist es für uns notwendig, gute historische und politische Kenntnisse zu haben. Zum Beispiel: wenn Sie mit einem jüngeren Menschen aus dem Mühlviertel arbeiten, der bei seiner Großmutter aufgewachsen ist, dann ist zu beachten, dass diese Frau wahrscheinlich den Einmarsch der Roten Armee und die sowjetische Besatzung miterlebt hat. Möglicherweise ist sie ein Vergewaltigungsopfer, ganz sicher hat sie für uns unvorstellbare Ängste erlebt. Vielleicht ist die scheinbar unerklärbare Angstneurose Ihres Patienten oder Ihrer Patientin eine heiße Kartoffel von der Großmutter. Dasselbe ist zu beachten, wenn Sie mit Migranten oder Migrantinnen der zweiten oder dritten Generation aus dem ehemaligen Jugoslawien arbeiten (dafür werde ich später ein Fallbeispiel geben). Menschen aus Bosnien haben fast alle den Krieg unmittelbar erlebt, solche aus Kroatien teilweise, Menschen aus Serbien zum Beispiel Bombardements.

Wie kann man nun erkennen, dass es sich um eine heiße Kartoffel, also die projektive Weitergabe eines fremden Traumas handelt? Zum ersten ist es notwendig, genaue Familienanamnesen zu erheben, zumindest bis hin zu den Großeltern. Heiße Kartoffeln können auch von den Großeltern über die Eltern an die Kinder weitergegeben werden. Die Sünden der Großväter können auch die der Enkelkinder sein. In der therapeutischen Arbeit selbst erfordert es viel Fingerspitzengefühl und vor allem Intuition, um zu erfassen, ob es sich tatsächlich um ein Introjekt, einen importierten Fremdkörper handelt oder um das Ergebnis eigener Skriptentscheidungen aufgrund eigener Lebenserfahrungen. Anzeichen dafür - für die Introjektion - können zum Beispiel Aussagen sein wie: „Es fühlt sich irgendwie fremd an, so, als ob das gar nicht ich wäre.“ Auch das eigene therapeutische Empfinden, die Gegenübertragung im Sinne der Aufnahme des Unbewussten des Patienten, kann ein Gefühl des Fremden, des mit dem Menschen gegenüber nicht wirklich syntonen, sein. Es ist wichtig, nicht zu schnell mit der Hypothese der heißen Kartoffel zu liebäugeln. In einem Fall habe ich diesen Fehler gemacht: die Angstzustände und Panikattacken eines Patienten habe ich zuerst auf die Erzählungen seines Großvaters von der traumatischen Flucht aus Ostpreußen 1945 hin gedeutet - bis er bei näherem Befragen seiner Mutter erfuhr, dass er als Dreijähriger mit Meningitis im Krankhaus war, dort nicht besucht werden durfte und allem Anschein nach ein Krankenhaustrauma erlitten hatte. Das Durcharbeiten und Bewältigen dieses Traumas lösten seine Probleme dann weitgehend.

So weit die theoretische Beschreibung. Wie kann man nun therapeutisch mit heißen Kartoffeln arbeiten? Ich nenne diesen Vorgang „Elternpsychotherapie“. Er hat zwei Aspekte: zum einen die Arbeit mit traumatisierten Eltern, die gerade dabei sind, ihre Kartoffel an die Kinder weiterzugeben, und zum anderen die Arbeit mit Menschen, die sich die Kartoffel genommen haben und darunter leiden. Für beide Vorgangsweisen werde ich Ihnen je ein Fallbeispiel mit Gesprächauszügen vorstellen, das natürlich anonymisiert ist.

Zum ersten Aspekt, der vor allem für Kinder- und Jugendlichentherapeuten bedeutungsvoll ist. Hier geht es nicht nur um „normale“ Traumatherapie, sondern vor allem darum, dass die eigene Bewältigung des Traumas nicht der alleinige Fokus ist, sondern der aktive Schutz des eigenen Kindes. Ich arbeite mit einer Linzer Kindertherapeutin zusammen, die immer wieder Eltern oder Elternteile von Kindern an mich überweist, deren Symptomatik auf eine Traumatisierung eben dieser Eltern hinweist.

Mira ist eine Frau von Mitte Zwanzig, die aus Bosnien stammt. Sie ist mit einem Österreicher verheiratet und hat zwei Kinder mit ihm. Der Ältere, er ist vier, leidet seit einiger Zeit unter großen Verlassenheitsängsten, obwohl er nicht alleine gelassen und gut behütet wird. Wenn ein Elternteil wegfährt (der andere bleibt bei ihm), will er in panischer Angst dem Auto nachlaufen, frägt alle paar Minuten „Wann kommt der Papa wieder?“ und schleicht sich immer wieder zum Fenster, um nachzusehen. Auch in der Nacht kommt er wiederholt ins Schlafzimmer der Eltern und steht dann stumm in der Tür. Auf Fragen, was er denn da tue, antwortet er: „Ich horche, ob ihr noch atmet.“ Mira kann sich dieses Verhalten nicht erklären, es macht sie immer aggressiver, sie fühlt sich kontrolliert und kämpft gegen das Gefühl, eine schlechte Mutter zu sein. Schließlich hat sie mit Boris (so heißt das Kind) die erwähnte Kollegin konsultiert und kommt auf deren Anraten zu mir. In der zweiten Sitzung erzählt sie folgenden Vorfall:
Mira: Letztes Wochenende waren wir in Bosnien, um die Kinder zu meiner Mutter zu bringen, wo sie zwei Wochen bleiben. Sie lieben die Oma, und meine Mutter liebt sie, also war das für uns alle ganz normal. Boris hat sich schon die ganze Zeit gefreut und die Nächte gezählt, die er noch schlafen muss, bis er zur Oma darf. Als wir dann Sonntag weggefahren sind, mein Mann und ich, wir haben uns ganz normal von den Kindern verabschiedet, sehe ich auf einmal im Rückspiegel, dass Boris uns nachrennt und höre ihn schreien, wie ich ihn noch nie schreien gehört habe. Mein Mann ist sofort stehengeblieben, und wir sind ausgestiegen. Boris hat sich uns in die Arme geworfen und gerufen: bitte, bitte wiederkommen! Ich werde auch ganz bestimmt immer brav sein! Bitte wiederkommen!
Therapeut: Er hat also nicht gesagt: ’nicht wegfahren’, sondern ‚bitte wiederkommen’?
Mira: Ja, genau. Ich verstehe das nicht, wir kommen doch immer wieder.
Therapeut: Mira, wann genau sind Sie aus Bosnien weggegangen?
Mira: Das war - warten Sie, ich war damals siebzehn – 2006.
Therapeut: Also schon einige Zeit nach dem Krieg.
Mira: Ja, lange nach dem Krieg. Ich war ja auch kein Flüchtling. Der Krieg war 1995 vorbei.
Therapeut: Als sie sechs waren. Haben Sie Erinnerungen an den Krieg?
Mira: Ja, natürlich. Jeder Mensch in Bosnien hat Erinnerungen an den Krieg. Obwohl, mein Dorf war nicht betroffen. Nur Dörfer in der Nähe. Zu uns sind auch keine fremden Soldaten gekommen, das haben wir nur von anderen gehört. Und unsere Mutter hat alles getan, um uns, meinen Bruder und mich, vor den schlimmen Erzählungen zu behüten. Aber natürlich haben wir viel mitbekommen, es haben ja alle ständig davon geredet, wann denn die Serben kommen werden.
Therapeut: Und Ihr Vater?
Mira: Mein Vater? Der ist im Krieg gefallen. Erschossen von den Serben, mit 20 anderen. Wie Vieh.
Therapeut: Wie alt waren Sie da?
Mira: Ich? Vier. Sie haben sie in Bleisärgen gebracht, die Leichen sind erst später gefunden worden. Ich kann mich noch gut an das Begräbnis erinnern. Wir Kinder der Ermordeten sind ganz vorne gestanden, und wir sind alle mit Namen genannt worden. Ich war so stolz auf meinen Papa! Er ist für unser Vaterland gestorben.
Therapeut: Und er hat zwei kleine Kinder hinterlassen.
Mira: Ja, das ist eben so im Krieg. Das habe ich ja gewusst.
Therapeut: Was haben Sie gewusst?
Mira: Ja. Obwohl, meine Mama erzählt, dass ich immer gefragt habe: wann kommt der Papa wieder?
Therapeut: Wann kommt der Papa wieder.
Mira: Oh mein Gott!
Therapeut: Genau.
Mira: Das ist doch genau das, was der Boris immer sagt!
Therapeut: Ja, Mira. Das ist es.
Mira: Aber ich habe das doch längst überwunden! Unsere Mama hat uns den Papa voll und ganz ersetzt.
Therapeut: Nein, das konnte sie nicht. Sie war Ihnen sicher eine gute Mutter, aber sie konnte den Papa nicht ersetzen. Das kann niemand. Und sie muss sehr traurig gewesen sein.
Mira: Ja, das war sie. Ich habe sie immer getröstet. Sie hat immer gesagt: mein tapferes Mädchen.
Therapeut: Ein tapferes kleines Mädchen, dem kein Platz für sein eigene Trauer bleibt.
Mira: Können wir über was anderes reden? Das ist doch ein bisschen viel.
Therapeut: Natürlich, Mira. Gerne.

In der darauffolgenden Sitzung beginnt sie:
Mira: Ich habe eigentlich geglaubt, die Frau Dr. G. schickt mich zu Ihnen, damit Sie mir erklären, wie ich mit dem Boris umgehen soll. Ich habe mir nicht vorgestellt, dass wir da so viel über mich reden werden.
Therapeut: Das ist kein Widerspruch. Wie wir mit unseren Kindern umgehen, hat damit zu tun, wie wir mit uns selbst umgehen und wie wir die Dinge bewältigen, die uns das Leben mitgegeben haben.
Mira: Mein Mann hat immer gesagt: du bis kriegstraumatisiert, das musst du verarbeiten. Das hat mich gestört, ich bin doch ein normaler Mensch und kein Trauma!
Therapeut: Sie sind ein normaler Mensch, und Sie haben als kleines Kind Dinge erlebt und erfahren, die absolut nicht normal sind. Die schrecklich und mörderisch sind. So etwas beeinflusst Menschen.
Mira: Ja, aber was hat das mit Boris zu tun?
Therapeut: Oft sehen wir in unseren Kindern unsere eigene Kindheit wieder. Wenn Sie den kleinen Boris sehen, dann erinnert er sie an die kleine Mira.
Mira: Aber er ist ja ein Bub!
Therapeut: Natürlich. Und wenn er Angst hat, seine Eltern könnten nicht wiederkommen, spielt dieser Unterschied keine große Rolle. Die kleine Mira war ein Mädchen, aber ihre Angst um ihren Papa war eine ganz ähnliche. Und wenn Sie sich - oder genauer gesagt, die kleine Mira, die sie einmal waren - im kleinen Boris wiederfinden, dann passiert etwas ganz Eigentümliches. Ohne dass ihm das bewusst wird, in seinen Gefühlen, findet er dann diese kleine Mira und ihre Angst in seiner Mama. Er sieht etwas, das Sie selbst nicht sehen wollen. Er sieht und vor allem spürt die kleine Mira, die so große Angst hat, dass ihr Papa nicht wiederkommt. Der ja auch wirklich nicht wieder gekommen ist. Die sich wahrscheinlich vorgenommen hat, sehr brav zu sein, damit er doch wiederkommt. Vielleicht hat ihr das sogar jemand gesagt.
Mira: Ja, meine Großmutter: wenn du willst, dass der Papa wiederkommt, dann musst du sehr brav sein. Dann schickt ihn Gott zurück.
Therapeut: Aber Gott hat ihn nicht zurückgeschickt, sondern genommen.
Mira (beginnt zu weinen): Aber ich war doch so brav! Warum denn?
Therapeut: Weil Krieg nichts mit Gott zu tun hat. Krieg ist gottlos. Und Krieg hat schon gar nichts mit kleinen Mädchen zu tun. Krieg will Menschen fressen.
Mira: Und jetzt will er zwanzig Jahre später meinen kleinen Boris fressen!
Therapeut: Ja, Mira. Krieg frisst immer weiter, auch wenn die Waffen schon längst schweigen. Der zweite Weltkrieg hat in den Menschen im früheren Jugoslawien so lange weiter gefressen, bis wieder Krieg daraus geworden ist. Kriege hören in den Menschen nicht auf. Das kenne ich auch aus meiner Generation, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geboren ist. Uns ist es so gegangen wie Ihrem Boris: unsere Eltern haben einen schrecklichen Krieg erlebt, haben Menschen verloren - und wir alle haben große Angst gehabt, unsere Eltern zu verlieren. Weil sie uns ihre Angst weitergegeben haben.
Mira: Also ist das alles eigentlich nicht Boris’ Problem, sondern meines.
Therapeut: Im Grunde ja. Das heißt nicht, dass er keine Hilfe braucht, und die bekommt er ja bei Frau Dr. G. Aber das Wesentliche ist, dass Sie Ihre Lebensgeschichte verarbeiten können. Damit helfen Sie Boris am meisten.
Mira: Und wie geht das?
Therapeut: Wir führen unsere Gespräche weiter, so, wie wir sie begonnen haben.
Mira: Aber ich will nicht immer über den Krieg reden!
Therapeut: Natürlich nicht. Wir werden auch über Ihr jetziges Leben reden, über Ihre Kinder, Ihre Ehe, Ihren Beruf. Und von Zeit zu Zeit werden wir auf Ihre Kindheit und den Krieg zu sprechen kommen – aber auch da natürlich nicht nur auf den Krieg.

Mira hat begonnen, sich mit den ungelösten und unerledigten Aspekten ihres Skripts, ja, mit ihrem Skript überhaupt zu beschäftigen. Damit nimmt sie die heiße Kartoffel zu sich zurück, die sie an Boris weiterzugeben begonnen hat. Boris kann auf Sicht sein eigenes Skript in seinen funktionalen und dysfunktionalen Teilen entwickeln, ohne es mit einem Episkript zu verknüpfen. Natürlich ist es notwendig, weiter an Miras Trauma zu arbeiten. Im Unterschied zu „normaler“ Traumatherapie geht es bei der Elternpsychotherapie in dieser Variante auch darum, immer wieder die Parallelen zu dem Fühlen, Denken und Handeln des Kindes aufzuzeigen und aktive Strategien für das Loslassen zu entwickeln. Dazu gehört auch, dem Kind in altersangemessener Form vom eigenen Trauma zu erzählen, statt es zu verschweigen.

Das ist gewissermaßen die prophylaktische Variante, mit der wir das Weitergeben der heißen Kartoffel verhindern oder zumindest frühzeitig unterbrechen können. Sie umfasst die Arbeit mit beiden Teilen, der Elternperson und dem Kind, vorzugsweise durch zwei verschiedene Therapeuten, mit einem älteren Kind ist sie auch im Rahmen einer Familienpsychotherapie möglich. Bei der zweiten Varianten, der Arbeit mit dem Menschen, der die heiße Kartoffel übernommen hat, ist der Zugang zur ursprünglich traumatisierten Person in der Regel nicht direkt möglich. Wir begegnen hier einem erwachsenen Menschen, der an einem psychischen Problem leidet, das er als sein eigenes erlebt und dessen Ursprünge in der eigenen Lebensgeschichte gesucht werden. In gewisser Weise stimmt das ja auch, denn schließlich ist es ja sie oder er, der eine Angststörung, Beziehungsprobleme, Schuldgefühle und Scham empfindet. Dort wird die Arbeit natürlich auch ansetzen, wie in jeder anderen Psychotherapie auch.

Von Harald und seinen quälenden Schuldgefühlen habe ich schon gesprochen. In meiner psychotherapeutischen Arbeit suche ich einerseits den Zugang zur Veränderung des gegenwärtigen Fühlens, Denkens und Handelns, andererseits den zu den lebensgeschichtlichen Wurzeln der dysfunktionalen Muster. Hier ein Ausschnitt aus der 12. Stunde, der, in der Harald von der Beschädigung des fremden Autos berichtet.

Therapeut: Die Sache ist also passiert, wie sie passiert ist. Das andere Auto ist beschädigt, das lässt sich nicht mehr rückgängig machen.
Harald: Wenn ich das doch könnte! Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, dann würde ich besser aufpassen!
Therapeut: Das kann niemand. Was geschehen ist, ist geschehen. Und dafür fühlen sie sich schuldig.
Harald: Und wie! Ich würde alles tun, um es wieder gut zu machen.
Therapeut: Das tun Sie ja. Sie zeigen den Schaden an, stehen dafür gerade, entschuldigen sich, melden es Ihrer Versicherung. Ich möchte Ihren Satz umformulieren: Sie würden alles tun, um es ungeschehen zu machen.
Harald: Ja! Das trifft es!
Therapeut: Das ist es, was Schuldgefühle uns suggerieren: wenn ich mich nur lange genug schuldig fühle, wenn ich damit für meinen Fehler büße, dann wird mir meine Schuld erlassen werden.
Harald: Schließlich bin ich sehr katholisch erzogen worden. Wenn man seine Schuld aufrichtig bereut, dann wird sie einem vergeben.
Therapeut: Den Begriff „Schuld“ möchte ich den Theologen und den Juristen überlassen. Ich spreche lieber von Fehlern. Wir machen Fehler, manchmal auch große, und nicht alle lassen sich wieder gut machen. Darüber haben wir Gefühle, denn der Sinn von Gefühlen ist ja, uns bei der Lösung von Problemen zu helfen.
Harald: Aber das tun meine Schuldgefühle nicht. Sie machen alles nur schlimmer.
Therapeut: Vielleicht wären andere Gefühle dabei hilfreicher. Sie haben einen Fehler gemacht, der sich nicht ungeschehen machen lässt. Wenn Sie sich vorstellen, dass Sie sich nicht schuldig fühlen würden, was würden Sie dann fühlen?
Harald: Dann wäre es kein Problem. Ich würde einfach tun, was zu tun ist, und fertig.
Therapeut: Ja, beim Schaden am Auto wäre das wahrscheinlich die beste Lösung. Aber bei einem größeren Fehler, bei etwas, wo es wirklich unwiederbringlich zu spät ist?
Harald: Wie bei meiner Ehe, die ich zerstört habe?
Therapeut: Wie bei ihrer gescheiterten Ehe.
Harald: Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, dass ich mich da nicht bis ans Ende meines Lebens schuldig fühle.
Therapeut: Ich denke, die Schuldgefühle haben eine wichtige psychologische Funktion: sie überdecken ein anderes Gefühl.
Harald: Und was könnte das sein?
Therapeut: Vermutlich Traurigkeit.
Harald: Traurigkeit – ja, meine Exfrau hat immer wieder gesagt, wie traurig sie ist, dass das mit uns vorbei ist. Aber ich habe immer zu mir selbst gesagt: du bist ja selbst schuld, da brauchst du jetzt nicht traurig zu sein.
Therapeut: Das klingt fast so wie ein Leitsatz.
Harald: Ja, ist es auch. Das hat meine Mutter immer gesagt, wenn ich zum Beispiel ein Spielzeug zerbrochen habe.
Therapeut: Hat Ihre Mutter auch Erfahrung mit Schuldgefühlen?
Harald: Das kann man wohl sagen! Das habe ich von ihr gelernt!
Therapeut: Wie meinen Sie das?
Harald: Sie hat ständig gegrübelt, was sie nicht alles falsch gemacht hat. Das tut sie heute noch: ich hätte mich mehr um dich kümmern sollen, dann hättest du jetzt nicht solche Probleme, sagt sie mir. Und dann fühle ich mich wieder schuldig dafür, dass ich ihr solche Sorgen mache.
Therapeut: Das hört sich so an, als ob sie ihr gern die Schuldgefühle abnehmen würden.
Harald: Wenn das möglich gewesen wäre! Vielleicht wäre meine Kindheit dann unbeschwerter gewesen...

Hier sind wir am entscheidenden Punkt, an dem wir der projektiven Identifikation, der heißen Kartoffel begegnen. Harald wollte - und will - die Mutter von ihren Schuldgefühlen entlasten, um selbst besser leben zu können. Er will sie durch einen Akt kindlicher Liebe davon heilen. In der weiteren therapeutischen Arbeit wird es jetzt darum gehen, dass ihm das bewusst wird und er sich innerlich davon trennen kann. Doch wir stoßen hier an einen verwickelten Punkt: das eigene Skript und das Episkript treffen zusammen. Sein ursprünglich eigenes Skript hat ihn als Kind den „Plan“ entwickeln lassen, die Mutter von etwas zu heilen, das sie sehr belastet hat (was immer es auch war). So eine Situation lässt Kinder gerne zu Elternfiguren ihrer eigenen Eltern werden: sie trösten die Muter, kümmer sich rührend um sie, sind brav. All das hat der kleine Harald vermutlich versucht, und es ist auch heute noch Teil seines Skripts: er ist Sozialarbeiter geworden und arbeitet mit Haftentlassenen. Es hat aber auch seine Ehe immer schwieriger gemacht, weil seine Frau sich mehr und mehr bevormundet gefühlt hat. An all diesen Elementen könnten wir mit der klassischen Skriptanalyse in ihren verschiedenen Methoden arbeiten, könnten in die Regression gehen und emotional sein frühes Leid durcharbeiten, so dass er sein Skript neu entscheiden könnte. All das ist in den bisherigen Sitzungen auch schon teilweise geschehen. Doch es kommt noch etwas dazu: aufgepfropft auf sein eigenes Skript sitzt als Episkript das seiner Mutter, das er für sie lösen möchte. Wie in Fanita Englishs drastischem Bild ist es wie ein Krebsgeschwür mit den Organen verwachsen. Doch wie operieren wir es heraus?
Harald will seine Mutter heilen. Doch es geht schon längst nicht mehr um die tatsächliche Person, die diese Frau heute ist, es geht um seine innere Mutter, die Mutter, die sie in seiner Kindheit war. In der Transaktionsanalyse sprechen wir von drei Zuständen des Ich: dem Kindheits-Ich, in dem unsere früheren Erfahrungen, Verletzungen und Abwehrstrategien gespeichert sind. Im Eltern-Ich ist das gespeichert, was wir von unseren Eltern und anderen wichtigen Bezugspersonen erlebt haben: die Verbote und Gebote, Konstruktives, Einschränkendes und auch Verletzendes. Das Erwachsenen-Ich ist der Ich-Zustand, aus dem wir unser Leben dem Hier und Jetzt angemessen im Fühlen, Denken und Handeln führen können, indem wir unsere Lebensgeschichte und die äußeren Einflüsse auf uns integrieren. Das Skript wird unbewusst vom Kindheits-Ich her gesteuert, beeinflusst durch das Eltern-Ich. Die meiste transaktionsanalytische psychotherapeutische Arbeit soll helfen, das Kindheits-Ich von elterlichen Einflüssen zu befreien, um so das Erwachsenen-Ich zu stärken. Das Episkript ist aber ein Sonderfall: in dem Akt der projektiven Identifikation wird die Elternperson quasi als Ganzes     
nach innen übernommen, introjiziert. Wenn wir das Episkript vom Skript lösen wollen, müssen wir uns mit dieser inneren Elternfigur befassen. Wir müssen sozusagen Haralds innere Mutter heilen, um Harald frei zu machen für seine eigene Heilung. Diesen Vorgang nennen wir in der Transaktionsanalyse „Arbeit mit dem Eltern-Ich“, und er ist der zweite Teil der Elternpsychotherapie. Methodisch gesehen bedeutet das, dass der Patient eingeladen wird, seine Mutter oder sein Vater „zu sein“ (eine Technik, die der Gestalttherapie entstammt). Haralds Mutter heilen, also seine innere Mutter,sein Eltern-Ich heilen – warum nicht?
Sehen wir uns das an Haralds Beispiel an.

Therapeut: Ich schlage Ihnen etwas vor, Harald. Ich möchte gerne mit Ihrer Mutter sprechen.
Harald: Wie soll das gehen? Glauben Sie, dass Sie herkommen würde?
Therapeut: Nein, ich habe mich missverständlich ausgedrückt. Ich möchte mit Ihrer inneren Mutter sprechen, mit der, die Sie selbst in sich drin haben und die immer noch zu Ihnen sagt: du bist ja selbst schuld, da brauchst du jetzt nicht traurig zu sein.
Harald: Wie stellen Sie sich das vor?
Therapeut: Sie nehmen für einige Minuten die Rolle Ihrer Mutter ein. Vielleicht wechseln Sie dazu auf den anderen Stuhl, damit wir sie und Harald auseinander halten können. Eine Frage noch vorher: wie heißt Ihre Mutter mit Vornamen?
Harald: Elisabeth.
Therapeut: Gut. Sind Sie einverstanden mit meinem Vorschlag?
Harald: Probieren können wir es ja. (Er wechselt den Stuhl.)
Therapeut (nach einer Pause): Guten Tag, Elisabeth. Schön, Sie kennenzulernen.
Harald (als Elisabeth): Ja. Hallo. Mein Sohn hat mir schon von Ihnen erzählt.
Therapeut: Mir auch von Ihnen. Das ist auch genau der Grund, warum ich gerne mit Ihnen reden möchte. Harald hat mir erzählt, dass Sie, als er ein Kind war, sehr unter Schuldgefühlen gelitten haben – genau wie er heute. Und dass er sie Ihnen am liebsten abgenommen hätte, weil seine Kindheit dadurch unbeschwerter geworden wäre.
Harald (als Elisabeth): Ja, das hätte ich auch gerne gehabt. Die Schuldgefühle loswerden, meine ich.
Therapeut: Das kann ich mir gut vorstellen. Menschen, besonders Kinder, fühlen sich ja oft schuldig für Dinge, an denen sie gar keine Schuld haben.
Harald (als Elisabeth): Nein, mit meiner Kindheit hat das nichts zu tun. Oder nicht so viel.
Therapeut: Wie meinen Sie das?
Harald (als Elisabeth): Darüber möchte ich nicht so gerne reden. Das ist ein dunkles Geheimnis.
Therapeut: Ja, die gibt es im Leben von vielen Menschen.
Harald (als Elisabeth): Aber nicht viele Menschen werden schuldig.
Therapeut: Vielleicht mehr als Sie glauben. Und die meisten befreit es, von Ihrer Schuld zu reden.
Harald (als Elisabeth) (unsicher): Glauben Sie? Wie bei einer Beichte?
Therapeut: Ungefähr so. Aber nicht durch das Erteilen einer Absolution. Ich bin kein Priester.
Harald (als Elisabeth): Wissen Sie, ich habe Harald erst relativ spät bekommen. Da war ich schon über dreißig.
Therapeut: Er ist Ihr einziges Kind.
Harald (als Elisabeth): Ja. Eigentlich hat es immer geheißen, ich könnte keines bekommen, weil...
Therapeut: Ja?
Harald (als Elisabeth): Weil es meine Strafe gewesen wäre.
Therapeut: Strafe?
Harald (als er selbst): Das kann nicht sein. Nein, das ist nur so ein Einfall von mir.
Therapeut: Das sagen Sie jetzt wieder als Harald?
Harald: Ja.
Therapeut: Dann wechseln Sie bitte wieder den Stuhl .
Harald (wechselt) Da war so spontan etwas da - aber das bilde ich mir sicher nur ein.
Therapeut: Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Wir nehmen von unseren Eltern oft unbewusst mehr Information auf, als sie uns verbal wirklich mitteilen. Lassen Sie uns annehmen, dass es tatsächlich so ist.
Harald: Das wäre –
Therapeut: Wollen Sie als Elisabeth weiterreden?
Harald: Ja. (er wechselt den Stuhl wieder)
Therapeut: Wir waren bei der Strafe.
Harald (als Elisabeth): Sie haben ja keine Ahnung, was ich getan habe.
Therapeut: Wollen Sie darüber reden? Es ist lange her, und was immer es ist, haben Sie mit Ihren Schuldgefühlen genug gebüßt.
Harald (als Elisabeth): Nein, dafür ist es niemals genug.
Therapeut: Das ist Ihre Ansicht, die respektiere ich. Aber es ist so, dass auch Harald weiter büßt - für etwas, das vermutlich vor seiner Zeit liegt.
Harald (als Elisabeth): Lange vor seiner Zeit. Nein, ich will nicht, dass er unter meiner Schuld leidet. Wissen Sie, ich war sehr jung damals. Nicht ganz siebzehn.
Therapeut: Wann sind Sie geboren, Elisabeth:
Harald (als Elisabeth): 1945.
Therapeut: Wir sprechen also vom Jahr 1962.
Harald (als Elisabeth): Genau. Ich wusste gar nichts vom Leben damals. Gar nichts. Uns hat ja keiner aufgeklärt. Ich wusste gar nicht wirklich, wie man schwanger wird und wie man es nicht wird.
Therapeut: Ja.
Harald (als Elisabeth): Ich war so verliebt. Aber... er... es ging einfach nicht.
Therapeut: Es ging nicht?
Harald (als Elisabeth): Er war doch mein Lehrer. Es war verboten. Er war viel älter als ich.
Therapeut: Und sie sind schwanger geworden.
Harald (als Elisabeth): Es war so schrecklich! Ich konnte es niemandem sagen, meinen Eltern schon gar nicht. Die hätten mich aus dem Haus gejagt. Mein Vater hat immer gesagt: wehe, du kommst mir mit einem Kind nach Hause.
Therapeut: Sie waren ganz alleine damit. Und der Vater des Kindes?
Harald (als Elisabeth): Der war ja verheiratet und hat selbst Kinder gehabt. Er hat gesagt, das geht nicht. Wir können dieses Kind nicht kriegen.
Therapeut: Und sie?
Harald (als Elisabeth): Was hätte ich denn tun sollen? Wie hätte ich es denn kriegen sollen? (beginnt zu weinen) Oh, hätte ich es nur bekommen! Ich habe doch nicht gewusst, dass ich es ein Leben lang nicht vergessen werde.
Therapeut: Sie haben Ihr Kind verloren.
Harald (als Elisabeth): Verloren? Umgebracht habe ich es! Abgetrieben! Er hat einen Arzt gekannt, das war, glaube ich, sein Onkel, aber der hat das völlig verpfuscht. Die Blutungen haben nicht aufgehört, und ich musste ins Krankenhaus. Die haben natürlich gewusst, was los ist, und haben mich behandelt wie eine Verbrecherin.
Therapeut: Die Sie nicht waren.
Harald (als Elisabeth): Doch. Es war ja verboten, damals.
Therapeut: Deswegen waren Sie keine Verbrecherin. Sie waren nur ein ratloses, hilfloses und überfordertes junges Mädchen, das, wenn man es gelassen hätte, ihr Kind sehr gerne geboren hätte.
Harald (als Elisabeth) (weint heftig): Oh ja! Ich glaube, es wäre ein Mädchen geworden. Jedes Jahr muss ich an dem Tag, an dem sie geboren worden wäre, denken: heute ist ihr Geburtstag. Heute wäre mein Mädchen soundso alt geworden. 53 wäre sie heute schon...
Therapeut: Haben Sie ihr einen Namen gegeben, Ihrer verlorenen Tochter?
Harald (als Elisabeth): Ja. Helene hätte sie geheißen, wie meine Großmutter.
Therapeut: Nicht hätte. Sie heißt Helene.
Harald (als Elisabeth) (weint): Und sie wäre Haralds große Schwester geworden. Sie fehlt mir so! Ich hätte sie nie hergeben dürfen. Es ist meine Schuld, dass sie tot ist.
Therapeut: Nach meinen Maßstäben nicht. Natürlich ist es in Ihrer Verantwortung gewesen - in der Verantwortung eines sehr jungen, sehr hilflosen Mädchens, das keinen anderen Ausweg hatte. Viel größer ist die Verantwortung des Mannes, der der Vater des Kindes ist. Und das in dreifacher Hinsicht: er hat Sie verführt, er hat sich nicht um Empfängnisverhütung gekümmert, und er hat Sie zur Abtreibung gedrängt. Und dann hat er Sie wahrscheinlich sitzen gelassen.
Harald (als Elisabeth): Ja, hat er. Er ist mir aus dem Weg gegangen, und ich bin in der Schule so schlecht geworden, dass ich sie vor der Matura beenden musste.
Therapeut: Es war also auch niemand da, der Sie danach getröstet und Ihnen in Ihrer Trauer geholfen hat.
Harald (als Elisabeth): Niemand.
Therapeut: Sie haben ein schweres Trauma erlebt, Elisabeth. Das ist eine Abtreibung für viele Frauen. Man verliert ein Kind, und man fühlt sich auch noch schuldig dafür. Und das ist beides sehr, sehr traurig.
Harald (als Elisabeth): Aber ich habe doch kein Recht, traurig zu sein! Es war doch meine Schuld!
Therapeut: Doch, Elisabeth. Alles Recht dieser Welt, das eine Mutter hat, um ihr Kind zu trauern. Um Ihre kleine Helene, die Sie verloren haben.
Harald (als Elisabeth): Sie wäre jetzt schon selbst Mutter. Vielleicht Großmutter. Alles wäre anders gelaufen, mein ganzes Leben.
Therapeut: Und auch Haralds Leben.
Harald (als Elisabeth): Es ist alles so traurig. So trostlos.
Therapeut: Ja. Es ist schrecklich traurig.
Harald (als Elisabeth) (beginnt zu weinen): Meine arme kleine Helene! Weißt du, ich vermisse Dich jeden Tag. Und ich träume immer noch von Dir. Du bist geboren worden, und du bist gewachsen. Das träume ich immer wieder, und wenn ich aufwache, fühle ich mich so schuldig.
Therapeut: Und unter den Schuldgefühlen sind Sie traurig.
Harald (als Elisabeth): Ja. Sehr, sehr traurig. (Pause) Danke.
Therapeut: Danke für das berührende Gespräch, Elisabeth. – Wollen Sie wieder Sie selbst sein, Harald, und auf den anderen Stuhl wechseln?
Harald: Ja. (wechselt)
Therapeut: Wie geht es Ihnen jetzt?
Harald: Das war - ungeheuerlich. Ich habe immer das Gefühl gehabt, sie verheimlicht etwas vor mir. Immer wieder hat es so merkwürdige Andeutungen gegeben wie: wenn du eine große Schwester hättest... Und jedes Jahr im November, da hat es so einen merkwürdigen Tag gegeben, da sind Kerzen angzündet worden, und meine Mutter hat geweint, aber mir nicht erzählt, was los ist. Aber vielleicht war es ja nur eine Fehlgeburt.
Therapeut: Vielleicht. Das werden wir nie erfahren. Aber was wir jetzt haben, ist eine Erklärung für Ihre Schuldgefühle.
Harald: Soll ich mit ihr darüber sprechen?
Theapeut: Wäre das für Sie notwendig?
Harald: Nein, eigentlich nicht. Ich verurteile Sie nicht dafür. Es tut mir Leid für sie. Und auch für mich. Ich hätte gerne eine große Schwester gehabt.

Natürlich ist das, was Harald da aus seinem Eltern-Ich, als seine innere Mutter, erzählt hat, nicht die objektive und absolute Wahrheit. Es ist das, was er unbewusst als Erklärung für die Schuldgefühle seiner Mutter kombiniert und als „wahr“ verinnerlicht hat. Im Eltern-Ich sind ja nicht reale Personen gespeichert, sondern unsere Eltern, wie wir sie als Kinder erlebt haben, mit allen Verzerrungen, undifferenziert und unrelativiert, wie Kinder eben fühlen und denken müssen.

Haralds Schuldgefühle sind nicht durch diese berührende Arbeit mit seiner inneren Mutter wie auf einen Schlag weggeblasen, dazu sind sie zu tief als verfestigtes Muster eingegraben. Aber er kann anders damit umgehen. Das berichtet er auch einige Sitzungen später:

Harald: Ich fühle mich jetzt weniger oft schuldig, und wenn, dann mache ich mir zwei Sachen klar: erstens - es sind nicht meine wirklichen eigenen Gefühle, sondern die, die ich mir von meiner Mutter abgeholt habe. Und zweitens: geht es wirklich um Schuld, oder eigentlich um etwas Trauriges? Ich habe mich letzte Woche mit meiner Exfrau getroffen und habe ihr gesagt, dass ich sehr traurig darüber bin, dass es mit uns vorbei ist. Dass das kein Versuch ist, wieder mit ihr zusammenzukommen, das ist vorbei, aber dass ich einfach traurig darüber bin, dass es gekommen ist, wie es gekommen ist. Und sie hat meine Hand genommen und gesagt: ich auch!
Das war ein sehr schöner Moment.

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