29 "Du bist der Mensch meines Lebens!" Wenn Paare sich finden - Intuition und der unbewusste Lebensplan.

Hauptvortrag auf der Paartagung 2016 des VPA

Wien, Oktober 2016

Bürgerliches Wohnzimmer. Der Hausherr sitzt im Sessel, hat das Jackett ausgezogen, trägt Hausschuhe und döst vor sich hin. Hinter ihm ist die Tür zur Küche einen Spalt breit geöffnet. Dort geht die Hausfrau emsiger Hausarbeit nach. Ihre Absätze verursachen ein lebhaftes Geräusch auf dem Fliesenboden.

Sie: Hermann...
Er: Ja...
Sie: Was machst du da?
Er: Nichts...
Sie: Nichts? Wieso nichts?
Er: Ich mache nichts...
Sie: Gar nichts?
Er: Nein...
(Pause)
Sie: Überhaupt nichts?
Er: Nein...Ich sitze hier.
Sie: Du sitzt da?
Er: Ja.
Sie: Aber irgendwas machst du doch?
Er: Nein...
(Pause)
Sie: Denkst du irgendwas?
Er: Nichts Besonderes...
Sie: Es könnte ja nichts schaden, wenn du mal etwas spazierengingest.
Er: Nein - Nein...
Sie: Ich bringe dir deinen Mantel...
Er: Nein danke...
Sie: Aber es ist zu kalt ohne Mantel...
Er: Ich gehe ja nicht spazieren...
Sie: Aber eben wolltest du doch noch...
Er: Nein, du wolltest dass ich spazierengehe...
Sie: Ich? Mir ist es doch völlig egal, ob du spazierengehst...
Er: Gut...
Sie Ich meine nur, es könnte dir nicht schaden, wenn du mal spazierengehen würdest...
Er: Nein, schaden könnte es nicht...
Sie: Also was willst du denn nun?
Er: Ich möchte hier sitzen...
Sie: Du kannst einen ja wahnsinnig machen...
Er: Ach...
Sie: Erst willst du spazieren gehen...dann wieder nicht....dann soll ich deinen Mantel holen...dann wieder nicht...was denn nun?
Er: Ich möchte hier sitzen...
Sie: Und jetzt möchtest du plötzlich da sitzen...
Er: Gar nicht plötzlich...Ich wollte immer nur hier sitzen...und mich entspannen...
Sie: Wenn du dich wirklich entspannen wolltest würdest du nicht dauernd auf mich ein-reden...
Er: Ich sag ja nichts mehr...
(Pause)
Sie: Jetzt hättest du doch mal Zeit, irgendwas zu tun, was dir Spaß macht...
Er: Ja...
Sie: Liest du was?
Er: Im Moment nicht...
Sie: Dann lies doch mal was...
Er: Nachher, nachher vielleicht...
Sie: Hol dir doch die Illustrierten...
Er: Ich möchte erst noch etwas hier sitzen...
Sie: Soll ich sie dir holen?
Er: Nein-nein, vielen Dank...
Sie: Will der Herr sich auch noch bedienen lassen, was ?
Er: Nein, wirklich nicht
Sie: Ich renne den ganzen Tag hin und her...du könntest doch wohl einmal aufstehen und dir die Illustrierten holen
Er: Ich möchte jetzt nicht lesen...
Sie: Dann quengle doch nicht so rum...
Er: (schweigt)
Sie: Hermann!
Er: (schweigt)
Sie: Bist du taub?
Er: Nein - nein...
Sie: Du tust eben nicht, was dir Spaß macht...statt dessen sitzt du da!
Er: Ich sitzt hier, weil es mir Spaß macht...
Sie: Sei doch nicht gleich so aggressiv...
Er: Ich bin doch nicht aggressiv...
Sie: Warum schreist du mich dann so an?
Er: (schreit)...Ich schreie dich nicht an!!
Aus: Loriot, Szenen einer Ehe in Wort und Bild

Warum mögen die beiden vor Jahrzehnten geheiratet haben? Aus Liebe? Weil sie so gut zusammengepasst haben? Kaum zu glauben. Der vorherige Vortrag von Bettina und Hans Jellouschek hat uns die Grenzen gezeigt, die einem Paar im Laufe seines Lebens nach außen zieht und die ihm gezogen werden. Ich will mich hier mit den Grenzen beschäftigen, die ein Paar nach innen errichtet, mit denen es sich voneinander abschottet und entfremdet. Dieser Sketch von Loriot aus der Reihe „Szenen einer Ehe in Wort und Bild“ zeigt uns das sehr deutlich.

Greifen wir die Szene auf, die Berta und Hermann uns da vorspielen. Wenn - vielleicht unwahrscheinlich, vielleicht auch nicht - die beiden zur Paartherapie oder zur Paarberatung kämen, wenn wir ihnen naiv und nicht sehr professionell die Frage stellen würden: Warum sind Sie denn noch zusammen? - dann würden die beiden vermutlich das antworten, was viele Menschen in einer verfahrenen Beziehungssituation antworten: weil ich ihn doch noch liebe. Weil sie ja meine Frau ist. Weil es doch einmal schön war. Weil das die Liebe meines Lebens ist. Weil wir einfach perfekt zusammengepasst haben.

Und passen sie nicht auch „perfekt“ zusammen? Ist es nicht ein ausgewogenes psychologisches Spiel, das die beiden da vorführen? Ergänzen sie sich nicht hervorragend darin, einander das zu beweisen, was sie ohnehin schon wissen (oder zu wissen glauben), nämlich: meine Bedürfnisse sind nicht wichtig. Ich bin nicht wichtig. Und auch dieser Tag endet - wie so viele im Paarleben der beiden - mit den gleichen Empfindungen: Missmut, Enttäuschung, Hilflosigkeit, Ärger und Unverständnis. Wenn wir sie bitten würden, das Ergebnis ihres Geplänkels zu resümieren, würden sie wahrscheinlich beide sagen: Er versteht mich einfach nicht. Ist es denn zu viel verlangt, ein bisschen mit mir zu sprechen? Sie versteht mich einfach nicht. Ist es denn zu viel verlangt, ein wenig meine Ruhe haben zu dürfen?

Bei beiden stecken ja ganz normale Bedürfnisse hinter ihrem Verhalten. Berta will in Kontakt mit ihrem Mann kommen. Sie hat den ganzen Tag im Haushalt verbracht und möchte sich jetzt austauschen. Hermann hat sich im Büro den ganzen Tag um die Bedürfnisse anderer Menschen gekümmert, die seiner Kunden, seiner Vorgesetzten, seiner Kollegen. Jetzt will er für sich sein. Mit anderen Worten: sie will Nähe, er will Distanz. Beides sind menschliche Grundbedürfnisse, nur können sie anscheinend nicht zur gleichen Zeit befriedigt werden, vor allem  dann nicht, wenn die beiden sie so artikulieren. Und beide brauchen natürlich nicht nur das eine - Nähe oder Distanz. Wir alle brauchen beides, unser ganzes Leben lang, in einem ausgewogenen Verhältnis.

Spinnen wir die Geschichte von Berta und Hermann weiter. Entwickeln wir das Szenario einer Paartherapie mit den beiden. In der ersten Sitzung könnten wir uns vorstellen, dass der Therapeut zu ihnen sagt:

Therapeut: Sie haben jetzt sehr anschaulich Ihre Probleme aus der jeweiligen Sicht dargestellt. Könnte man zusammenfassend sagen: Sie erleben beide, dass der andere sie nicht versteht?
Berta: Natürlich versteht er mich nicht. Das geht doch nicht, dass er mir einfach keine Antworten gibt und dass er immer nur will, dass ich auf ihn Rücksicht nehme. Einmal ist ihm das Frühstücksei zu hart, ein andermal will er einfach nur dasitzen und nicht reden, und ich soll alle seine Wünsche erfüllen. Immer bin ich nur für ihn da, seit bald vierzig Jahren!
Hermann: Verstehen? Die versteht immer nur sich selbst, immer ist sie im Recht. Was ich will, spielt keine Rolle. Immer kriege ich zu hören, was sie denn nicht alles für mich macht. Und ich? Mache ich denn nichts? All die Jahre habe ich das Geld herangeschafft, auch damals, als es mit dem Geschäft bergab ging und ich mir einen Job als Klinkenputzer suchen musste.
Therapeut: Ja, es scheint vieles zu geben, was Sie trennt. Aber ich sehe auch Gemeinsamkeiten.
Berta: Gemeinsamkeiten? Die Kinder vielleicht, aber die sind längst groß. Und wir bewohnen das gleiche Haus. Aber sonst?
Hermann: Wir haben ein gemeinsames Konto. Aber das meiste davon gibst du aus.
Berta: Für dein Bier und dein Essen und dein Kabelfernsehen!
Therapeut: Ich sehe zwei Gemeinsamkeiten. Die eine ist, dass Sie gemeinsam zu mir gekommen sind, um Lösungen für Ihre Beziehung finden. Und die zweite, die Ihnen vielleicht widersprüchlich vorkommen wird: Sie erleben sich beide unverstanden und alleine. Da geht es Ihnen ganz ähnlich.
Hermann: Wie jetzt? Sie hat doch gar keinen Grund dafür!
Berta: Na und ob!
Therapeut: Beide haben Sie Ihre Gründe dafür. Und wenn ich mir die Szene ansehe, die Sie mir da erzählt haben: beide verstehen Sie den anderen ja auch nicht und zeigen es ihm auch. Man könnte sogar sagen: da passen Sie perfekt zusammen.
Berta: Im Schlechten. Ja, das wird wohl so sein. Nicht mehr im Guten, so wie früher.
Hermann: Sie meinen, nicht nur sie versteht mich nicht, sondern ich sie auch nicht?
Therapeut: Ich meine, dass Sie es einer der anderen und die andere dem einen schwermachen, Sie zu verstehen.

Wie soll Hermann verstehen, dass Berta sich mit ihm unterhalten will, wenn sie Interpretationen und Anweisungen von sich gibt: „Irgendwas machst du doch!“, „Es könnte ja nicht schaden, wenn du spazieren gingest!“ Und wie soll Berta verstehen, dass Hermann seinen Gedanken nachhängen will, wenn er nur sagt: „Nichts!“ oder „Ich sitze hier.“ Beide scheinen sie zu signaliserien: Ich möchte, dass du mich verstehst - aber ich will dich nicht verstehen. Und mit langjähriger Erfahrungen und mehr noch, mit Intuition wissen sie genau, wie sie es dem anderen am allerschwersten machen können, zu verstehen. Hermann - wir werden noch sehen, warum - hasst es, wenn man ihm sagt, was er tun, denken und fühlen soll. Das engt ihn ein, es erlaubt ihm nicht, er selbst zu sein. Und für Berta - auch bei ihr werden wir noch sehen, warum - ist es unerträglich, mit Schweigen oder Einsilbigkeit abgespeist zu werden. Dann ist sie im Unklaren über sich und ihre Beziehungen zu anderen Menschen. Ohne das bewusst zu wollen, verletzt Berta Hermann und Hermann verletzt Berta - und zwar, wie gesagt, intuitiv und zielgerichtet an sehr, sehr alten Wunden, an Wunden, die weiter zurückreichen als die vierzig Jahre, die die beiden schon ein Paar sind.

Drehen wir das Rad der Zeit um mehr als ein halbes Jahrhundert vor die Szene zurück, die wir gesehen haben. Stellen wir uns vor, wie die Kindheit von Berta und Hermann ausgesehen haben könnte. Zugegeben, das könnte reine Fantasie sein - aber ist es das? Rührt dieser gar nicht besonders überzeichnete Sketch nicht etwas in unserem Unbewussten an, das uns hilft, ein Bild davon zu erhalten, wie die beiden sich zu dem entwickelt haben könnten, wie sie sich heute geben?

Hermann ist ein Kind der Nachkriegszeit. Sein Vater kam vielleicht spät aus Krieg und Gefangenschaft zurück. Seine Mutter hatte diesen Mann nie wirklich kennengelernt, die beiden verliebten sich sehr jung, kurz bevor er einberufen wurde. Jahrelang hatte sie ihn auf Fronturlaub gesehen, und dann lange gar nicht mehr. Als er dann endlich heimkam, war er ein Fremder für sie. Er erzählte nichts über diese Zeit und stürzte sich sofort in Arbeit. Nach zwei Jahren eröffnete er vielleicht eine kleine Gemischtwarenhandlung, die ihn nahezu rund um die Uhr in Anspruch nahm. Auch seine Frau wird wohl hart mitgearbeitet haben. Vielleicht hatte sie Fehlgeburten, bis endlich Hermann zur Welt kam, der ein kränkliches Kind war. All die Fürsorge seiner Mutter richtete sich nun auf ihn, all die Liebe, die ihr von ihrem Mann fehlte, wollte sie sich in der Beziehung zu ihrem Kind erfüllen. Und sie war von ständiger Angst erfüllt, sie könnte ihn wieder verlieren, so, wie sie schon vieles verloren hatte.

Hermann könnte dazu erzählen: „Sie hat mich unglaublich verwöhnt und war unglaublich besorgt. Beim leisesten Lüftchen im September zog sie mich warm an, als ob es tiefer Winter gewesen wäre. Sie holte mich noch mit zehn täglich von der Schule ab und brachte mich hin, obwohl es nur ein kurzer Fußweg war. Ich durfte nicht mit den anderen Kindern im Hof spielen, ich durfte nicht radfahren, alles war zu gefährlich. Und natürlich war ich dick, weil sie mich überfüttert hat, damit ich nur ja gesund und kräftig würde. Wenn ich in mein Zimmer ging, um zu lesen, kam sie mir nach: Hermann, brauchst du nicht etwas? Sollen wir vielleicht etwas spielen? Oder spazierengehen? Die Luft würde dir guttun, sitz doch nicht immer im Zimmer herum! Ich weiß, dass sie das alles aus Liebe getan hat, aber es war schon manchmal schwer zu ertragen.“

Im therapeutischen Gespräch (während Berta aufmerksam zuhören würde) ginge das dann vielleicht so weiter:

Therapeut: Und wie fühlt sich das an für diesen kleinen Jungen?
Hermann: Trostlos. Unverstanden.
Therapeut: Und gibt es noch Gefühle unter diesem trostlosen Unverstandensein?
Hermann: Weiß nicht. Vielleicht.
Therapeut: Sie ballen gerade die Fäuste und haben eine tiefe Falte auf der Stirn.
Berta: So, wie wenn du mich anschreist!
Hermann: Ich schreie dich nicht an! (beide lachen in plöztlichem Erkennen)

Und Berta? Sie kam vermutlich einige Jahre nach Hermann als die älteste von, nehmen wir an, drei Schwestern zur Welt. Ihre Eltern bauten sich wohl mühsam in vielen Jahren mit eigenen Händen ein Häuschen, und Berta musste sich vermutlich schon füh um die Jüngeren kümmern.

Ihre Erzählung könnte sich so anhören: „Das Haus, das war das Einzige, was zählte. Kann ich ja verstehen, beide mussten nach dem Krieg aus dem Sudetenland flüchten und haben alles verloren, was sie hatten. Sie wollten raus aus dieser Armut und Besitzlosigkeit. Der Vater ist nach der Arbeit in der Fabrik noch täglich auf der Baustelle gewesen bis spät abends, und wenn er heimkam, ist er nur stumm herumgesessen, bis ihm die Augen zufielen. Die Mutter war körperlich völlig überfordert, und dann ist auch noch ihre Krankheit dazugekommen. Sie hatte schweres Rheuma, jede Bewegung machte ihr Schmerzen. Sie ist dann auch früh gestorben, da war ich erst fünfzehn. Dann war ich die Mama für meine kleinen Schwestern. Aber glauben Sie, mein Vater hat das je anerkannt, was ich alles für die Familie getan habe? Auf meine ganze Jugend habe ich verzichtet! Wenn die anderen Mädels tanzen gegangen sind, dann habe ich gewaschen, gebügelt, geputzt, gekocht.“

Wieder im - möglichen - therapeutischen Gespräch könnte das vielleicht so weitergehen:

Therapeut: Und was für Gefühle sind das, die dieses junge Mädchen hat, das so um ihre Jugend betrogen wird?
Berta: Na ja, das war halt so. Was wäre mir anderes übriggeblieben?
Therapeut: Gar nichts, das verstehe ich. Aber wie fühlt es sich an?
Berta: Einsam vielleicht? Unverstanden? Man hätte halt manchmal gern jemanden zum Reden gehabt, der einen versteht. Der auch antwortet und nicht nach fünf Minuten einschläft.
Hermann: Berta! Ich schlafe doch nicht ein!
Berta: Ja, aber nur, weil ich dich dauernd etwas frage!

Zugegeben, man könnte sagen, die Geschichten sind frei erfunden. Sie bestehen aus dem, was meine Intuition, mein Unbewusstes mir erzählt, wenn ich den beiden bei ihrem Streit zusehe.

Hier sind also zwei Menschen am Anfang ihres Lebens. Beide wachsen sie unter Bedinungen auf, die ihre Autonomie, ihre Eigenständigkeit deutlich einschränken. Die Welt, in der sie leben, ist an sich schon eingeschränkt: Krieg, Nachkriegszeit, Armut, Vertreibung, Flucht, unermüdlicher Wiederaufbau, Fehlgeburten, Krankheit und Tod formen ihre Eltern und damit auch die Kinder dieser - meiner - Generation. Doch von diesem Hintergrund wissen der kleine Hermann und die kleine Berta natürlich nichts, und vor allem können sie ihn nicht verstehen. Sie erleben Eltern, die ihnen nicht ausreichend Liebe, Nähe und Distanz, Verständnis und Selbstständigkeit geben.

Bertas Vater ist überarbeitet, von Sorgen niedergedrückt, für seine Tochter so gut wie unerreichbar. Ihre Mutter ist schwer krank und stirbt schließlich; niemand ist da, der verstehen könnte, wie es diesem kleinen und später jungen Mädchen geht, was sie brauchen würde. Sie muss viel zu früh erwachsen werden. Sie versteht diese Situation als „Botschaften“ oder Befehle an sie, die man zusammenfassen könnte als „Sei nicht wichtig!“ und „Sei kein Kind!“

Hermanns Mutter lebt an der Seite eines Mannes, der ihr fremd ist und der sich vor seinen schrecklichen Erinnerungen in die Arbeit flüchtet. Sie ist einsam und durch ihre Fehlgeburten von unaufhörllichen Ängsten gequält. Hermann fühlt sich durch ihre Liebe eingeengt und erdrückt. Seine Bedürfnisse zählen nicht, keiner kann verstehen, dass er einfach ein normales Kind sein will. Die Botschaften, die er empfängt, könnten „Sei nicht so, wie du bist!“ und auch „Sei nicht wichtig!“ heißen. Sein Vater baut mit dem Geschäft sein Lebenswerk auf, sein größter Wunsch ist, dass Hermann mithelfen und schließlich sein Nachfolger werden wird. Hermanns eigene Wünsche zählen nicht.

Hermanns und Bertas Eltern vermitteln diese Botschaften ihren Kindern nicht explizit und bewusst. Die beiden leben in einer kindlichen Welt, in der sie die Realität nur wenig bis gar nicht überprüfen und differenzieren können. Das Verhalten ihrer Eltern deuten sie als diese Grundbotschaften, die sie natürlich auch nicht in dieser in Erwachsenensprache verbalisierten Form denken. Sie verstehen sie emotional so. In der Transaktionsanalyse nennen wir sie „Skriptbotschaften“ oder auch „Einschärfungen“. Auf ihrer Grundlage muss das Kind lernen zu leben oder auch zu überleben, und dafür braucht es so etwas wie einen Plan, einen Lebensplan, ein Skript. Dieses Skript ist eine kreative Leistung, mit deren Hilfe das Kind versucht, in dieser einschränkenden Welt möglichst gut zurechtzukommen. Er - der Lebensplan - ist zu diesem Lebenszeitpunkt höchst sinnvoll und funktional. Erst viel später, im Erwachsenenleben, werden viele seiner Aspekte dysfunktional werden.

In meinem Buch „Trennung oder Neubeginn - Hilfe für Paare in der Krise“ habe ich, aufsetzend auf diesem ersten Bauelemt des Skripts (den Grundbotschaften), vier weitere Elemente entwickelt, aus denen sich das Gebäude des Skripts zusammensetzt.
 
In der Gefühlswelt des kleinen Hermann und der kleinen Berta revoltiert es natürlich gegen diese Botschaften: sie wollen ja beide wichtig sein und in ihren Bedürfnissen ernstgenommen werden wie jeder Mensch, Hermann will heranwachsen und nicht wie ein Kleinkind behandelt werden, er will seinen eigenen Weg im Leben finden und so sein dürfen, wie er ist. Berta will ein Kind und ein junges Mädchen sein dürfen und nicht vernünftig wie eine kleine Erwachsene sein müssen. Aber das nützt ihnen nichts. Sie müssen einen Weg finden, damit umzugehen. Es muss wohl eine Art Naturgesetz sein, das nicht hinterfragt werden kann. Es ist eben so, dass sie nicht wichtig sein dürfen, dass ihre Bedürfnisse nicht zählen. Und es wird wohl immer so bleiben. Mit dieser Erkennntis wird die Welt etwas erträglicher: es ist eben Gesetz, dass meine Bedürfnisse weniger zählen als die der anderen. Schön ist das nicht, aber ich muss lernen damit zu leben. Glaubenssätze über mich selbst, über die anderen und über das Leben und die Welt sind das zweite Bauelement des Skripts.

Hermann und Berta haben damit als die kleinen Kinder, die sie sind, eine unglaubliche kognitive Leistung erbracht: sie haben Gesetzmäßigkeiten in der Beziehungswelt entdeckt, mit denen sie leben müssen. Aber so einfach ist das nicht: die frustrierenden Umstände, die sie da erkannt haben, machen Gefühle. Hermann ist ägerlich, manchmal auch wütend darüber, dass seine Mutter ihn so einengt. Natürlich versucht er, das zu zeigen - er wehrt sich, er begehrt auf. Doch da hört er seine Mutter sagen: „Aber Hermann, wer wird denn so zornig sein? Da ist die Mama aber sehr traurig! Schau, ich will doch nur das Beste für dich!“ Und Berta spürt immer wieder, dass sie tief traurig ist - darüber, dass sie kein Kind sein darf, dass ihre Mutter so krank ist, dass sie ihren Vater nicht erreichen kann. Doch was kann sie damit schon erreichen? Die Mutter sagt: „Heul nicht herum, was sollte ich denn sagen? Mir geht es viel schlechter als dir!“ Und der Vater schaut unwillig und schweigt. Beide Kinder bleiben auf ihren Gefühlen sitzen, sie sind nicht hilfreich, im Gegenteil: alles wird noch viel schlimmer und sie erleben erst recht, dass ihre Bedürfnisse nicht wichtig sind. Sie müssen also einen Weg finden, diese Gefühle abzuwehren. Es gibt eine Menge von Abwehrmechanismen. Freuds Tochter Anna hat sie ausführlich beschrieben, Verdrängung, Spaltung, Projektion, Identifikation und viele mehr. In der Entstehung und im Ausleben des Skripts ist einer besonders wichtig: das Ersetzen unerwünschter Gefühle durch andere, erwünschte. Fanita English, eine der bedeutendsten Transaktionsanalytikerinnen, die heuer 100 Jahre alt wurde, nennt das Ersatzgefühle. Sie sind das dritte Bauelement des Skripts. Hermann findet heraus, dass eine Art von freundlicher und passiver Resignation, einer Art von Gefühlsleere, viel mehr bringt als sein offener Widerstand. Die Mutter lobt ihn dafür, dass er ihr braver Junge ist und sagt „Wenn ich dich nicht hätte, mein Hermann!“ Er erhält zwar keine positive Zuwendung für seine natürlichen Bedürfnisse, für sein So-Sein, aber immerhin für seine Leistung des Bravseins. Auch Berta lernt, folgsam zu sein und den Anforderungen zu entsprechen, die an sie gestellt werden, auch sie wird gelobt dafür. Ihre Traurigkeit verbirgt sie unter einem konstanten Gekränktseins, das sie aber kaum jemals nach außen zeigt.

Die beiden heranwachsenden Kinder haben gelernt, sich vor ihrer schwierigen Umwelt zu schützen. Mit den für sie oft frustrierenden Beziehungen, die ihnen entgegengebracht werden, gehen sie auf die bestmögliche Art um. Es ist ein hoher Akt der Selbstverleugnung, den sie da bringen. Sie dürfen nicht sein, wie sie wirklich sind, aber mit Hilfe ihrer Intuition haben sie Wege gefunden, so zu sein, wie es von ihnen erwartet wird. Allerdings: Liebe, bedingungslose Liebe für ihr ganzes Menschsein, gibt es so nicht. Da fehlt also noch etwas im Skriptgebäude: etwas, das mir dabei helfen könnte, mich in Ordnung, mich okay fühlen zu können, so wie ich bin. Also gehen Hermann und Berta unbewusst und intuitiv auf die Suche, um in dem Regelwerk, von dem sie umgeben sind und in dem sie sich mittlerweile gut auskennen, eine Lösung zu finden.

„Was wird von mir erwartet?“ frägt sich Berta, nur zu einem geringen Teil bewusst. Ich soll die Bedürfnisse meiner kranken Mutter erfüllen, die meines überarbeiteten Vaters, die meiner kleinen Schwestern. Ihnen allen soll ich es recht machen, und zwar ständig. Wenn ich das schaffe und wenn ich mich unentwegt anstrenge, dann werden sie doch sehen, was für ein liebenswertes Mädchen ich bin. Eines Tages werde ich den Lohn dafür erhalten, wenn ich mich nur genügend anstrenge und ihnen alles recht mache.

Und auch Hermann stellt sich die Frage „Was wird von mir erwartet?“ Ich soll für die Mutter dasein, ihre Ängste beruhigen und sie lieben. Ich soll in Vaters Fussstapfen treten und im Geschäft alles genauso machen, wie er es will. Ich muss es ihnen recht machen, und ich muss durchhalten und stark sein. Dann wird es ihnen doch klarwerden, was für ein tapferer und folgsamer Junge ich bin! Eines Tages werde ich dafür belohnt werden.

Diese Hoffnung, trotz aller widriger Bedingungen endlich doch noch geliebt zu werden, motiviert sie zu Höchstleistungen. Beide finden heraus, was die Eltern von ihnen brauchen und bemühen sich, dem gerecht zu werden. Berta strengt sich unermüdlich an, Hermann lernt, durchzuhalten. Er arbeitet schon als Kind im Geschäft bis zur Erschöpfung, er erträgt alle Hänseleien der anderen Kinder, weil er dick und unsportlich ist, ohne daheim ein Wort davon zu erzählen.

Sie entwickeln das, was wir in der Transaktionsanalyse „Antreiber“ nennen. Sie sind das vierte Bauelement im Skriptgebäude. Es gibt insgesamt fünf davon:

- Ich muss immer stark sein und alles ertragen (kurz: sei stark!)
- Ich muss mich ständig anstrengen (streng dich an)
- Ich muss es ständig allen recht machen (mach’s mir recht)
- Ich muss alles immer perfekt machen (sei perfekt)
- Ich muss mich ständig beeilen (beeil dich)

Doch Berta und Hermann wollen ja - wie alle Menschen - bedingungslos geliebt werden. Selbst wenn sie (was ohnehin nur spärlich geschieht) Lob und Anerkennung für ihr Starksein, ihre Anstrengungen, ihre Anpassung an die Bedürfnisse der anderen bekommen, dann bezieht sich das nicht auf ihr ganzes Menschsein, sondern wieder nur auf ihre Leistung. So führen die scheinbaren Auswege der Antreiber nur weiter in das Skript hinein. Sie bestätigen den beiden aufs Neue ihre Glaubenssätze: meine Bedürfnisse sind nicht wichtig, ich bin nicht wichtig. Wichtig sind die anderen, mich versteht keiner. Liebe gibt es für mich auf dieser Welt nicht, das Leben ist mühsam und beschwerlich. Und weiter müssen sie ihre authentischen Gefühle unterdrücken und ihre Ersatzgefühle einsetzen. Die alten Wunden schmerzen wieder, neue kommen an denselben Stellen dazu, und wieder bleiben Hermann und Berta damit allein und unverstanden.

Sie sind mittlerweile herangewachsen, ihr Skript, ihr unbewusster Lebensplan ist in seinen Grundzügen ausgebildet. Mit ihm formen sie ihre Persönlichkeiten und gestalten ihr Leben und ihre Beziehungen. Bevor wir sehen und miterleben, wie die beiden einander kennen- und liebenlernen,  ziehen wir ein kurzes Zwischenresümée.

Wir haben viel Destruktives und Einschränkendes in diesen Lebensplänen entdeckt. Kann man das Skript „überwinden“? Kann man davon quasi „geheilt“ werden? Wäre das überhaupt sinnvoll? Wir sind das, was wir mittels unseres Skripts aus uns machen, wir formen damit unsere Persönlichkeit. Ursprünglich steht ja dahinter nicht die Absicht, unser Leben einzuengen, sondern die Hoffnung, dem Einengenden zu entrinnen. Hermann und Berta haben in ihrer Skriptentwicklung wichtige Potenziale entwickelt: Empathie, die ihnen hilft, die Bedürfnisse anderer zu verstehen und sich in sie einzufühlen; Kreativität, die sie immer wieder neue Lösungen aus ihrer verzwickten Lebenslage finden hat lassen; Durchhaltevermögen und Ausdauer. Mit all dem könnten sie - jenseits der destruktiven Anteile - zu Menschen werden, die in ihren beruflichen und privaten Leben höchst erfolgreich wären.

Wenn nicht - ja, wenn nicht das Skript eine sehr komplizierte Komponente enthalten würde: seine Eckpfeiler werden als allgemeingültige Gesetze gesehen und verzerren die Wahrnehmung. Die Welt, ich selbst, andere Menschen und meine Beziehungen zu ihnen und ihre zu mir werden immer wieder durch die Brille der Grundbotschaften, der Glaubenssätze, der Ersatzgefühle und der Antreiber gesehen. Frühere Beziehungserfahrungen werden stereotyp auf heutige übertragen. Sehen wir uns das näher an.

Hermann hat eine kaufmännische Lehre und anschließend die Ausbildung zum Meister im Geschäft seines Vaters absolviert. Dieser besitzt mittlerweile 4 Gemischtwarenläden, die er stolz sein „Imperium“ nennt. Mit 22 ist Hermann bereits Juniorchef und leitet eine Filiale. Auch er arbeitet hart, für das normale Leben eines jungen Mannes bleibt kaum Zeit. Sein Vater stellt die mittlerweile 16jährige Berta als Lehrmädchen ein. Beide sind sie schüchterne und zurückhaltende Menschen, beide haben sie noch keine wirkliche Liebeserfahrung. Lassen wir sie aus heutiger Sicht dazu selbst zu Wort kommen:

Hermann: Ach ja, ich kann mich gut erinnern. Sie war wirklich ein bezauberndes junges Mädchen damals, und ich dachte, sie müsste jede Menge Verehrer haben. Dass ich ihr gefallen würde, davon konnte ich nur träumen.
Berta: Ich war noch sehr unerfahren damals, ich glaube, er war der erste Mann überhaupt, in den ich mich richtig verliebt habe. Heimlich natürlich. Er war so höflich und zuvorkommend, hat sich immer erkundigt, wie es mir geht und wie ich das Wochenende verbracht hätte.

Es scheint Zufall zu sein, dass die beiden sich kennenlernen, und aufgrund ihrer einsamen sozialen Situation logisch, dass sie sich ineinander verlieben - sie haben ja kaum Auswahl. Und doch ist es viel mehr: es ist Intuition, die sie ahnen lässt: diese Person passt auf eine bestimmte Art genau zu mir. Er ist der Mensch meines Lebens, sie ist der Mensch meines Lebens.

Eric Berrne, der Begründer der Transaktionsanalyse, hat sich in seinen Anfängen intensiv mit Intuition beschäftigt. Er schreibt bereits 1949: „… Urteile (werden) aufgrund von nichtsprachlichen Vorgängen und Beobachtungen gefällt (...), welche auf früher geformtem Wissen beruhen. Dieses Wissen wurde durch häufigen Gebrauch in die Persönlichkeit integriert und wirkt daher unterhalb der Bewusstseinsebene (…).“ (Berne 1949, S. 33). Und weiter führt er aus, es sei „…primär unbewusste(s) Material, das die Grundlage für die Beurteilung der Realität darstellt.“ (S. 37)

Wie kann man sich das vorstellen? In einem höchst komplexen und komplizierten Prozess stellt sich das Gehirn eines Menschen auf das eines anderen ein. Ein kleiner Teil dabei ist verstandesmäßiges Agieren und Reagieren im Sinne des Gesprächsinhalts. Das Wesentliche aber geschieht unbewusst: zwei neuronale Systeme tauschen sich über eine unendliche Vielzahl an Subsystemen aus, die einander gewissermaßen abtasten, einschätzen, Reaktionen prognostizieren, Dinge vermeiden und andere hervorrufen. Dabei können wir uns genau auf andere mit einem fein abgestimmten Sensorium an Denken, Fühlen und Verhalten und vor allem mit Sprache einstellen. Wir kommunizieren verbal und nonverbal, um Beziehungen herzustellen und zu halten. Wir verlieben uns in einen anderen Menschen, der sich nahezu gleichzeitig in uns verliebt. Wir lachen mit einem Menschen gemeinsam über eine bestimmte Art von Situationskomik, die mit einem anderen Menschen niemals eintreten würde. Wir unterhalten uns ganz übereinstimmend über ein Fußballspiel, ein Buch, eine philosophische Theorie oder über das Skript in Paarbeziehungen. Und in der Regel verstehen wir (oder glauben, es zu verstehen), was die oder der Andere meint, und sie oder er scheint zu verstehen, was wir meinen.

Wir setzen uns über unser Unbewusstes miteinander in Beziehung, und das tun wir mit Hilfe der Intuition. Sie erzählt uns viel mehr über andere Menschen, als wir jemals bewusst wissen, und dabei erzählen wir dem anderen Menschen sehr viel mehr über uns, als uns bewusst ist. Ihre Intuition erzählt Berta und Hermann, dass da jemand ist, der ähnliche Lebenserfahrungen gemacht hat, der auch dazu erzogen worden ist, es anderen recht zu machen, der sich auch unverstanden und unwichtig fühlt. Und noch mehr: da ist eine Frau, die gelernt hat mit dem Bedürfnis nach Distanz umzugehen, sie hat ja nie etwas kennengelernt. Da ist ein Mann, der gelernt hat, mit dem Bedürfnis nach Nähe umzugehen, er hat ja nie etwas anderes kennengelernt. Da ist er endlich, dieser Mensch, auf den ich immer gehofft und gewartet habe, sagt ihr Unbewusstes. Er wird mich endlich verstehen, er weiß ja selbst, wie das ist. Sie wird mich endlich verstehen, sie weiß ja selbst, wie das ist.Und endlich, endlich kann ich all das hinter mir lassen und werde geliebt warden, so, wie ich bin. Das ist der Mensch meines Lebens, nie wieder werde ich sie loslassen! Das ist der Mensch meines Lebens, nie wieder werde ich ihn loslassen!

Es ist die Hoffnung, endlich verstanden zu werden und alles Belastende des Skripts hinter sich lassen zu können, die die Intuition stimuliert, sich zu verlieben, in den genau passenden Menschen. Und dann scheint eine Zeitlang alles wunderbar zu sein. Es ist erstaunlich, auf was für komplementäre Lebensgeschichten wir in der Arbeit mit Paaren stoßen.
Wenn das deutlich wird, höre ich oft den Satz: “Aber das haben wir doch gar nicht gewusst, als wir uns kennengelernt haben.” Nein, nicht bewusst gewusst - aber unbewusst intuitiv erkannt.

Aber warum geht das nicht in Erfüllung, wenn es doch so genau zu passen scheint, wenn doch alle Voraussetzungen gegeben wären, einander zu verstehen? Die Antwort darauf ist ebenso einfach wie desillusionierend: weil die Vergangenheit eben nicht vorbei ist, weil die Brille des Skripts, die uns die Welt im Sinne der Bauelemente des Skripts sehen läßt, immer noch auf der Nase sitzt. Einige Zeit lang sehen wir vielleicht oben über ihren Rand, aber bei der ersten Gelegenheit sehen wir wieder mitten durch ihre Gläser. Denn es gibt noch ein fünftes innerpsychisches Bauelement, das alles wieder so hinbiegt, wie es immer gewesen ist: die Übertragung.

Sehen wir uns wieder an, wie die Paartherapie weitergehen könnte.

Therapeut: Ihre Beziehung hat also sehr harmonisch und in Liebe begonnen.
Berta: Ja, das waren wirklich schöne Jahre damals. Wir haben natürlich bald geheiratet und haben uns dann diese kleine Wohnung im ersten Stock im Häuschen meines Vaters ausgebaut. Meine Mutter war ja schon tot damals. Finanziell ist es uns recht gut gegangen, und dann ist das erste Kind gekommen. Waren wir da glücklich über unsere kleine Tochter!
Therapeut: Wann ist es dann schwierig geworden?
Hermann: Eins ist zum anderen gekommen. Eineinhalb Jahre danach ist das zweite Kind zur Welt gekommen, nach noch einmal zwei Jahren dann das dritte. Berta war natürlich zu Hause bei den Kindern, ich habe damit gerechnet, dass es geschäftlich weiter bergauf gehen würde. Aber die wirtschaftliche Situation hat sich verändert. Die Leute haben immer mehr in den großen billigen Supermärkten eingekauft.
Berta: Und dann hatte Hermanns Vater einen Schlaganfall. Danach konnte er nicht mehr arbeiten, und wir haben ihn zu uns genommen, damit ich ihn pflegen konnte. Drei kleine Kinder und ein Pflegefall! Können Sie sich das vorstellen?
Hermann: Und die Sorgen mit den Geschäften. Eines nach dem anderen musste ich aufgeben, es hat einfach nicht mehr gereicht, obwohl ich Tag und Nacht gearbeitet habe. Schließlich war es Zeit für einen Schlussstrich, gut, dass Papa das nicht mehr mitbekommen hat. Und mir ist nichts anderes übriggeblieben als für eine Versicherung im Außendienst zu arbeiten.
Therapeut: Das Leben ist also immer schwieriger und belastender geworden.

Schleichend, Stück für Stück, werden die Risse der Entfremdung zwischen den beiden größer und größer. Die Vergangenheit scheint sie einzuholen. Berta müht sich ab, nun nicht mehr für die kranke Mutter, sondern für den Schwiegervater, nicht für die jüngeren Schwestern, sondern für ihre eigenen Kinder. Hermann arbeitet, ohne sich damit identifizieren zu können, findet nichts mehr, was ihm Freude im Leben macht. Er erlebt sich fremdbestimmt. Wenn er ausgelaugt nach Hause kommt, klagt Berta ihm (so erlebt er es) unaufhörlich ihr Leid, er hat keinen Raum, er selbst zu sein. Sie will endlich mit einem erwachsenen Menschen reden, der ihr zuhört - aber Hermann sitzt nur teilnahmslos da. Die Gegenwart wird für die beiden zu ihrer Vergangenheit, oder genauer gesagt: die Vergangenheit wird zur Gegenwart. Unbewusst erlebt Berta Hermann wie ihren Vater, und er erlebt sie wie seine Mutter. Und beide erleben sich unbewusst wieder als die Kinder von damals, unverstanden, unwichtig, uninteressant. Sie stimmen ja doch, die alten Glaubenssätze, spüren sie alle beide. Die alten tiefen Gefühle von tiefer Traurigkeit und Zorn tauchen wieder und wieder auf, und wieder werden sie mit den alten Ersatzgefühlen abgewehrt: passive Leere bei Hermann, Gekränktheit bei Berta. Auch die alten Antreiber treten wieder auf den Plan: Berta strengt sich an und strengt sich immer mehr an - das wird Hermann doch irgendwann einmal merken und sie so lieben, wie er das vor vielen Jahren getan hat. Hermann macht sich hart und stark, um all diese Frustrationen durchhalten zu können. Das wird Berta doch irgendwann einmal merken und ihn wieder so lieben, wie sie das vor Jahren getan hat.

Übertragung, das fünfte Bauelement des Skripts, bedeutet: durch die Brille des Skripts sehe ich die Gegenwart so, als ob sie eine Wiederholung der Vergangenheit wäre. Frühere Beziehungserfahrung wird auf heutige Beziehungen übertragen. Das hilft unbewusst dabei, mich weiter nicht an den alten Schmerz erinnern zu müssen, weil es ja soviel aktuelle Kränkung gibt. „Die unbewussten Regungen wollen nicht erinnert werden, (...) sondern sie streben danach, sich zu reproduzieren.“ sagt Sigmund Freud bereits 1912. Hermann und Berta verflechten ihre beiden Skripts immer enger miteinander. Seine Glaubenssätze, seine Ersatzgefühle, seine Antreiber und der Rückzug, der daraus resultiert, bestätigen ihre Glaubenssätze, Ersatzgefühle, Antreiber. Daraus entspringt ihre Aufdringlichkeit - die wiederum seinen Rückzug verstärkt, und jeder von ihnen möchte, dass der andere endlich damit aufhört, wo es doch die bekannte Geschichte mit der Henne und dem Ei ist.

Ein großer Teil der Paartherapie besteht in der Klärung der Frage „Wie ist es gekommen, dass es so mit uns gekommen ist?“ Dabei arbeite ich mit den beiden Partnern in einer Art Einzeltherapie im empathischen Beisein des jeweiligen Anderen an den Skriptmustern und der Entstehung des Skripts. Berta und Hermann würden dann aus ihrer Kindheit erzählen, um selbst zu verstehen und dem Anderen verständlich zu machen, welche Verletzungen sie erlitten haben und wie oft sie sich unverstanden gefühlt haben. Das könnte etwa so aussehen:

Berta: Das ging so Jahr um Jahr. Abends habe ich für den nächsten Tag vorgekocht, wenn ich aus der Schule nach Hause gekommen bin, habe ich das Essen aufgewärmt, Hausaufgaben mit den Schwestern gemacht, der Mutter die Gelenke mit Salbe eingerieben und sie massiert. Wäsche waschen, bügeln, putzen.
Therapeut: Wie alt waren Sie da?
Berta: Sieben, als das mit der Krankheit der Mutter so richtig begonnen hat.
Therapeut: Eine unglaubliche Überforderung für ein kleines Mädchen.
Berta: Es war halt so. Es musste so sein.
Therapeut: Und es war eine unglaubliche Überforderung.
Berta: Meinen Sie?
Therapeut: Hermann, wie sehen Sie das?
Hermann: Unglaublich, wirklich. Ich habe das alles ja nicht gewusst, nicht so genau.
Therapeut: Und wenn Sie es jetzt wissen und verstehen, wie fühlen Sie sich dann?
Hermann: Es tut mir leid. Es tut mir leid für dich, Berta.
Berta (sieht ihn an): Wirklich? (sie beginnt zu weinen)
Hermann (nimmt ihre Hand): Ja, wirklich. Und es tut mir noch viel mehr leid, dass das ja bei uns immer so weitergegangen ist.
Berta: Ja, das ist es. Und ich wollte es dir immer erzählen, aber du hast so wenig zugehört.
Therapeut: Und wie ist es jetzt, wo er zuhört?
Berta: Es tut mir gut.
Therapeut: Ja. - Und da gibt es noch eine andere Seite. Hermann, warum ist es denn manchml so schwer für Sie, zuzuhören?
Hermann: Weil ich ja doch nichts ändern kann.
Therapeut: Warum müssen Sie denn etwas ändern?
Hermann: Weil ich mir sonst so hilflos vorkomme. Und weil ich doch auch Zeit für mich zum Nachdenken brauche. Für mich selbst. Mein ganzes Leben gehört immer nur den anderen.
Therapeut: So wie damals als Kind?
Hermann: Ja, wahrscheinlich.
Therapeut: Als Ihr Vater von Ihnen verlangte, für die Mutter dazusein?
Hermann: Du musst der Mann im Haus sein, hat er immer gesagt. Deine Mutter braucht dich, ich muss mich um das Geschäft kümmern, das verstehst du doch.
Therapeut: So lernt ein kleiner Bub, stark zu sein und sich in sich selbst zurückzuziehen. Dort ist der einzige Platz, an dem er sicher ist.
Hermann: Ja, so ist das.
Berta: Hermann, jetzt verstehe ich das. Du bringst dich vor mir in Sicherheit.
Hermann: Aber das will ich doch gar nicht! Ich brauche doch einfach nur meine Zeit, um daheim anzukommen!
Berta: Und ich brauche jemanden, mit dem ich reden kann.
Therapeut: Ja, das brauchen Sie alle beide. Keiner von ihnen beiden will dem anderen wehtun. Alle beide setzen Sie Ihren Selbstschutz ein, den Sie als Kinder gelernt haben. Aber Sie haben ja noch etwas Anderes gelernt: die Fähigkeit, sich in einen anderen Menschen einzufühlen. Sie, Berta, haben gelernt, den Wunsch eines Menschen zu respektieren, Zeit für Rückzug zu haben, und Sie, Hermann, haben gelernt, den Wunsch eines Menschen nach Kontakt zu verstehen.
Berta: Ja, ich kann Hermanns Bedürfnisse schon verstehen. Aber was ist mit meinen eigenen?
Therapeut: Hermann, können Sie Bertas Bedürfnisse auch verstehen?
Hermann: Natürlich kann ich das.
Therapeut: Als Sie Kinder waren, war da ein Ungleichgewicht: Sie haben die Bedürfnisse der anderen verstanden, aber die Ihren hat niemand gesehen. Jetzt, als Erwachsene können Sie Gleichgewicht herstellen: meine Bedürfnisse sind wichtig - und deine auch. Wenn die Vergangenheit ihre Macht über Sie verliert, wenn Sie nicht mehr gegenseitig wie an einem Gummiband in Ihre Geschichte zurückziehen, dann können Sie in der Gegenwart bleiben.

An dieser Stelle einer Therapie gebe ich Paaren gerne einen Spruch mit, der ein wenig wie aus einem Zauberbuch klingt:

Wenn Gegenwart zu Vergangenheit wird
wird damals wieder zu jetzt.
Wenn Vergangenheit damals sein darf
kann jetzt Gegenwart sein.

So könnte die Geschichte von Hermann und Berta aussehen. Natürlich, diese Therapie hat nie stattgefunden, die beiden sind ja nur Comicfiguren, und ihre Lebensgeschichte habe ich erfunden. Aber ist das wirklich so? Steckt nicht in jedem Paar, mit dem wir arbeiten, ein Stück von den beiden? Steckt nicht in uns selbst und in unseren Partnerbeziehungen ein wenig Berta und ein wenig Hermann? Fast jede der zitierten Gesprächssequenzen stammt aus Paartherapien, die tatsächlich stattgefunden haben. Auch zu den Lebensgeschichten von Berta und Hermann haben mich wirkliche Geschichten inspiriert. Jeder Beziehungskonflikt und das Muster, in dem er ausgetragen wird, lässt uns hinter die Kulissen blicken, wenn wir unsere Intuition und unsere Empathie dafür benutzen. Jeder Streit erzählt in seinem Mikromosmos den ganzen Makrokosmos zweier Lebensgeschichten und ihrer Verletzungen und ihrer Heilungsversuche. Hinter jeder Paarkrise wird die enttäuschte Hoffnung sichtbar, allen Schmerz und alles Leid hinter sich zu lassen - und gleichzeitig hält ebendiese Krise das Potenzial bereit, die dysfunktionalen Aspekte des Skripts zu überwinden und seine konstruktiven Elemente zu beleben.

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