3. DIAGNOSE VON ICH-ZUSTÄNDEN IN DER THERAPEUTISCHEN BEZIEHUNG

Workshop am 13. Kongreß der Deutschen
Gesellschaft für Transaktionsanalyse
Mainz, Mai 1992

Seite drucken Seite weiterleiten

 

"Wer sitzt mir da gegenüber?" - eine Frage, mit der wir als TherapeutenInnen immer wieder konfrontiert sind: wer sitzt uns da in dem erwachsenen Körper wirklich gegenüber?

Eine Frau, nennen wir sie Gerda, schon seit mehreren Jah­ren in Therapie, hatte mir nach einer Stunde, in der sie mir viele Vorwürfe über den mangelnden Fortschritt der Therapie gemacht hatte, als Versöhnungsangebot eine Post­karte mit den folgenden Zeilen geschrieben: "Ich denke viel an Dich - mehr möchte ich im Moment nicht sagen. Gerda.

Am Anfang der nächsten Stunde erschien sie bereits mit verärgertem Gesicht, wartetete nach dem Hinsetzen etwa eine Minute, um mich dann wütend anzuzischen: "Machst Du das absichtlich, daß Du einen Menschen so kränkst? Als Strategie finde ich das nicht sehr gut, aber offensicht­lich ist es Absicht!" Auf meine Frage, was sie  denn meine, wurde sie noch wütender: "Tu nicht so, als ob Du das nicht wüßtest! Du hast Dich nicht einmal für meine Karte bedankt!" - Und das zu einem Zeitpunkt, wo ich beim besten Willen noch nicht Zeit gehabt haben könnte, mich für die Karte zu bedanken.

 

Nun wissen wir seit Eric Berne, daß Menschen verschiedene Zustände des Ichs haben, also verschiedene zusammenge­hörende Systeme von Denken und Fühlen, die sich zu be­stimm­ten Zeiten in bestimmten Verhalten ausdrücken haben auch gelernt, diese Verhaltensformen zu diagno­stizieren und damit eine funktionelle Zuordnung zu Ich-­Zuständen vorzunehmen.

Wir könnten also sagen, Gerda hat kritisches Eltern-Ich (oder vielleicht rebellisches Kindheits-Ich) besetzt - und wir könnten Optionen finden, mit dem transaktionellen Sti­mulus umzugehen: ihn zu kreuzen, die Spieleinladung zu kon­frontieren und anderes mehr. Damit könnten wir die Fra­ge lösen, wie man therapeutisch kurzfristig mit einer sol­chen Situation umgeht.

Aber wäre das schon 'Ich-Zustands-Diagnose'?

Das Wort 'Diagnose kommt aus dem Griechischen und setzt sich zusammen aus der Vorsilbe 'dia', die etwa 'hinein', 'daziwschen', 'genau hinein' bedeutet, und aus 'gnosis' - und das bedeutet 'Erkenntnis'. 'Genaue Erkenntnis' also - und das ist mehr als die bloße Zuordnung von Verhalten zu bestimmten Kategorien oder Kategoriengruppen. Denn die Frage 'Wer sitzt mir da gegenüber?'  macht ja erst Sinn als Frage "Warum sitzt sie mir als die gegenüber, als die sie das gerade tut?"- also eigentlich 'warum sagt und tut sie das, was sie tut?'

Und Gerda sitzt ja nicht einfach gegenüber und verhält sich irgendwie abstrakt, sondern ihr Dasitzen und ihr Ver­halten ist eine bestimmte Form, sich mit mir in Beziehung zu setzen.Und dann kann man die Frage so formulieren: "Wie kommt es, daß sie sich so in Beziehung zu mir setzt, wie sie es tut?". Damit haben wir eine neue Qualität erreicht - die Ebene der spezifischen Individualität einerseits und die des In-Beziehung-Tretens zwischen Individuen anderer­seits.

Menschen treten von ihren Ich-Zuständen her mit anderen Menschen in Beziehung. Ich-Zustände sind nach der Defi­nition von Berne (1961) bestimmte zusammengehörige Systeme von Denken, Fühlen und Verhalten. Welche Ich-Zustände Per­sonen dabei wann besetzen, also welche zusammengehörigen Systeme von Denken, Fühlen und Verhalten sie aktivieren, drückt ihr Skript aus und treibt ihr Skript voran. Wenn wir als TherapeutenInnen mit diesem Skript arbeiten und den Kli­enten helfen wollen, es zu verlasse überwinden, dann müssen wir auf eine sehr umfassende Art und Weise Ich-Zustände diagnostizieren lernen.

 

Was sind Ich-Zustände und wie werden sie gebildet? Berne (1961) hat den Begriff Ich-Zustände, Zustände des Ichs, von sei­nem Lehranalytiker Paul Federn übernomme bewegt sich damit ursprünglich in psychoanalytischer Sichtweise: in einer Sichtweise, die die Instanzen der menschlichen Psy­che in Über-Ich, Ich und Es aufteilt Ich ist dabei jene Instanz, die bewußt wird (bzw. werden kann), und die sichtbar wird werden kann). Dieses Ich aber wiederum kann verschiedene Ausdrucksformen annehmen: ein Mensch kann so denken, so fühlen und sich so verhalten, wie es seinem Wis­sensstand, seiner Erfahrung, seiner Ent­wicklung und Rei­fung von hier und heute entsprich kann so denken, so fühlen und sich so verhalten, wie er das als Kind getan hat und er kann so denken, so fühlen und sich so verhal­ten, wie es seine Eltern oder signi­fikante Bezugspersonen von ihm früher getan haben oder getan haben könnten. Das ist, kurz zusammengefaßt, das sogenann­te Berne'sche 'Ur­sprungsmodell' von den Ich-­Zuständen.

 

Warum ist das so?

1) Die hier folgende Erklärung folgt im wesentlichen den Ausführungen Richard ERSKINEs (1990).

Jeder Mensch wird geboren mit einem grundlegenden Bedürf­nis nach Beziehung, nach Kontakt. Ohne Kontakt kann der Mensch nicht überleben, von der ersten Sekunde seines Lebens an. Wir können also annehmen, daß das Bedürfnis, sich in Beziehung zu setzen, ein elementares, biologisches Grundbedürfnis des Menschen darstellt. Das Herstellen von Kontakt ist lebensnotwendig zur Reduktion der Spannungen, die aufgrund von unbefriedigten Bedürfnissen auftreten: in TA sprechen wir vom stroke-Hunger, vom Hunger nach Anerkennung. Die ersten Formen, in denen dieses Bedürfnis beim kleinen neugeborenen Menschen auftritt, sind zuerst der wirkliche biologische Hunger nach Nahrung. Sehr bald wird dieses Bedürfnis erweitert durch ein Bedürfnis nach menschlicher Nähe, nach Schutz vor dem Alleinsein. Schließ­lich kommt das Bedürfnis nach Ich-Werdung, Individuation, nach Loslösung dazu, die wiederum nur im Kontakt, in der Auseinandersetzung gefunden werden kann.

 

Wir können also sagen, daß Menschen motiviert sind, mehr noch, daß es für sie überlebensnotwendig ist, Beziehungen herzustellen. Das Medium der Herstellung der Beziehung ist der Kontakt.

Bei den Versuchen, die das kleine Kind unternimmt, um in Kontakt zu treten, macht es Erfahrungen - gute und schlech­te, freudvolle, schmerzhafte, angsterregende. Erfahrungen werden in Form von Erinnerung gespeichert; und die ersten und nachhaltigsten dieser Erinnerungen sind emo­tionaler und viszeraler, das heißt körperlicher Natur.

Eine der schmerzvollen Erfahrung, die kleine Kinder oft machen, wenn sie versuchen, in Kontakt zu treten, ist  ab­gewiesen oder ignoriert zu werden. Noch schmerzhaftere For­men des Kontaktabbruches sind zum Beispiel gewalttäReaktionen usw.

Das Kind will also in Beziehung treten, Kontakt aufnehmen. Dieser Kontakt kann aber nicht hergestellt werden bzw. wird unterbrochen oder auch auf falsche, für das Kind schädliche Art hergestellt (z.B. durch Überbevormundung). Kontaktabbrüche, das heißt, wenn kein angemessener Kontakt stattfinden kann, erzeugen Gefühle der Traurigkeit, der Angst, der Wut, der Verlassenheit, der Verzweiflung. Diese Gefühle sind notwendige Begleiterscheinungen schlimmer Er­lebnisse. Wenn die Gefühle erlebt werden dürfen, ausge­drückt werden dürfen und vom Kontaktpartner auch angenom­men werden, kann das negative Erlebnis bewältigt und über die Gefühle wieder neuer Kontakt aufgenommen werden. Oft aber ist diese Möglichkeit aber nicht gegeben: das kleine Kind muß seine schmerzlichen Gefühle alleine mit sich selbst ausmachen. Es liegt beispielsweise alleine im Git­terbett und muß allein damit fertig werden, daß auf sein Schreien niemand kommt. Allein sind diese schlimmen Gefüh­le aber absolut unerträglich - und unerträglich heißt le­bens­bedrohlich: sie müssen zurückgedrängt oder abgewehrtSNLwerden. Das heißt, sie müssen in irgendeiner Form ver­drängt, sozusagen aktiv vergessen werden. Das aber wie­derum heißt, daß eine bestimmte Situation nicht auf gesun­de Art und Weise bewältigt werden kann - denn dazu gehö­ren, wie gesagt, die entsprechenden Gefühle. Traurige Situationen können nur durch Trauer bewältigt werden, ärgerliche nur durch Ärger usw. Eine nicht bewältigte Erfahrung aber bedeutet eine Art punktuelles Stecken­blei­ben in der Entwicklung. An diesem Punkt kann für das Kind keine gesunde Weiterentwicklung erfolgen, es kommt zu ei­ner Fixierung: die unbewältigte Situation wird samt der Abwehr als unverdauter Brocken sozusagen in die Zukunft weitergeschoben. Wenn das Kind und später der Erwachsene, der aus dem Kind geworden ist, wieder mit ähnlichen Si­tuationen, mit ähnlichen Kontaktunter­brechungen konfron­tiert wird, reagiert er aufgrund seiner inneren Fixierung auf ähnliche Weise: er wehrt die Gefühle wieder ab, so wie er sie damals als kleines Kind abgewehrt hat - der stek­kengebliebene Brocken wird reaktiviert. Das Kind, das auf Gefühle der Verlassenheit mit Erstarrung und Depression reagierte, wird später als Erwachsener wieder durch De­pres­sion die Gefühle der Verzweiflung und der Trau Situationen von Trennungen abwehren. Dieser Mensch wird also in der Situation nicht in erwachsener Art und Weise damit umgehen, sondern so wie seinerzeit als Kind, er wird in TA-Sprache "einen Kindheits-Ich-Zustand besetzen". Das ist es, was Kindheits-Ich-Zustand in Bernes ursprünglicher Definition bedeutet: komplette Systeme von Denken, Fühlen, Verhalten und körperlichen Reaktionen aus früheren Lebens­epochen werden in die Gegenwart übernommen. Es gibt also nicht 'ein Kindheits-Ich', sondern eine Summe von Kind­heits-­Ich-Zuständen, von Fixierungen in verschiedenen Al­ters­stufen, beispielsweise mit einem halben Jahr zwei, mit vier, mit sieben usw.. Berne nennt dieses System von Ich-Zuständen "Archäopsyche", also ein System archa­ischer, das heißt, von früher überlieferte Zustandsformen des Ichs.

Eine weitere spezifische Form der Abwehr in Situationen des Kontaktabbruchs stellt die Introjek­tion dar. Das erlebt Bezugspersonen, also vor allem Mutter und Vater, auf eine bestimmte Weise bedrohlich, und kann mit dieser Bedrohung nicht fertig werden.Es nimmt diese bedrohlichen Personen, so wie es sie erlebt, in sich selbst auf, ver­schluckt sie sozusagen als Ganzes. Hintergrund dieses Vor­ganges ist die Annahme, mit einer feindseligen, kontakt­abbrechenden Person, die das Kind in seinem Inneren hat, besser fertig werden zu können als mit der Person außen. Es bildet sich also eine zweite Gruppe von Ich-Zuständen, von zusammenhängenden Systemen, von Denk-, Fühl-, und Verhaltensweisen heraus: die "Exteropsyche", von äußeren Personen übernommene Ich-Zustände. Wenn sie besetzt wer­den, denkt, fühlt und handelt die Person so, wie es Mut­ter, Vater oder andere signifikante Bezugspersonen in ihrer Kindheit getan haben (bzw. wie sie vom Kind erlebt wurden). Dieses System ist das, was TA mit Eltern-Ich­Zustand (oder besser -Zuständen) meint.

Ein dritter Bestandteil des Ichs ist die "Neo-Psyche", der Erwachsenen-Ich-Zustand. Damit gemeint ist das System von Denken, Fühlen, Verhalten und körperlichen Reaktionen, mit denen Menschen im Hier und Heute angemessen mit sich und anderen in Kontakt sind.

Ich-Zustände entstehen also im Kontakt bzw. als Reaktion auf Kontaktunterbrechungen mit signifikanten Bezugsper­sonen. Fixierungen, also das Herausbilden von Kindheits-­Ich-Zuständen, und Introjektionen, also das Herausbilden von Eltern-Ich-Zuständen, sind Abwehrleistungen des Ichs. Wenn ein Kind also beispielsweise auf die Abwendung der Mutter sich von ihnen abwendete, mit Er­starrung reag mit einer Art Gefühllosigkeit, so ist das die Form, mit der es die schlimmen Gefühle, die diese Kontaktunter­bre­chung hervorruft, abwehrt. Mit dieser Art von Erstarrung entsteht eine Fixierung im entspr­e­chen­den Alter. So sich diese oder ähn­liche Erlebnisse wiederholen, so der Mechanismus der Gefühlsabwehr und der Fixierung ver­festigt. Rund um diese Abwehr herum bildet sich das, was wir in TA Skriptentscheidungenumgedeutet, daß s dieser Entscheidung paßt. Menschen, die durchaus bereit wären, Kontakt aufzunehmen, werden dann beispielsweise nicht oder falsch wahrgenommen. Der Lebens­plan Skript, das auf der genannten Grundent­schei­dung bas wird immer feiner und komplexer ausformuliert. Wann immer der nunmehr herangewachsene Mensch versuchen wird, in Kon­takt mit anderen Menschen zu treten (denn das ist sein biologisches Bedürfnis, ohne das kann er nicht überleben), dann wird er es bereits auf dem Hintergrund des Skript-­Glau­benssatzes: Ich werde nicht geliebt, mit mir will nie­mand wirklich Kontakt aufnehmen, tun. Das aus zweierlei Motiven heraus: nennen. Ein Kind, das also beispielsweise immer wieder auf dieselbe Art in seinen Annäherungsversuchen zurückgewiesen würde, und heraus­fin­det, daß Erstarrung die beste Möglichkeit ist, mit den unlösbaren schlimmen Gefühlen umzugehen, könnte so etwas wie eine Basisskriptentschei­dung treffen: Ich werde geliebt. Nur wenn ich mich steinhart mache, kann ich über­leben. Ist diese Entschei­dung einmal getroffen, wir weitere Erfahrung, die das Kind im Leben macht, rund um diese Entscheidung herum organisiert. Das heißt, die Rea­li­tät wird nötigenfalls auch so

  •  einerseits in der unterbewußten, tiefen Sehnsucht, es möge endlich gut werden. Das heißt, immer wieder, wenn er versucht, Kontakt anzubahnen, wird er innerlich eigentlich das kleine Kind von etwa eineinhalb Jahren sein, das zu seiner Mutter zurücklaufen will, um von ihr in die Arme ge­nommen zu werden. Allein das garantiert beinahe die Zurückweisung: denn es wird zu Komplikationen im heu­tigen Leben führen, wenn ein Mensch von sagen wir dreißig oder vierzig Jahren sich an einen anderen Menschen in der Art eines eineinhalbjährigen Kindes annähert.
  • Das zweite Motiv für die Kontaktanbahnung auf der Basis der Skriptentscheidung liegt in der Notwendigkeit, die Abwehr aufrechtzuerhalten. Würde diese Person nämlich an­ders, offen auf andere Menschen zugehen und in Kontakt mit ihnen treten und erleben, daß er oder sie willkommen ist, dann würde sie innerlich damit in Berührung kommen, was sie ihr ganzes Leben lang versäumt hat: nämlich willkommen und geliebt zu werden. Die abgewehrten Gefühle der Ver­zweiflung und der Wut darüber, daß das ein Leben lang nicht möglich war, würden dann fühlbar. Indem die alte Er­fahrung wiederholt wird, wird dem Menschen aus unserem Bei­spiel bestätigt, daß es eben so ist im Leben und dawirklich die beste Möglichkeit ist, sich hart und verstei­nert zu machen.

Die Ich-Zustände und mit ihnen das Skript bilden sich also im Kontakt bzw. in der Erfahrung der Kontaktunterbrechung mit Bezugspersonen heraus. Ebenso werden die Ich-Zustände und das Skript im späteren Leben sichtbar im Kontakt bzw. in der Art, wie Personen mit Kontakt umgehen und ihn an bestimmten Stellen unterbrechen. Ich habe das Beispiel von vorhin nicht grundlos gewählt, weil es uns wieder zu Gerda zurückführt:

Gerda hat mit ihrer Karte versucht, sich an mich wieder anzunähern. Sie ist sozusagen, bildlich gesprochen, als kleines Mädchen mit offenen Armen auf mich zugekommen, und in ihrer Erlebniswelt habe ich mich abgewendet und sie nicht willkommen geheißen. So wie (vermutlich) damals ihre Mutter. An der Art, wie Gerda mit mir Kontakt aufgenommen  bzw. ihn wieder unterbrochen hat, wird deutlich, wie sie ihr Skript wiederholt und damit, wo die wunden Punkte ih­res Skripts liegen.

 

Das Phänomen, das ich hier beschrieben habe (im Erwach­senen-Leben wird Kontakt zu anderen Personen hergestellt und unterbrochen aufgrund der frühen Erfahrungen eines Menschen) - dieses Phänomen ist besser bekannt unter dem Namen Übertragung. Übertragung heißt, daß eine emotionelle Erfahrung mit einer signifikanten Bezugsperson von früher auf eine Bezugsperson von heute übertragen wird (Greenson 1967). Das kann je spezifisch nach der Abwehrstruktur zweierlei heißen:

- entweder die Person besetzt einen Kindheits-Ich-Zustand eines bestimmten Alters und überträgt auf mich (in diesem Fall als Therapeuten) die emotionelle Erfahrung des Kontaktabbruchs zu ihren Eltern hin. Das bedeutet: der/die KlientIn projiziert auf mich als Therapeuten seine verinnerlichte Elternfigur. Der/die KlientIn agiert und reagiert aus einem Kindheits-Ich-Zustand auf mich als Therapeut so, also ob ich diese Elternfigur wäre.

(vgl. Moiso 1985,1988)

 

- Die zweite Möglichkeit ist, dass der/die KlientIn einen in­trojizierten Eltern-Ich-Zustand besetzt. Das heiß denkt, fühlt und verhält sich so, als ob er sein Vater oder seine Mutter zum Zeitpunkt der Kontaktunterbrechung wäre und projiziert auf mich seinen Kindheits-Ich-Zustand. Das heißt, reagiert auf mich, wie sein Vater oder seine Mutter von damals auf das Kind, das er damals war, agiert oder reagiert haben (nach Erskine 1987).

 

Beides dient der Abwehr: wenn der/die KlientIn sich mit mir heute über meine Ablehnung ihm gegenüber streitet, muß er das nicht mit seinem (inneren) Vater von vor 30 Jahren tun. Wenn er sein inneres Kind von vor 30 Jahren auf mich projiziert und elterliche Reaktionen an mir praktiziert, muß er nicht damit in Kontakt kommen, wie es ihm selbst als Kind mit den gleichen Reaktionen ergangen ist.

 

Indem der/die KlientIn also auf mich als Therapeut über­trägt, wiederholt er sein Skript und lebt es aus. Freud sagt dazu: "Die unbewußten Regungen (also die trauma­tischen Erfahrungen des Kontakt- und Liebesver­lu K.S.) wollen nicht erinnert werden (...), sondern streben danach, sich zu reproduzieren." (1912) Das ist zugleich der Schlüssel, den der/die KlientIn uns zu seinem Skript gibt.  Wenn es uns gelingt, die Ich-Zustände exakt und sorgfältig zu diagno­stizieren, dann können wir au therapeutischen Be­ziehung heraus die Fixierungen und In­trojektionen des/r Klienten/in erkennen, die trauma­ti­Erfahrungen der Kontaktunterbrechung herausfinden und an der Stelle, wo der/die KlientIn aus dem Kontakt gegangen ist bzw. er aus dem Kontakt gedrängt wurde, wieder anzu­knüpfen. Der Sinn und Inhalt beziehungs­orien­tierter Thera­pie ist es, mit dem/r Klienten/in wieder dort in Kontakt zu kommen, wo er/sie ihn unterbrochen hat. So können die Abwehr aufgegeben und die Fixierungen durchgearbeitet und aufgelöst werden. Die Über­tragung kann dann vom/vo Therapeuten/in abgelöst werden, der/die KlientIn kann er­kennen, wo und wie er seine traumatischen Erfahrungen ge­macht hat. Er kann die Erlebnisse, die er damals nicht bewältigen konnte, jetzt bewältigen, indem er die Gefühle wieder erlebt, die nicht erlebt werden durften und abge­wehrt werden mußten.

 

Gehen wir noch einmal zum Beispiel von Gerda. Als sie so gekränkt auf meine von ihr angenommene Undankbarkeit auf ihre Karte reagierte, sagte ich zu ihr:

 

Th: Ich kann mir vorstellen, daß es für Dich ein ganz wichtiger Schritt war, nachdem Du so zornig auf mich warst, mir diese Karte zu schicken. Ich möchte Dir gerne sagen, daß diese Karte für mich sehr wichtig war, als ein Zeichen dafür, daß Du nicht nur zornig auf mich bist.

G: Aber warum hast Du Dich dann nicht einmal dafür be­dankt?

Th: Ich will mich nicht so sehr bedanken für die Karte, als Dir vielmehr sagen, daß ich sehr gerührt war, diese Karte von Dir zu bekommen, und mich sehr darüber gefreut habe.

G: Aber warum bedankst Du Dich dann nicht dafür?

Th: Wenn ich jetzt formell danke sagen würde, käme es Dir vielleicht und erzwungen vor. Was mir jetzt wichtig ist, Dir zu sagen ist, daß Du bei mir herzlich willkommen bist - mit Deinem Zorn und auch mit Deinen freundlichen Gefühlen, wie Du sie in der Karte ausdrückst.

G: Das fällt mir schwer zu glauben.

Th: Das kann ich verstehen. Kann es sein, daß das keine ge­wohnte Erfahrung für Dich ist - mit Zorn und mit freund­lichen Gefühlen willkommen zu sein?

G: Weder noch! Wenn ich zornig und trotzig war, habe ich ins Kammerl müssen. Und raus habe ich erst dürfen, wenn ich wieder brav war und mich entschuldigt habe. Wenn ich dann irgendwie versucht habe, wieder an die Mama heran­zukommen, hat sie gesagt: Ja jetzt kommt sie wieder, das hättest Du Dir vorher überlegen müssen, bevor Du so frech warst.

Th: Das muß schlimm gewesen sein.

G (fängt an zu weinen)

In der Folge können wir intensiv mit diesem Dilemma und

den Gefühlen von Zorn, Verzweiflung und Sehnsucht nach Lie­be arbeiten. Schließlich - um die Gesichte abzukü denn ich werden bei der Diagnose der Ich-Zustände noch ausführlicher darauf eingehen - kommt Gerda auf den Punkt, zu erkennen, daß es für ein Kind in Ordnung ist, sowohl Zorn als auch Liebe zu seinen Eltern hin zu fühlen, und daß es von den Eltern nicht in Ordnung war, diese ambi­valenten Gefühle nicht zu akzeptieren. Sie erkennt, daß sie ein Recht darauf hat, willkommen zu sein, angenommen zu werden, und daß sie nach einer Auseinandersetzung sich an den Konfliktpartner wieder annähern kann, ohne Angst haben zu müssen, wieder zurückgewiesen zu werden.

Um diese Fixierung und die damit verbundenen Abwehr­mecha­nismen zu erkennen und damit therapeutisch zu ar­beite so schließlich die Übertragung abzulösen und die Fixierung durchzuarbeiten, war das zentrale Instrument der Vorgang der Ich-Zustands-Diagnose.

So wird die Diagnose von Ich-Zuständen zu einem viel um­fassenderen Vorgang als der bloßen Auflistung und Zu­ord­nung von Verhaltensmerkmalen zu Kategorien wie "elter­lich-­kindlich-erwachsen". Sie wird zu einem therapeu­ti­schen Instrument, das im Rahmen der therapeu­tischen Be­ziehung den gesamten Prozeß hindurch vom/von der Thera­peuten/in anzu­wenden ist. Die Ich-Zustands-Diagnose be­stimmt nicht nur die angemessenen therapeutischen Inter­ventionen, mit ihr läßt sich auch der aktuelle Stand des therapeutischen Pro­zesses erfassen.

Wie ich in an anderer Stelle ausführlich referiert habe (Sejkora 1989, 1991), verläuft dieser Prozeß folgender­maßen:

Der/die TherapeutIn muß dem/r Klienten/in ermöglichen, zu ihm eine Übertragungsbeziehung herstellen, in der der/die KlientIn das Skript auslebt und zugänglich macht. Über­tragung heißt, daß der/die KlientIn Kindheits-Ich-Zustand oder Eltern-Ich­Zustand (Zustände) besetzt und von aus das trans­aktionelle Geschehen zum/r Therapeut entwickelt.

Allmählich aber, mit dem Ablösen der Übertragung vom The­rapeuten und mit dem Durcharbeiten und Auflösen der alten Traumatisierungen und Fixierungen entsteht mehr und mehr eine "Realbeziehung" zwischen TherapeutIn und KlientIn. Das heißt, daß die Beziehungsebene mehr und mehr zwischen dem integrierten Erwachsenen-Ich des/r Therapeuten/in und dem in­tegrierten Erwachsenen-Ich des/r Klienten/in ver­läuft, daß also mehr und mehr zwei reale Personen von hier und heute mit ihren angemessenen Denkvorgängen, Fühl- und Verhal­tensweisen von hier und heute einander gegenüber­sitzen. Der Weg der Therapie verläuft also vom Aufbau der Übertragungsbeziehung über das Ausleben, Durcharbeiten und Ablösen der Übertragung zur Realbeziehung. Der aktuelle Stand des Therapieprozesses kann also mittels Ich-Zu­stands-­Diagnose bestimmt werden - mit ihrer Hilfe köÜbertragungs-Transaktionen (offene wie gedeckte) von übertragungsfreien Transaktionen unterschieden werden.

 

Berne nennt - geordnet in hierarchischer Form - vier Formen der Diagnose von Ich-Zuständen.

 

  1. Die Verhaltensdiagnose
  2. Die soziale Diagnose
  3. Die historische Diagnose
  4. Die phänomenologische Diagnose

Lassen Sie uns alle diese vier Formen ausführlich betrach­ten.

Verhaltensdiagnose

Wie der Name sagt, ist dabei das sichtbare Verhalten des/r Klienten/in das Kriterium für die Diagnose. Gemeint damit sind Worte, Tonfall, Gestik, Mimik, Körperhaltung und ande­res mehr. Im Gegensatz zur landläufig vereinfach Betrachtungsweise umfaßt diese Form der Diagnose aber mehr als einfach die Zuordnung zu "kindlichem, elterlichem, erwachsenem Verhalten".

Es gibt viele verschiedene Verhaltensweisen gesehen, die dem Komplex 'Kindheits-Ich-Zustand (oder -Zustände)' zuzuordnen sind und doch  können das höchst unter­schiedliche Verhaltensweisen sein. Ein 12jähriges, ein 2jähriges, ein 8jähriges oder ein 5jähriges Kind verhalten sich ja auch höchst unterschiedlich. Die grobe Katego­ri­sierung "kindliches Verhaltens", wie sie oft vorgenommen wird, kann also unmöglich ausreichen, um den Ich-Zustand präzise zu diagnostizieren und um therapeutisch sinnvoll zu intervenieren. Therapeutisch sinnvoll intervenieren heißt unter Berücksichtigung des bisher Gesagten:

die kritischen skriptentscheidenden, traumatisierenden, fixierten Punkte im Leben des/r Klienten/in herausfinden. Das bedeutet, die Punkte, an denen Kontaktunterbrechung und Gefühlsabwehr stattfand, herauszufinden und so damit umzugehen, daß voller Kontakt zu sich selbst, also zu den eigenen Erinnerungen, Gefühlen und Verhaltensweisen, und zum Gegenüber hergestellt werden kann. Dazu muß ich aber wissen, ob ich es mit einem 2jährigen, einem 6jährigen, einem 12jährigen, einem 15jährigen Kind zu tun habe.

 

Dazu wiederum ist genaue Kenntnis entwicklungspsychologi­scher Stadien notwendig. Damit läßt sich dann mittels Ich-­Zustands-Diagnose auch eine Diagnose der Art der psy­chischen Störung vornehmen, mit der wir es zu tun haben: ob eine frühe Störung (psychotische oder Persönlich­keits­störung) vorliegt oder eine später auftretende neu­rot Störung.

Gehen wir zum Beispiel von Gerda zurück. Gerda leidet unter einer schweren Borderline-Persönlichkeitsstörung, das heißt, einer Störung, die entwicklungspsychologisch ihre Wurzeln etwa im Alter zwischen eineinhalb und zwei bis drei Jahren hat. Ich stütze mich bei der Beschreibung dieser Vorgänge auf das entwicklungspsychologische Modell von Mahler/Pine/Bergmann (1980), das für die ersten drei Jahre des Lebens für mich das praktikabelste ist.

Im Alter zwischen etwa einem und eineinhalb Jahren lernt das kleine Kind laufen. Es erreicht damit einen absoluten Höhepunkt seiner Fähigkeiten, die Welt zu beherrschen. Es entwickelt die narzißtische Idee, ab jetzt alles tun zu können und niemanden mehr zu brauchen. Daran schließt sich an die narzißtische Kränkung der sogenannten Wiederannä­herungsphase zwischen eineinhalb und zwei bis zweieinhalb Jahren. Das Kind entdeckt, daß es keineswegs allmächtig ist, nur weil es laufen kann und sich damit weg von der Mutter bewegen kann. Es entdeckt, daß es nach wie vor sehr klein und hilfsbedürftig ist und daß es wieder zurück muß zur Mutter und sie noch braucht. Dieses Zurückmüssen zur Mutter ist, wie gesagt, eine große Kränkung des frisch entwickelten Allmachtsanspruchs und auch gleichzeitig eine innere Bedrohung der neuen Autonomie. Das wiederum bedingt eine Angst, wieder von der Mutter in die symbiotische Ver­schmelzung zurückgezogen zu werden. Im Kind entsteht eine Ambivalenz zwischen Brauchen und Nicht-brauchen- Wollen, zwi­schen Sehnsucht nach Hin zur Mutter und dem Wunsch Weg von der Mutter. Wenn mit dieser Ambivalenz von seiten der Mutter her nicht angemessen umgegangen wird, das heißt, wenn dem Kind diese Ambivalenz und ihre Bewältigung nicht erlaubt wird, wenn das Kind es beispielsweise mit einer Mutter zu tun hat, die es, wenn es weg will, nicht wegläßt und wenn es herkommt, nicht herkommen läßt, - dann entwickeln sich mit hoher Wahrscheinlichkeit schwere af­fektive emotionale Störungen. Solche Störungen, narziß­tische und/oder Borderline-Per­sönlichkeitsstörungen, - grob gesagt -gekennzeichnet von einer Unfähigkeit, so­wohl Distanz wie Nähe zu Menschen zu erreichen, von einer Unfähigkeit, ein tragfähiges Selbstgefühl und Selbst­wertgefühl zu entwickeln, und von einer hohen Empfind­lichkeit und Kränkbarkeit.

Gerda hat in dem Vorgang, den ich beschrieben habe, genau diese Phase von Trennung und Wiederannäherung durchlebt: sie wollte weg von mir, ich war nicht gut genug für sie, sie wollte ganz allein in der Welt zurechtkommen und war zornig über die Kränkung, die es für sie - oder besser für das eineinhalbjährige Mädchen in ihr - bedeutete, mich den­noch sehr zu brauchen. Als die von ihr so herbei­ge­wünschte Trennung physisch vollzogen war - die Stunde war zu Ende und sie fuhr weg von mir - tauchte in ihr die Sehnsucht, das Brauchen, der Wunsch nach Wiederannäherung auf, und sie schrieb mir die Karte. Innerlich aber erlebte sie die Kränkung wieder, die sie seinerzeit bei ihren Ver­suchen der Wiederannäherung mit ihrer Mutter erlebt hatte: sie wurde nicht willkommen geheißen, das heißt, sie durfte nicht lernen zu kommen und zu gehen, eigenständig zu sein und nah zu sein, wie es ihren Bedürfnissen entsprach. Die Person, die sie so doppelt gekränkt hatte, ihre Mutter, die sie trotz ihres Bestrebens nach Unabhängigkeit so brauchte und die sie doch nicht wieder an sie heranließ, projizierte sie als Übertragung auf mich.

 

Ich habe das und die entwicklungspsychologische Charakte­ri­sierung dieser Phase so ausführlich beschriebe deutlich zu machen, warum es notwendig ist, über alle Phasen des Entwicklungsverlaufs detailliert Bescheid zu wissen, wenn man eine exakte Verhaltensdiagnose der Ich-­Zustände vornehmen will.

Aber noch eine Besonderheit ist bei der Verhaltensdiagnose zu beachten:

Wir haben davon gesprochen, daß im Eltern-Ich die gesamte elterliche Person introjiziert, also einverleibt wird. Das heißt, daß wir im Eltern-Ich zum Beispiel Vater oder Mut­ter mit allen drei Ich-Zuständen finden, mit Eltern-Ich, Erwachsenen-Ich und Kindheits-Ich. So hat das Kind diese Person in sich aufgenommen.

 

Ein Beispiel dafür:

Eine andere Klientin von mir, die an sich eine sehr klar denkende und kluge Frau war, reagierte von Zeit zu Zeit in bestimmten Situationen, nämlich in solchen Situationen, wo sie mich als therapeutischen Beistand sehr brauchte, sehr verwirrt. Spontan verhaltensdiagnostisch wäre diese Ver­wirrung durchaus einzuordnen gewesen als ein Kindheits­Ich-Zustand von beiläufig zwei oder drei Jahren. Bei nähe­rer Exploration - bei anderen Formen der Ich-Zu­stands-­Di­ag­nose, wie ich sie später noch ausführen werde - je­doch keine oder kaum Verwirrungszustände bei dem kl Mädchen zu finden, das sie einmal war. Was aber sehr wohl zu finden war, war, daß ihre Mutter in höchstem Maß ver­wirrt und verwirrend agierte und reagierte, besonders dann, wenn meine Klientin als kleines Mädchen sie brauch­te. Diese Verwirrung der Mutter wiederum rührte sehr wohl aus einem Lebensalter (der Mutter) von zwei bis drei Jah­ren her. Was also passierte, wenn die Klientin spürte, daß sie mich brauchen würde war, daß sie - analog dem Übertra­gungs­mechanismus, den ich vorher dargestellt habe hilfsbedürftiges Kind auf mich projizierte und selbst das Mutter-Introjekt aktivierte: also vom Kindheits-Ich-­Zu­stand ihrer inneren Mutter aus agierte.

Dieser Gesichts­punkt zeigt uns, daß die Verhaltensdia allein noch nicht ausreichen kann, um den Ich-Zustand zu spezi­fizie­ren.

 

Soziale Diagnose

An diesem Punkt der Ich-Zustands-Diagnose steigen wir intensiv in das transaktionelle Geschehen des Therapie­prozesses ein. Transaktion ist nach der Definition die kleinste Einheit sozialer Kommunikation, bestehend aus einem Stimulus und einer Reaktion. Transaktionelle Stimuli erfolgen von bestimmten Ich-Zuständen aus und sind an be­stimmte Ich-Zustände gerichtet (das haben wir bereits un­ter der Verhaltensdiagnose gesehen) - und auch trans­ak­tionelle Reaktionen erfolgen aus bestimmten Ich-Zu­stäund gehen wieder zurück an andere Ich-Zustände. Und dabei ist zu beachten, daß die Reaktion vom Stimulus mitbeein­flußt wird. Das heißt: in unseren transaktionellen Reak­tionen neigen wir dazu, komplementär, ergänzend zu sein. Wir neigen dazu, aus dem Ich-Zustand zu antworten, der angesprochen wurde.

Warum aber ist das so? Es erklärt sich ebenso aus dem Phänomen der Übertragung, wie sich auch der transaktio­nelle Stimulus daraus erklären läßt. Übertragung ist immer nur eine Seite des Prozesses, die andere, ergänzende ist die "Gegenübertragung".

Gegenübertragung wird oft definiert als der Vorgang, daß  der/die TherapeutIn eigene ungelöste Probleme auf den/die Klienten/in oder Patienten/in überträgt, projiziert. Da dieser Vorgang aber genauso eine Übertragung wie die des/r Klienten/in ist, und nicht eine Gegenübertragung, wird dafür mehr und mehr die Bezeichnung "therapeutische Über­tragung" oder "Übertragung des/r Therapeuten/in" ge­braucht.

Mit Gegenübertragung meine ich etwas anderes:

Ich habe darüber gesprochen, was Übertragung bedeutet: daß der/die KlientIn auf den/die Therapeuten/in projiziert - entweder seine/ihre Elternfiguren oder einen seiner/ihrer Kindheits-Ich-Zustände. KlientInnen tun das nicht beiläu­fig und am Rande, sondern mit hoher Intensität. Diese In­tensität erklärt sich daraus, wie wichtig es für Menschen ist, ihr Skript durchzuspielen und zu wiederholen (um die Abwehr aufrechtzuerhalten). Außerhalb ihres Bewußtseins üben daher Menschen auf andere Menschen einen hohen Sog aus, sich in ihr Skript hineinzubegeben. Der/die Thera­peuten/in empfängt intensive Impulse des/r Klienten/in, die den/die Therapeuten/in ins Skript des/der KlientIn hineinmanipulieren, dazu einladen sollen, sich seinem/ ihrem Skript bzw. seinen/ihren Projek­tionen anzupa Unsere Reaktionen auf transaktionelle Stimuli des/r Kli­enten/in (verbale oder nonverbale) haben daher keineswegs nur mit ungelösten Dingen aus unserer eigenen Geschichte zu tun, sondern sind vielmehr sehr oft der Impuls, uns den Projektionen des/r Klienten/in anzupassen. Ein Beispiel dafür:

In der Arbeit mit einem Klienten von mir mit angstneuro­tischer Symptomatik, mit dem ich ansonsten gut in Kontakt war, wurde ich zu einer bestimmten Zeit der Therapie in jeder Stunde immer furchtbar müde, sodaß ich es wirklich schwer hatte, nicht einzuschlafen. Anfangs vermutete ich einfach, ich hätte zu wenig geschlafen, oder zu viel ge­arbeitet. Ich verlegte die Stunden mit ihm auf eine Ta­geszeit, zu der ich üblicherweise meine wachste Zeit habe - auch das nützte nichts. Ich wurde todmüde, sobald der Klient sich mir gegenüber hinsetzte. Dann packte mich das schlechte Gewissen: Ich bringe ihm nicht genügend Inter­esse entgegen, sagte ich mir. In mehreren Supervisions­stunden konnte ich jedoch keinen nennenswerten Eigenanteil bei mir herausfinden. Auf Empfehlung meines Supervisors stellte ich aber dem Klienten schließlich die folgende Frage:

"Ist es dir als Kind jemals passiert, daß jemand einge­schlafen ist oder sehr gelangweilt war, wenn du versucht hast, ihm von dir zu erzählen?"

Die Antwort meines Klienten war verblüffend:

"Ich weiß zwar nicht, warum du mich das fragst, aber oft und oft am Abend, wenn mein Vater noch zu mir ans Bett kam, wenn er aus der Arbeit nach Hause gekommen ist, habe ich während dem Erzählen plötzlich gemerkt, daß der Kerl eigentlich schläft."

 

Eine weitere Form der Gegenübertragung kann auch darin bestehen, daß der/die TherapeutIn abgewehrte Gefühle des/r Klienten/in selbst zu spüren beginnt. Oft kann das auch auf somatischem Weg geschehen. Zum Beispiel spüre ich häufig in der Therapiesitzungen, wenn es um Themen wie Verleug­nung geht, unangenehme Gefühle im Oberbauch i Gallen­gegend. Bildlich gesprochen bedeutet das, daßetwas übernehme, was der/die KlientIn geschluckt hat an Lügen oder Verleugnung und was er/sie nicht verdauen kann.

So betrachtet, erlauben unsere Gegenübertragungsreaktionen uns eine Menge Rückschlüsse auf die möglicherweise besetz­ten Ich-Zustände des/r Klienten/in. Unsere Langeweile kann uns darüber erzählen, wie er niemals Interesse gefunden hat. Unsere Ärgerlichkeit kann darauf hindeuten, wie der/ die KlientIn als Kind ärgerlich behandelt wurde. Unsere Hilflosigkeit und Verzweiflung können uns die Geschichte erzählen, wie Mutter oder Vater des/r Klienten/in sich hilflos und verzweifelt mit ihm als Kind gefühlt haben usw.. So wird die Analyse der Transaktionen im therapeu­tischen Prozeß zu einem komplexen Vorgang der Analyse von Übertragung und Gegenübertragung als genauerer Form der Ich-Zustands-Diagnose. Dabei wird der/die TherapeutIn selbst zum Instrument des Prozesses. Geschult durch Eigen­therapie und Supervision, wird es zu einem wesentlichen Teil seiner/ihrer Aufgabe, genau auf seine/ihre Impulse auf den/die Klienten/in zu achten, um daraus Rückschlüsse auf Ich-Zustands-Beset­zungen, Abwehr und Fixierungen das Skript) des/r Klienten/in schließen zu können. Wohl gemerkt geht es dabei häufig nur um Impulse; es ist davon abzuraten, den Gegenübertragungsreaktionen immer spontan nachzukommen, sondern der Umgang damit und die Reaktion auf den/die Klienten/in ist höchst differenziert anzuset­zen. Noch einmal betonen muß ich die Wichtigkeit der eige­nen Therapie und der eigenen Supervision, um allmählich auseinanderhalten zu können, was eigener Anteil des/r The­rapeuten/in und was möglicherweise tatsächlich Gegenüber­tragung ist.

Schauen uns wir uns das wieder an Gerdas Beispiel an:

Mein Impuls (wohl gemerkt mein Impuls, keineswegs meine Reaktion) war, sehr wütend zu werden und zu sagen: "Wenn du mir so kommst, dann will ich überhaupt keine Karte oder sonstige Annäherungsversuche von dir!" - und damit wäre ich ja sehr ähnlich der elterlichen Reaktion gelegen, die Gerda, im folgenden mit ihrer Mutter beschrieben hat. ("Ja, jetzt kommt sie wieder, das hättest du dir vorher überlegen müssen, bevor du so frech warst.") Dieser Impuls gibt mir einerseits einen deutlichen Hinweis auf Gerads besetzten Ich-Zustand (nämlich den eines kleinen Kindes, das eine Wiederannäherung versucht), andererseits auf die Art und wie Weise, wie möglicherweise mit ihrer Wiederan­näherung umgegangen wurde.

Wie gesagt, diese Art des Ausnutzens der Gegenübertragung erfordert einigermaßen Kenntnis der eigenen Psyche und des eigenen innerpsychischen Materials.

Historische Diagnose

Wenn wir nun weitergehen wollen in unserer Erhärtung der Hypothese über einen bestimmten Ich-Zustand, können wir das durch Fragen an die bewußte Erinnerung unseres/r Kli­enten/in tun. Das kann so geschehen wie in dem Beispiel mit dem ermüdenden Klienten von vorhin, aber auch in ver­schiedener anderer Form. Allgemein gesagt, nimmt die hi­storische Diagnose in verbal-kognitiver Form,das auf, was der/die TherapeutIn in der Verhaltensdiagnose sieht und in der sozialen Diagnose spürt.

Neben der Erhärtung der Hypothese über den vom/von der Kli­enten/in besetzten Ich-Zustand ist die Aufgab historischen Diagnose folgende:

Über das Erwachsenen-Ich sollen kognitive Verbindungen hergestellt werden zwischen der Wiederholung des Skript­geschehens im Hier und Jetzt und den ursprünglichen frühen skriptbildenden Erfahrungen. Damit wird der Boden vorbe­rei­tet für ein gefühlsmäßiges Wiedererleben und Durch­arbeiten der frühen Situation, aber sozusagen ein "Zwi­schenschritt" über die Kontrolle des Erwachsenen-Ichs ein­gelegt. Dabei ist es wichtig, die Balance zu halten zwi­schen einem behutsamen Vortasten in Richtung der abgewehr­ten Gefühle und einer kognitiven Verarbeitung der Tatsa­che, daß die gegenwärtige Situation die Wiederholung einer früheren darstellt. Es kommt also darauf an, den/die Kli­enten/in einerseits nicht zu schnell in noch nicht verar­beit­bare regressive Gefühlszustände hineinzudrängen, ande­rerseits nicht eine neue Abwehr über das Denken aufzubauen (wenn der/die KlientIn letztlich nur imstande ist, darüber zu denken, daß er/sie etwas wiederholt, ohne an die abge­wehrten Gefühle heranzukommen, wird er/sie nichts wirklich lösen können).

An dieser Stelle muß darauf hingewiesen werden, daß Ich-­Zustands-Diagnose und die damit verbundenen therapeu­tischen Vorgänge keineswegs immer der Inhalt einer einzel­nen Stunde ist. Im Gegenteil:

Beispielsweise zwischen der sozialen und der historischen Diagnose oder auch zwischen der historischen und der vier­ten Stufe der Ich-Zustands-Diagnose, der phänomeno­logi­schen Diagnose, können oft große Zeiträume liegen. Ich-Zu­stände genau zu diagnostizieren ist oft die Arbeit vieler, vieler Therapiestunden und eines langes Prozesses.

In Gerdas geschildertem Fall war die Frage, die zur historischen Diagnose führte:

"Kann es sein, daß das keine gewohnte Erfahrung für Dich ist - mit Zorn und freundlichen Gefühlen willkommen zu sein?" Die Beantwortung dieser Frage führte in diesem Fall sehr schnell zum vierten Punkt der Ich-Zustands-Diagnose, der phänomenologischen Diagnose. Allerdings ist zu beach­ten, daß bereits ein langer Therapieprozeß hinter uns lag.

 

Phänomenologische Diagnose

"Phänomenologisch" bedeutet: das Phänomen wird sichtbar. Das bedeutet, der/die KlientIn erlebt den besetzten Ich-­Zu­stand bewußt wieder als ein Relikt aus vergangener (oder einen introjizierten Eltern-Ich-Zustand). Dieses Sta­dium der Ich-Zustands-Diagnose ist das, was als "re­gres­sives Durcharbeiten" oder auch in TA "Neuentschei­dungs­arbeit" verstanden wird. Damit ist nicht so sehr (punktuelle) Neuentscheidung im Sinn der Gouldings gemeint, sondern vielmehr die Entscheidung, die ursprüng­liche Abwehr aufzugeben und sich mit den abgewehrten Ge­füh­len auseinanderzusetzen, sie wiederzuerleben und das unbewältigte Erlebnis zu einer Lösung zu bringen. Vereinfacht gesagt erreicht man die phänomenologische Ich-­Zustands-Diagnose mit der Aufforderung: sei wiede Kind von (z.B.) drei Jahren, und fühle, wie sich das an­fühlt (sei dein Vater von damals! - und erlebe <in der Folge> wieder, wie sich das Kind von damals in Auseinan­dersetzung mit dem Vater fühlte). Natürlich sind das sche­matische Aufforderungen, der tatsächliche Vorgang geht we­sentlich subtiler und intensiver vor sich. Beispiele dafür finden sich entweder in dem Buch von Erskine/Moursund (Erskine/Moursund 1991)oder auch in meinem Buch (Sejkora 1989).

Lassen sie es mich am Beispiel von Gerda deutlich machen. Auf meine Frage, ob die Erfahrung bei der Wiederannäherung willkommen zu sein, etwas Fremdes für sie als Kind gewesen sei, antwortete sie:

G:Weder noch! Wenn ich zornig und trotzig war, habe ich ins Kammerl müssen. Und raus habe ich erst dürfen, wenn ich wieder brav war und mich entschuldigt habe. Wenn ich dann irgendwie versucht habe, wieder an die Mama heranzukommen, hat sie gesagt: Ja jetzt kommt sie wieder, das hättest Du Dir vorher überlegen müssen, bevor Du so frech warst.

 

Th: Das muß schlimm für dich gewesen sein!

G: Schlimm? Absolut unerträglich!

Th: Wie hat sich das angefühlt?

G: Unerträglich, sage ich ja!

Th: Das kann ich mir vorstellen, daß das Gefühle waren, die absolut nicht zu ertragen waren.

G: Es ist so, wie wenn es dich zerreißt!

Th: Ja! Wie wenn es dich zerreißt - Wie alt bist du in dieser Erinnerung?

G: Vielleicht drei oder vier oder auch jedes andere Alter. Das hat sich hunderttausend Mal wiederholt....

Th: Ja. Und wie fühlt sich das an, wenn du sagst, das hat sich hunderttausend Mal wiederholt?

G: Es ist so scheußlich ... Ich weiß nicht, warum sie das überhaupt mit mir gemacht hat. Hat sie mich überhaupt nicht lieb gehabt?

Th: Willst du noch einmal das kleine Mädchen von drei sein und diese Gefühle hier wiedererleben.

G: Nein, will ich absolut nicht!

Th: Ich kann dich gut verstehen. Aber ich weiß nicht, ob es so eine Erlösung für das kleine Mädchen geben kann, das sich so nach Erlösung sehnt.

G (ihre Augen füllen sich mit Tränen): Wieso redest du von Erlösung? Ach Gott, wäre das eine Erlösung, wenn sie endlich aufhören würde, bös zu sein und mir verzeiht ...

Th: Ja. Sei das kleine Mädchen, dessen Mutter ihm nie verzeihen kann.

G (fängt an zu weinen): Es ist so schlimm, Mama! Ich weiß nicht mehr ein und aus! Wenn ich einen Fehler mache, ist alles vorbei. Nicht einmal Fehler - ich weiß oft gar nicht, was ich falsch gemacht habe und du bist auf einmal bös und alles ist aus.

In der Folge arbeiten wir an Gerdas Gefühlen als 3jährige:

Verzweiflung, Wut, Angst kommen an die Oberfläche. Schließlich nach Beendigung dieser Arbeit, wendet sie sich an mich:

 

G: Kannst du mir verzeihen, daß ich in der letzten Zeit so wütend auf dich war?

Th: Ja, gerne. Du bist hier immer willkommen - auch wenn du wütend bist. Ich mag dich auch mit deiner Wut.

Alle Formen der regressiven Arbeit mit dem Kindheits-Ich-­Zustand sind Formen der phänomenologischen Diagnose. Diese Form der Ich-Zustands-Diagnose ist die letzte Verifizie­rung der Hypothese über den vom/von der Klienten/in be­setzten Ich-Zustand. Für den Eltern-Ich-Zustand stellt die phänomenologische Diagnose die Arbeit mit der verinner­lichten Eltern-Person dar:

Dabei ist der/die KlientIn seine Mutter oder sein Vater, so wie er sie oder ihn erlebte, und der/die TherapeutIn arbeitet mit dieser Eltern-Person (vgl. Erskine/Moursund 1991, Sejkora 1989, Christoph-Lemke 1991).

Die Ich-Zustands-Diagnose führt also von einer Hypothese zu ihrer schrittweisen Verifizierung oder Falsifizierung. Zugleich stellt dieser Weg die Methode dar, die im Hier und Jetzt unangemessenen Ich-Zustände zu überwinden, die Abwehr zu lösen, und mit dem/r Therapeuten/in eine Realbe­ziehung auf Erwachsenen-Ich-Ebene herzustellen. Dadurch wird die Ich-Zustands-Diagnose also auch zu einer Methode, um den Stand der Therapie zu überprüfen bzw. den Prozeß voranzubringen. Damit wird die Ich-Zustands-Diagnose zur Grundlage der Analyse der Transaktionen, zur Grundlage der Analyse des Austauschprozesses zwischen KlientIn und The­rapeutIn, des Prozesses der Übertragung und Gegenü­ber­tra­gung und erst dadurch wird die Therapie, die wir betrei­ben, zu dem, was der Name wirklich bedeutet:

TRANSAKTIONSANALYTISCHE BEHANDLUNG

 

Literatur:

  • BERNE, E.: Transactional Analysis in Psychotherapy. New York 1961
  • CHRISTOPH-LEMKE, Ch.: Therapie mit den inneren Eltern.In: SELL, M.        (Hrsg.): Geschichte und Transaktionsana­lyse. Symposium 10 Jahr    INITA, Hannover 1991
  • ERSKINE,R.G.: Inegrative Psychotherapy. Workshop, München 1987
  • ERSKINE,R.G.: Ego Stucture, Intrapsychic Function and Defense             Mechanisms. A Commentary on Eric Berne's Original Concepts. In:        Transactional Analysis Journal 18
  • ERSKINE,R.G.: Object Relations Theory and Relationship. Therapy.          Workshop, München 1990
  • ERSKINE,R.G.: Transference and Transactions. Critique from an             Intrapsychic and Integrative Perspective. In: Transactional            Analysis Journal 21
  • ERSKINE,R.G./MOURSUND,J.: Kontakt, Ich-Zustände, Lebensplan.              Paderborn 1991
  • FREUD,S.: Zur Dynamik der Übertragung (1912)
  •    Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen                   Behand­lung (1913)
  •    Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten (1914)
  •    Bemerkungen über die Übertragungsliebe (1915)
  •    Zur Frage der Laienanalyse (1926)
  • GREENSON, R.R.: The Technique and Practice of Psychoanalysis, Vol. I.     New York 1967
  • MAHLER,S.M./PINE,F./BERGMAN,A.: Die psychische Geburt des Menschen.       Symbiose und Individuation. Fischer TB, 1980
  • MOISO,C.: Ego States and Transference. In: TAJ 15
  •    Ego State Transference and the TA Psychodynamic Approach-an            Over­view. Eric Berne Memorial Scientific Award Acceptance Spee    In: TAJ 18
  • SEJKORA,K.: Männer unter Druck. Wege aus typisch männlichen               Lebenskonflikten. Salzburg 1989
  • SEJKORA,K.: Therapieverlauf, Therapieplanung und therapeutische           Beziehung. In: SELL, M. (Hrsg.):Geschichte und Transaktionsana­   lyse. Symposium 10 Jahre INITA,Hannover 1991

 

Seite drucken Seite weiterleiten
nach oben