30 Das Wiederentdecken des Inneren Kindes

Das Wiederentdecken des Inneren Kindes
Neugier und Freude durch das Überwinden von Scham wiederfinden

Vortrag auf der Kinder- und Jugendlichentagung 2017 des VPA

Linz, Oktober 2017

Das kannst du nicht sein
 
Ich erzählte ihnen
Wenn ich groß bin
Werde ich kein Wissenschaftler
Oder jemand, der Nachrichten im Fernsehen liest
Nein, eine Million Vögel werden durch mich hindurch fliegen
Ich werde ein Baum!
 
Sie sagten,
Das kannst du nicht sein. Nein, das kannst du nicht sein
 
Ich sagte ihnen
Wenn ich groß bin
werde ich kein Pilot, kein Tänzer
Kein Anwalt und kein Showmaster.
Nein, riesige Wale werden in mir schwimmen
Ich werde ein Ozean!
 
Sie sagten
Das kannst du nicht sein, nein, das kannst du nicht sein.
 
Ich sagte ihnen
Ich werde kein DJ, kein Computerprogrammierer
kein Musiker und kein Kosmetiker
Nein, Flüsse werden durch mich hindurchströmen
Ich werde die Heimat der Adler sein
Dann bin ich voller Schlupfwinkel, Verstecke, Täler und Quellen
Ich werde ein Gebirge
 
Sie sagten,
Das kannst du nicht sein. Nein, das kannst du nicht sein.
 
Ich fragte sie:
Was glaubt ihr eigentlich, wer ich bin?
Nur ein Kind, sagten sie,
Und Kinder werden immer  
zumindest irgendetwas,
Was wir möchten.
 
Sie verstehen mich nicht.
Ich werde ein Stall, wenn ich das will, nach frischem Heu duftend
Ich werde eine verlorene Lichtung, wo die Einhörner immer noch spielen
Sie erkennen nicht, dass ich jedes Ziel erreichen kann.
Sie erkennen nicht, dass mitten unter ihnen
Ein Magier lebt

Diese Zeilen des englischen Dichters Brian Patten erfassen es genau, worum es in diesem Vortrag geht: das Verschütten und (schlussendlich) das Wiederentdecken des Inneren Kindes.

Wie mag es dem Helden dieses Gedichtes - nehmen wir an, es ist ein kleiner Junge - wie mag es ihm angesichts dieser ernüchternden und fantasielosen Botschaften ergehen? Er träumt seine Träume, entwickelt wunderbare Bilder von sich selbst und seiner Zukunft - und alles, was er zu hören bekommt ist dieses stupide und einfallslose „das kannst du nicht sein.“ Versuchen Sie einen Moment lang, sich in ihn hineinzudenken: Sie sprühen vor Fantasie, vor Kreativität, Sie sind begeistert von Ihren Ideen und Einfällen. Sie malen sich das so richtig aus, wie Sie ein Baum sind, ein Ozean, ein Gebirge voller Täler und Schlupfwinkel. Ihre Wangen glühen richtiggehend vor Freude darüber, diese Einfälle ihren Eltern mitzuteilen, die mit Ihnen mitträumen sollen. Und alles, was Sie zu hören bekommen, ist „das kannst du nicht sein“. Stattdessen will man Sie in ein enges Korsett von langweiligen Berufen und einer langweiligen Existenz pressen. Was fühlen Sie da? Sind Sie traurig? Ärgerlich? Verletzt? Macht Ihnen das Angst?

Wahrscheinlich etwas von jedem dieser Gefühle. Und wenn Sie noch weiter in sich hineinforschen - gibt es da vielleicht noch eine andere Emotion? Eine, von der Sie am liebsten nichts wissen würden? Eine, die Ihre Wangen wieder glühen lässt, aber nicht vor Freude und Begeisterung? Eine, mit der Sie am liebsten im Boden versinken und gar nicht mehr da sein wollen? Das Gefühl, von dem ich spreche, ist das unangenehmste, das Menschen überhaupt erleben können: Scham. Vielleicht merken Sie, wie Sie dieses Wort gar nicht hören wollen, wie Sie sich von diesem Gefühl ablenken wollen. Und wie Sie sich und etwas Kostbares von sich verstecken wollen: Ihre Echtheit, Ihre Authentizität, Ihre Lebensfreude, Ihre Kreativität - Ihr Inneres Kind.

Ich möchte Ihnen in diesem Vortrag die Geschichte eines Mannes erzählen, der zu mir zur Psychotherapie kam, der sein eigenes Kind verschütten musste und der es wiedergefunden hat - die Geschichte von Günther (das ist natürlich nicht sein richtiger Name). Doch besser ist es, wenn nicht ich sie erzähle, sondern er selbst.

Ich bin Günther, und ich bin Anfang 50. Vor zwei Jahren war ich schon in Therapie, damals hatte ich Schwierigkeiten an meinem Arbeitsplatz. Ich hatte große Angst, rauszufliegen, wegen eines Fehlers, der mir angelastet wurde, obwohl ich mir keiner Schuld bewusst war. Die Angst quälte mich Tag und Nacht, und die Therapie hat mir sehr geholfen. Doch heuer im Frühjahr kam sie, die Angst, wieder, in veränderter Form. Ich wurde von gestern auf heute von Tinnitus überfallen. Ich ließ mich im Krankenhaus aufnehmen, aber das Rauschen in meinem Ohr verschwand nicht. Doch schlimmer als das Rauschen an sich war diese entsetzliche Angst, es könnte niemals wieder verschwinden und mir meine Lebensfreude rauben. Ich konnte in der Nacht nicht mehr schlafen und hörte ununterbrochen in mich hinein. Ich war verzweifelt, und so ging ich wieder zu meinem Therapeuten. Als er mir da so gegenübersaß und mir aufmerksam zuhörte, konnte ich nicht anders: ich begann nach zwei Minuten bitterlich zu weinen.
Günther: Ich kann es selbst nicht glauben. Sie sind der erste Mensch, der mich weinen sieht, so lange ich mich zurückerinnern kann. Ich habe überhaupt nicht gewusst, dass ich weinen kann.
Therapeut: Weinen Sie ruhig. Lassen Sie es zu. Ich bin hier, und ich höre Ihnen zu.
Günther: Meine Frau hört mir ja auch zu, aber ich kann sie doch nicht dauernd damit belasten.
Und dann sagte er - mein Therapeut - den Satz, der sich als Schlüssel zeigen sollte:
Therapeut: Ihr Weinen fühlt sich nach einer sehr alten Traurigkeit an.
Günther: Woher wissen Sie das?
Therapeut: Ich kann es fühlen. Ich habe es es all die Zeit über gespürt, in der wir miteinander gearbeitet haben, wieviel Traurigkeit in Ihnen ist.
Günther: Wie können Sie das wissen?
Therapeut: Indem ich es spüre.
Günther: Sie spüren meine Traurigkeit?
Therapeut: Ja. Ich fühle Sie mit Ihnen.

Ich war erstaunt und berührt und fing wieder an zu weinen. Wir hatten ja schon in unserer ersten Therapiephase über meine Kindheit gesprochen, über meinen strengen und unerreichbaren Vater und auch über die Alkoholkrankheit meiner Mutter. Ich hatte herausgefunden, dass mein Aufwachsen mit diesen beiden mich zu einem unsicheren und ängstlichen Menschen gemacht hatte. Aber was war mit dieser Traurigkeit? Eine sehr alte Traurigkeit, hatte er gesagt. Wieso alt? War mein gegenwärtiger Zustand nicht traurig genug – meine Befürchtung, keine Lebensfreude mehr zu finden? Womöglich meinen Beruf und meine Ehe zu verlieren, weil ich einfach nicht mehr schlafen konnte und nur mehr ein Häufchen Elend war? Als ich meinem Therapeuten diese Frage stellte, antwortete er mit einer Gegenfrage:
Therapeut: Wieviel Platz war denn in Ihrer Kindheit für Lebensfreude?
Günther: Na, im Grunde gar keine. Da war immer meine verzweifelte Mutter, und mein Vater war ja kaum da. Ich war ein sehr, sehr braves Kind und wollte meiner Mutter nicht noch mehr Schwierigkeiten bereiten.
Therapeut: Was für eine traurige Kindheit. Kein Platz für Lebendigkeit und Unbefangenheit, kein Platz, um einfach ein Kind zu sein.
Günther: Ja, schon, aber was hat das mit meinem Tinnitus zu tun, mit meiner Schlaflosigkeit und meiner Angst?
Therapeut: Ich weiß noch nicht, was es unmittelbar mit dem Tinnitus zu tun hat. Aber mit der Angst, die Sie haben und mit der Traurigkeit vielleicht schon.

Lassen wir Günther eine kurze Pause machen. Diese Tagung beschäftigt sich in ihren Vorträgen und Workshops mit Menschen, die Kinder oder Jugendliche sind. Ich richte hier einen Blick darauf, was aus diesen jungen Menschen geworden ist, wenn sie erwachsen sind und als Kinder nicht die Unterstützung bekommen haben, die wir ihnen als Professionelle geben können und wollen. Auch in ihnen, wie in uns allen, gibt es weiterhin ein Inneres Kind, eines, das seine lebendigen Anteile nicht genügend ausdrücken und ausleben kann. Der Begriff „inner child“ stammt ursprünglich von Eric Berne, dem Begründer der Transaktionsanalyse und beschreibt einen Zustand des Ichs, einen Ich-Zustand. Wir können noch zwei weitere unterscheiden: das „inner parent“, verinnerlichte Elternfiguren und andere wichtige Bezugspersonen – den Eltern-Ichzustand, und schließlich eine dritte Zustandsformen, die Berne „inner adult“ nennt. Der Erwachsenen-Ichzustand beinhaltet Fühlen, Denken und Verhalten, das dem Hier und Jetzt eines erwachsenen Menschen des jeweiligen Alters, Geschlechts, sozialen, kulturellen und Bildungshintergrund entspricht. Wenn Günther an seinem Tinnitus verzweifelt und glaubt, keine Lebensfreude mehr zu finden, entspringt das nicht seinem Erwachsenen-Ich. Als erwachsener Mann könnte er Wege finden, damit umzugehen. Seine Angst, seine Traurigkeit, seine Verzweiflung entsprechen einem hilflosen Kind, einem Kind etwa im Volksschulalter, einem Kind, in dessen Leben viel zu wenig Platz für gesunde Energie und Lebensfreude war.

Als Kinder sind wir im Wesentlichen von zwei zentralen Aspekten bestimmt: wir sind abhängig von anderen, vor allem von unseren Eltern, und wir sind an unseren eigenen Bedürfnissen orientiert. In einem gesunden Heranwachsen gelingt es uns, beides in Balance zu bringen. So können wir als Erwachsene autonom werden, indem wir mit realen Abhängigkeiten konstruktiv umgehen und unsere lebenswichtigen Bedürfnisse erkennen und sozial verträglich erfüllbar machen können. Wir integrieren unser Inneres Kind in unser erwachsenes Leben. Wenn das nicht gelingt, wenn wir traumatisiert werden durch einschränkende, verletzende und vor allem beschämende Lebensumstände, dann wird wieder und wieder der abhängige Teil unseres Inneren Kindes aktiv, während der lebendige, kreative und freie Teil weiter und weiter verschüttet wird. Wir entwickeln dann in einem komplexen Prozess aus unbewussten Entscheidungen ein Konzept, um mit diesem Leben umzugehen: den unbewussten Lebensplan, das Skript.

Doch gehen wir wieder zurück zu Günthers Geschichte.

Was mein Therapeut mir da erklärte, schien mir einleuchtend. Die Angst hatte mich tatsächlich mehr oder weniger mein ganzes Leben lang begleitet. Als Kind und als Jugendlicher hatte ich Angst vor der Schule, vor den Mitschülern, vor den Mädchen. Oder eigentlich Angst davor, im Leben zu versagen. Wenn meine spätere Frau nicht die Initiative ergriffen hätte, wären wir nie ein Paar geworden. Aus einem ängstlichen Kind hatte ich mich zu einem scheuen jungen Mann entwickelt. Lange Zeit hatte ich geglaubt, dem zu entkommen: in einer festen Beziehung, an einem sicheren Arbeitsplatz. Mit den Schwierigkeiten in meiner Arbeit – so meinte mein Therapeut – hätten mich die Ängste eingeholt und mit dem Tinnitus sei dieser Mechanismus jetzt doppelt und dreifach verstärkt wurden. Es leuchtete mir, wie gesagt, einerseits ein, andererseits wehrte sich etwas in mir dagegen, mich mit meiner trostlosen Kindheit zu beschäftigen. Immer wieder führten wir ähnliche Dialoge in den Therapiestunden:

Günther: Sie meinen also, meine heutige Angst resultiert aus einer Kindheit voller Angst?
Therapeut: Ja. Und nicht nur daraus: auch daraus, dass unter der Angst noch andere Gefühle stecken, die nicht sein durften.
Günther: Sie meinen, da ist noch etwas? Die Traurigkeit?
Therapeut: Ja, eine sehr tiefe Traurigkeit.
Günther: Darüber, dass ich kein lebenslustiges Kind sein durfte?
Therapeut: Ja. Eine Traurigkeit, die Sie nie jemandem zeigen konnten. Für die es keinen Trost gegeben hat.
Günther: Aber meine Kindheit ist ja vorbei. Sie war, was sie war, und ich kann es nicht ändern.
Therapeut: Nein, das können Sie nicht. Und ja, sie war was sie war. Und das ist sehr traurig.
Günther: Und wenn ich es betrauern würde, dann könnte ich wieder schlafen?
Therapeut: Mit großer Wahrscheinlichkeit.

Und an dieser Stelle wollte ich immer sagen: aber ich will nicht traurig sein! Doch ich zeigte mich brav und kooperativ.

Günther: Wie kann ich denn trauern?
Therapeut: Wir überlegen immer wieder auf der Ebene des Denkens. Ich vermute, das ist für Sie ihr ganzes Leben lang ein Ausweg aus allem gewesen, das schwierig war.
Günther: Ja, sicher. Das hat mir in der Schule geholfen und auch in meinem Beruf. Wenn ich Probleme lösen muss, dann benutze ich meinen Verstand. Über den war ich mir bis jetzt sicher. Aber jetzt befürchte ich, dass ich ihn verliere. Dass ich verrückt werde.
Therapeut: Das werden Sie nicht.
Günther: Wie können Sie da so sicher sein?

Sie merken, wie Günther versucht, der Berührung mit seinem Inneren Kind aus dem Weg zu gehen. In der Psychoanalyse würde man das, was er da zeigt, als „Widerstand“ bezeichnen. Sigmund Freud sagt dazu: "Wenn wir es unternehmen, einen Kranken herzustellen, von seinen Leidenssymptomen zu befreien, so setzt er uns einen heftigen, zähen, über die ganze Dauer der Behandlung anhaltenden Widerstand entgegen." So würde ich es nicht nennen: tatsächlich zeigt Günther mir all die Mechanismen, mit denen er gelernt hat, dieses verletztliche und verletzte Kind zu schützen, das er war und das in ihm bis heute weiterlebt und auf Erlösung hofft. Da sind Glaubenssätze („ich werde nie mehr Lebensfreude erleben“), Gefühle, die andere, scheinbar unerträgliche, überdecken (Angst statt Traurigkeit) und innere Mechanismen (denken statt fühlen, Anerkennung und Lob für Leistung, für Bravsein, statt Liebe für sein Menschsein). All das sind Bestandteile seines Skripts, seines unbewussten Lebensplans. Sie bilden ein Muster, das ihn sein Leben durch eine verzerrende Brille erleben lässt, nicht zuletzt auch die Therapiesituation. Sein Widerstand erzählt mir mehr über ihn und seine Inneres Kind als seine Zunge mir je erzählen könnte. Lassen wir Günther weiter berichten:

Ich ging damals drei Mal in der Woche zur Therapie. Einerseits beruhigte es mich jedesmal, die Zuversicht meines Therapeuten zu erleben, der sich so sicher war, dass ich aus dieser Zwangslage herauskommen würde und der mich konstant durch meine Verzweiflung begleitete. Andererseits wurde es mir immer peinlicher, dass ich keine Fortschritte erzielte – obwohl der Therapeut das anders sah. Aber meine Schlaflosigkeit ließ nicht nach, und die nach und nach auftauchenden Bilder aus meiner Kindheit quälten mich mehr und mehr und ließen mich erst recht nicht zur Ruhe kommen. Also machte ich einen Vorschlag.

Günther: Das ist ja sicher wichtig mit meiner Kindheit. Aber im Moment ist mir das alles zu viel, ich bin körperlich völlig erschöpft. Ich glaube, es ist besser, ich komme einmal zur Ruhe und mache eine Therapiepause.
Therapeut: Ich kann Ihren Wunsch gut verstehen – und gleichzeitig habe ich eine Frage an Sie: kann es sein, dass „das alles“, was Ihnen zu viel ist, mit einem ganz speziellen Gefühl zu tun hat?
Günther: Was meinen Sie? Die Angst? Die Traurigkeit?
Therapeut: Nicht nur. Kann es sein, dass Sie es als beschämend erleben, Sitzung für Sitzung hilflos und verzweifelt zu sein?
Günther: Ich bin mir einfach nicht sicher, ob das mit der Kindheit der richtige Weg ist.
Therapeut: Das beantwortet nicht meine Frage.
Günther: Was haben Sie nochmal gefragt?

Ich hatte es wirklich nicht gehört. Und das war mir erst recht peinlich. Noch bevor er die Frage wieder stellen konnte, fiel sie mir wieder ein: ob ich mich schämte, so vor ihm zu sitzen. Ja, das tat ich. Und ich wäre am liebsten aufgestanden und gegangen. Doch zum Glück wechselte er das Thema.

Therapeut: Lassen wir diesen Punkt. Was halten Sie davon, wenn wir die Therapie nicht ganz aussetzen und Sie fürs Erste nur mehr einmal in der Woche kommen?

Damit war ich einverstanden, und zugleich war es für mich wieder eine Niederlage, für die ich mich wieder schämte. Schämen – warum hatte er dieses Wort verwendet? Ich wollte es nicht hören, aber es verfolgte mich die nächsten Tage und auch die schlaflosen Nächte. Ja, ich schämte mich für so Vieles und vor so vielen Menschen. Vor meiner Frau und noch mehr vor meinen Kindern, weil ich so ein Schwächling war. Vor meinem Vorgesetzten, weil ich nicht überzeugend beweisen können hatte, dass der Fehler damals nicht meine Schuld war. Vor meinen Kollegen, weil ich im Krankenstand war. Ich ging vor, wie mein Therapeut es gemacht hätte: ich versuchte mich zurückzuerinnern, wann die Scham früher aufgetreten war. Besser wäre die Fragestellung gewesen, wann sie denn nicht da war. Studium, Tanzschule, Gymnasium, ich begann, meine Erinnerungen aufzuschreiben. Immer jünger wurde dieser Günther, an den ich dachte. Und dann rief ich bei meinem Therapeuten an, um wieder einen Termin zu vereinbaren.

Erst im Zuge der Arbeit an meinem gerade erschienen jüngsten Buch „Vom Lebensplan zum Beziehungsraum“ wurde mir selbst die entscheidende Bedeutung der Scham beim Blockieren der lebendigen Bedürfnisse des Inneren Kindes klar. Das Thema wurde in psychologischer und psychotherapeutischer Theorie und Methodik lange Zeit ebenso tabuisiert wie wir alle es in unserem täglichen Leben tun. Ich kann mich nicht erinnern, dass es in meiner Ausbildung und in meinen weiteren Weiterbildungen eine besondere Rolle gespielt hätte. Erst als ich die Bücher der amerikanischen Schamforscherin Brené Brown las, wurde mir die zentrale Bedeutung dieser „forgotten emotion“ klar (so der Titel einer der selten Artikel in der TA über Scham).

Brown schreibt in ihrem Buch „Die Gaben der Unvollkommenheit“ (2014):
¥ Scham ist ein subjektiv nahezu unerträgliches Gefühl.
¥ Sie bewirkt, dass wir uns nicht in unserem Handeln, sondern in unserem ganzen Menschsein als falsch empfinden.
¥ Scham ist universell und eine der ursprünglichsten menschlichen Emotionen, die wir erleben.
¥ Die einzigen Menschen, die sich nicht schämen, sind solche, denen es an der Fähigkeit zu Empathie und zu menschlicher Verbundenheit fehlt.
¥ Wir haben alle Angst, über Scham zu sprechen.
¥ Je weniger wir über Scham sprechen, desto mehr Kontrolle gewinnt sie über unser Leben.

Menschen sind zu sehr vielem bereit, um einer befürchteten Beschämung zu entgehen, selbst dazu, in den Krieg zu ziehen, zu töten und sich töten zu lassen. Je kleiner und abhängiger wir sind, umso ungeschützter sind wir vor Beschämung. Nicht als die Menschen, die wir sind, angenommen zu werden, zu wenig oder zu viel zu sein, zu viel oder zu wenig Energie zu haben, in unseren Bedürfnissen nicht gesehen zu werden, als „schlimm“ oder „frech“ definiert zu werden, bestraft zu werden, uns ungeliebt und unwichtig zu erleben – all das und noch viel mehr beschämt uns. Wenn wir keine oder zuwenig Hilfe dabei erleben, dieses unerträgliche Gefühl doch ertragen zu können, beginnen wir, Strategien zu entwickeln, um der Scham zu entgehen. Wir adaptieren destruktive Grundbotschaften, bilden negative Glaubenssätze über uns selbst und über andere, verdrängen und unterdrücken Gefühle und ersetzen sie durch andere und leben entlang stereotyp eingesetzter Antreiber. Mit einem Wort: wir bilden das komplizierte Konstrukt des unbewussten Lebensplans, des Skripts. Der abhängige Teil unseres Inneren Kindes wird auf Kosten des an den eigenen Bedürfnissen orientierten Teiles größer und größer. Unsere Lebendigkeit, Kreativität, unser Selbstbewusstsein wird verschüttet – oder genauer gesagt: unter dem Druck unserer Umwelt verschütten wir es nach und nach selbst.
Hören wir, was Günther in der nächsten Sitzung über seine Erinnerungen erzählt.

Günther: Ich glaube, jetzt ist mir bewusst geworden, was mich all die Nächte wachgehalten hat – ohne dass ich dabei konkrete Erinnerungen gehabt hätte. Aber diese Angst... mein älterer Bruder und ich hatten gemeinsam ein Zimmer, ein Durchgangszimmer zum Bad. Wenn meine Eltern auf die Toilette wollten, mussten sie bei uns durch. Die Badezimmertüre hat fürchterlich gequietscht, da bin ich jedesmal wach geworden. Es war immer meine Mutter, die durchgegangen ist, und im Bad habe ich sie dann weinen gehört. Weinen und weinen und weinen, das hat nicht aufgehört. Ich konnte es einfach nicht ertragen, ich habe mir den Polster über die Ohren gezogen, aber das hat nicht geholfen.
Therapeut: Worüber hat sie denn so geweint?
Günther: Sie war verzweifelt. Überfordert mit uns zwei Kindern. Der Vater war ja fast nie da, und der hat sich für nichts interessiert. Er hat immer nur geschimpft und gedroht, er wird sich scheiden lassen, weil sie so depressiv ist.
Therapeut: Wie alt waren Sie da?
Günther: Vielleicht neun oder zehn.
Therapeut: Und dieser kleine Günther war ganz allein mit dieser Situation.
Günther: Ja. Mein Bruder war wahrscheinlich auch wach und hat es auch gehört. Aber wir haben nie darüber gesprochen. Anfangs habe ich versucht, zur Mutter zu gehen und sie zu trösten. Sie hat nur lauter geweint und gesagt, wenn wir nicht so schlimm wären, müsste sie nicht so weinen. Einmal habe ich versucht, mit dem Vater darüber zu sprechen, aber hat mich angeschnauzt, ich soll mich nicht um Dinge kümmern, die mich nichts angehen.
Therapeut: Wie hat sich das angefühlt – die Mutter gibt Ihnen die Schuld, und der Vater weist sie ab?
Günther: Vor einer Woche hätte ich noch gesagt, ja, natürlich hat das wehgetan, aber sie waren ja beide überfordert. Sie mit uns Kindern und er mit ihr. In den letzten Tagen habe ich gemerkt, wie beschämend das war. (beginnt zu weinen) Ich habe mich so geschämt. Schon beim Quietschen der Tür habe ich mich geschämt, weil ich gewusst habe, wss kommen wird. Immer, wenn ich da im Bett gelegen bin und sie gehört habe, habe ich mir gedacht, ich bin schuld. Immer wieder hat sie unter Schluchzen gesagt: ich halte das nicht mehr aus! Ich habe solche Angst gehabt, sie bringt sich um! In gewisser Weise hat sie das auch getan: sie hat sich langsam zu Tode getrunken. Und ich bin mir heute noch nicht sicher, ob ich nicht mehr tun hätte können, um ihr zu helfen. Aber ich war doch noch ein Kind!
Therapeut: Ja, das waren Sie. Und Sie waren für all das nicht verantwortlich.
Günther: Dabei habe ich mich so bemüht! Ich war so ein unglaublich braves Kind!

Wir sind jetzt bei Günthers Innerem Kind angelangt – noch nicht bei dem freien Teil, der an seinen eigenen Bedürfnissen orientiert ist und Lebensfreude verkörpert, aber bei dem verletzten und beschämten Teil, aus dem heraus er seinen Lebensplan entwickelt hat. Um an seine Lebendigkeit heranzukommen, braucht der verängstigte und tief beschämte kleine Günther Mut und vor allem Schutz.

In Anlehnung an den deutschen Sozialwissenschaftler Stephan Marks, der sich auf die Erforschung der Scham spezialisiert hat, haben wir im Lebensplan-Buch acht Schritte zur Bewältigung der Scham entwickelt:
1. Die Scham wahrnehmen
2. Die Scham aushalten und Scham sein lassen
3. Erkennen, welche inneren Botschaften die Scham in mir auslöst
4. Die Scham differenzieren
5. Lernen, mich vor der Scham zu schützen
6. Die Geschichte unserer Scham mit anderen Menschen teilen
7. Die Scham durcharbeiten
8. Von der Selbstbeschämung zur Selbstliebe

Auf den fünften Punkt – lernen, sich vor der Scham zu schützen - möchte ich hier gemeinsam mit Günther näher eingehen, weil er der Schlüssel zum freien Inneren Kind ist. Lassen wir Günther wieder zu Wort kommen.

Es war einerseits so schlimm, in diese schrecklichen Erinnerungen hineinzugehen und andererseits so erleichternd, endlich darüber weinen zu können. Dann stellte mir mein Therapeut die Frage:
Therapeut: Wenn er da so ganz mucksmäuschenstill im Bett liegt, dieser kleine Günther und kaum zu atmen wagt, wenn er seine Mutter weinen hört, wenn er sich so schämt und so schuldig fühlt – was braucht er da, dieser neunjährige Bub?
Günther: Dass sie endlich aufhört zu weinen!
Therapeut: Das wäre natürlich wunderbar, wenn der Vater sich um sie kümmern und sie trösten würde. Aber das geschieht nicht. Ich denke, der kleine Günther braucht jemanden, der ihn beschützt.
Günther: Mein großer Bruder! Aber der ist ja genauso hilflos!
Therapeut: Und er ist auch noch ein Kind. Nein, der kleine Günther braucht einen mächtigen Beschützer. Jemanden, der die Situation souverän bewältigen kann. Ich möchte gerne etwas ausprobieren, Günther.
Günther: Ja?
Therapeut: Als Sie ein Kind waren – gab es da einen Menschen, den Sie bewundert und dem Sie vertraut haben?
Günther: Nicht dass ich wüsste.
Therapeut: Dann lassen Sie uns weiter nach einem Beschützer suchen. Gab es vielleicht ein Spielzeug, ein Stofftier oder etwas Ähnliches, mit dem Sie sich trösten konnten?
Günther: Auch nicht.
Therapeut: Dann vielleicht eine Gestalt aus einem Buch, einer Geschichte, einem Märchen? Oder eine Figur aus einer Fernsehserie?
Günther: Fernsehen gab es so gut wie nicht. Aber warten Sie – da gab es doch diesen Zeichentrickfilm, das Dschungelbuch. Den haben wir im Kino gesehen, und die Lieder dazu hatten wir auf einer Schallplatte.
Therapeut: Ja?
Günther: Und da war dieser Bär – wie hat er noch geheißen? Der den kleinen Mogli beschützt?
Therapeut: Balu!
Günther: Balu! Ja, der hat mir gefallen, wenn er dieses Lied gesungen hat. Probier’s mal...
Therapeut: ...mit Gemütlichkeit...
Günther: ...mit Ruhe und Gemütlichkeit!
Therapeut: Dann gehen wir nochmals in dieses dunkle Kinderzimmer zum kleinen Günther, der da schlaflos im Bett liegt. Nebenan im Bad ist seine Mutter und weint. Und da geht die Türe auf und herein kommt Balu der Bär getänzelt. (Pause)

Die Sache kam mir so absurd vor, und doch fing es an, Spaß zu machen. Warum eigentlich nicht? Da kam in meiner Fantasie tatsächlich Balu herein, schaute sich um und erkannte auf einen Blick, was los war. Er kam zu meinem Bett und legte mir beruhigend die mächtige Tatze auf die Brust. Na, mein Kleiner, sagte er, keine Angst, das machen wir schon! Und er öffnete die Türe zum Bad und begann, mit leisem Brummen sein Lied von der Gemütlichkeit zu singen. Meine Mutter saß da tränenüberströmt auf der Toilette. Als Balu bei der Zeile angelangt war „mit Ruhe und Gemütlichkeit jagst du den Alltag und die Sorgen weg“, da sah sie auf und begann zu lächeln. Balu nahm sie vorsichtig bei der Hand und führte sie wieder ins Schlafzimmer. Dann kam er zurück, ölte zuerst die Scharniere der Badzimmertüre, damit sie nicht mehr quietschen konnte, und setzte sich dann an mein Bett. So, mein Kleiner, saget er, und da bleibe ich jetzt Nacht für Nacht sitzen und bewache Deinen Schlaf. Wenn deine Mama wiederkommen will, begleite ich sie wieder zurück ins Bett, und du kannst in Ruhe schlafen. Und wir zwei gehen morgen in den Dschungel und erleben Abenteuer.

Ein bisschen peinlich war mir die Sache anfangs schon – schließlich bin ich ja ein erwachsener Mann, und da lasse ich mich von einem Märchenbären begleiten und beschützen. Doch dann verstand ich, dass der ja nicht für den großen, sondern für den kleinen Günther da war. Oder genauer gesagt da ist. Immer wieder, wenn die Angst kommt und ich nicht schlafen kann, sitzt er an meinem Bett und beruhigt mich. Der Tinnitus ist noch nicht ganz weg, aber dann summt Balu mir ein Lied, und es wird besser. Auch tagsüber, wenn ich merke, wie die Scham sich wieder einschleicht, rufe ich Balu herbei, und er beschützt mich.

Soweit Günthers Geschichte. Natürlich hat er sie jetzt im Zeitrafferverfahren erzählt. Von der ersten Begegnung mit Balu bis zu dem, was er gerade über seine Gegenwart erzählt hat, vergingen viele Sitzungen, in denen er sich nach und nach seinen qualvollen Erinnerungen stellte und sie durcharbeitete. Mehr und mehr kam er in Kontakt mit seinen ursprünglichen Bedürfnissen, mehr und mehr nahm dieser Teil des Inneren Kindes zu, während seine Lebensfreude wuchs – immer symbolisiert von dem Bären Balu.

Es macht Spaß, das Innere Kind in seiner Lebensfreue wiederzuentdecken, es weckt Kreativität, Fantasie und Spontaneität. Es sind oft sehr beglückende Phasen in der Therapie, wenn Menschen über das Entdecken ihrer Verletzungen und ihrer Scham zu sich selbst finden, zu den Menschen, die sie sind und werden können. Denn auf diesem Weg können sie in Kontakt mit sich selbst kommen, in Kontakt mit ihren tiefen inneren Bedürfnissen.

Viele Elemente meiner therapeutischen Herangehensweise habe ich in der Gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg gefunden und sie in die Landkarten der Transaktionsanalyse integriert. Ein wesentlicher Aspekt dabei sind die menschlichen Grundbedürfnisse:

¥ Körperliches Wohlbefinden
¥ Sicherheit
¥ Liebe
¥ Empathie
¥ Kreativität
¥ Geborgenheit
¥ Spiel und Erholung
¥ Autonomie
¥ Sinn

Erst mit Hilfe des wiederentdeckten Inneren Kindes können diese Bedürfnisse je nach individueller Sehnsucht identifiziert werden, und erst mit dem unmittelbaren und freien Inneren Kind können konstruktive Strategien entdeckt werden, um diese Bedürfnisse zu erfüllen. Dann können wir – um auf Brian Pattens Gedicht vom Beginn dieses Vortrages zurückzukommen - unter den Menschen leben als die Magierinnen und Magier, die wir alle sind.

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