4. BEZIEHUNGSORIENTIERTE TRANSAKTIONSANALYTISCHE GRUPPENTHERAPIE

Workshop am Gemeinsamen Kongreß der deutschsprachigen
Gesellschaften für Transaktionsanalyse
Lindau, Mai 1993

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Im Herbst 1975 nahm ich an meiner ersten Selbsterfahrungs­gruppe, einem Gesprächspsychotherapie-Wochenende, teil. In der Gruppe war ich der einzige Mann unter 7 Frauen. Zwei Tage lang war ich damit beschäftigt, mit großer Faszina­ti­on und großer Anteilnahme den Problemen der anderen Teil­nehmerinnen zuzuhören, auf sie einzugehen, sie zu trösten usw. Am dritten Tag schließlich sprach mich die Therapeu­tin an und sagte - in einer für damalige Verhältnisse für eine Gesprächspsychotherapeutin gänzlich unorthodoxen, ge­radezu schockierenden Direktheit - : "Ich habe den Ein­druck, daß du in deinem Leben sehr gut gelernt hast, auf bedürftige Frauen einzugehen und dich dabei selber zurück­ zustellen. Willst du mir davon und von deinen Gefühlen da­bei erzählen?"
Damals lernte ich im Grunde die wesentlichen Axiome von dem, was ich heute als 'beziehungsorientierte Gruppen­psy­chotherapie' praktiziere und Ihnen vorstellen möchte: die starke Stimulierung der Übertragung durch die Gruppensi­tuation - und die Art und Weise, wie der Therapeut sie aufgreifen und sich so heilend mit dem Klienten in Bezie­hung setzen kann.

Die Transaktionsanalyse ist in ihrem Kern eine Theorie der menschlichen Beziehung. Das wird an ihrem Namen deutlich: von den vier "Grundsäulen" der TA - Strukturanalyse (die Analyse der menschlichen Persönlichkeitsstruktur), Spiel und Racket-Analyse (die Analyse der wiederkehrenden Ver­haltensmuster), Skriptanalyse (die Analyse der Lebensmu­ster), ist es die vierte, die der gesamten Theorie und Praxis den Namen gab: die Analyse der Transaktionen. In seinem Buch über "Struktur und Dynamik von Organisationen und Gruppen" (dt. 1979) bezeichnet Berne die Transaktion als "Grundeinheit allen Handelns in einem Sozialaggre­(S. 191). Diese Grundeinheit, bestehend aus einem Stimulus und einer Reaktion, also aus einem Vorgang zwischen zwei Menschen, ist der Ausgangspunkt der transaktionsanalyti­schen Theorie und Praxis. Von dort werden Rückschlüsse gezogen auf die Persönlichkeitsstruktur, auf die Verhal­tens- und auf die Lebensmuster der Person.

Die Frage, warum das so ist, also warum Menschen mitein­ander in Beziehung, in Transaktionen treten, beantwortet Berne in dem zitierten Buch salopp mit der Feststellung "daß der Mensch ein geselliges Wesen ist"(S. 191). An anderer Stelle (Berne 1966,dt. 1970) erläutert er diese Idee näher: anhand von Untersuchungen (z.B. von René Spitz) weist er nach, daß das Bedürfnis nach sozialem Kontakt ein biologisches Grundbedürfnis des Menschen ist, gleichzu­set­zen mit dem Hunger nach Nahrung, ohne d nicht überle­ben kann. Von diesem Postulat ausgehend, die weitere Theorie der TA entwickelt: Menschen erlernen in ihren Her­kunftsfamilien bestimmte Muster, um das fsie überle­bens­notwendige Maß an Zuwendung und Kontakt her­zustellen. Die Art und Weise, wie wir diese Muster ler­welche Erfahrungen wir damit machen, welche Reak­tione damit erzielen, prägt die Struktur unserer Persönlichkeit und letztlich unser Lebensmuster, das Skript.

 

Dennoch scheint mir an diesem Punkt die Theorie der TA kein ausreichend differenziertes Erklärungsmuster dafür zu sein, was menschlicher Kontakt in der psychosozialen Dyna­mik der Entwicklung des Kindes  wirklich bedeutet und wie psychische Struktur, gesunde wie gestörte, sich aus dem menschlichen Kontakt des Kindes heraus entwickelt und   sich in späteren menschlichen Beziehungen festigt und wie­derholt.

Ein solches Verständnis bietet sich, wenn die Theorie der TA erweitert wird durch tiefenpsychologische Konzepte aus der Objektbeziehungstheorie (Christoph-Lemke 1991, Mentzos 1982) und hinsichtlich der Dynamik der Übertragung. Der Mensch, und noch viel mehr der kleine Mensch, braucht Kon­takt. Er braucht ihn von Geburt an (oder besser gesagt noch vorher), um zwei verschiedene einander scheinbar wi­dersprechende Bedürfnisse zu befriedigen: um ausreichend Schutz und Geborgenheit zu bekommen und um sich zu einer eigenständigen, getrennten Persönlichkeit entwickeln zu können. Das Kind braucht, sehr vereinfacht gesagt, beides: die Nähe, den Schutz, die Geborgenheit und auf der anderen Seite das Weggehen-Können, das Trennen.

Die psychoana­ly­tische Objektbeziehungstheorie  (Ma Pine/Bergmann 1980, Mentzos 1982) sieht in der Ambivalenz zwischen diesen beiden Bedürfnissen das Grundmuster ent­wicklungspsychologischer Konflikte und in mangelhafLösungen die Grundzüge der Entstehung von psychischen Stö­rungen. Nur, wenn beiden Wünschen entsprechend dem je­wei­ligen Alter nachgekommen wird, kann sich das Kind zu einer genügend getrennten und genügend beziehungsfähigen Person entwickeln. Ausreichender Kontakt ist notwendig, um  diese Entwicklungen gesund durchlaufen zu können -  und ausrei­chen­der Kontakt besteht einerseits in altersangemes Zuwendung, andererseits in alters­angemessenem Gehenla Erfolgt dieser Kontakt nicht in der entsprechenden Weise, also bekommt das Kind entweder nicht genug Zuwendung (durch Verlassenwerden), oder kann sich das Kind nicht ausreichend trennen (durch Überbehüten und Festhalten), kommt es zu schweren inneren Konflikten für das Kind. Diese Konflikte werden begleitet von heftigen Gefühlen, vor allem der Angst, der Trauer und des Schmerzes und der Wut und des Ärgers. Diese Gefühle sind notwendige Begleit­erscheinungen von bedrohlichen, traumatisierenden Situa­tionen. Könnten diese Gefühle in angemessener Weise durch­lebt werden und würden sie von der Bezugsperson (der Mut­ter) in angemessener Weise angenommen und beantwortet wer­den, würden die Konflikte auf gesunde Art und Weise im Kontakt lösbar. Da diese Gefühle aber eben durch Unter­brechung des Kontakts (grob gesagt durch Verlassen oder durch Vereinnahmtwerden) entstehen, muß das Kind auch ver­suchen, auf gewisse Art und Weise allein damit fertig zu werden. Allein aber wiederum sind diese Gefühle nicht aus­haltbar und durchlebbar (wie soll ein Kind von, sagen wir, zwei Jahren mit dem überwältigen Gefühl der Angst, verlas­sen zu sein oder auch der Angst, kein eigenständiger Mensch werden zu können, alleine fertig werden und dabei das Gefühl aushalten können) - diese Gefühle müssen also auf eine bestimmte Art weggehalten, abgewehrt werden.

 

'Abwehr' ist zu verstehen als eine Art halbbewußter Verdrän­gung. Die bedrohlichen Dinge werden verge weggespal­ten, rationalisiert oder auf eine andere Ar Weise unerledigt in sich selbst begraben oder verschüttet. In transaktionsanalytischer Sprache würden wir sagen: das Kind muß bestimmte "Entscheidungen" treffen, bestimmte Ge­fühle auf eine bestimmte Art nicht spüren zu müssen. Das aber wiederum bedeutet, daß ein bestimmter Konflikt, ein Trauma nicht wirklich gelöst wird und daher nicht auf ge­sunde Weise in die Gesamtperson integriert werden kann. An einem bestimmten Punkt entsteht dadurch eine Art Entwick­lungsstillstand - gesunde Weiterentwicklung ist dort nicht oder nur unter Einschränkungen möglich. Die Erfahrungen werden innerlich fixiert und unbewußt festgehalten und so ins weitere Leben mitgenommen. Wann immer wieder Ereignis­se passieren, die an diese ungelösten Erfahrungen und die abgewehrten Gefühle heranrühren, reagiert nun die betref­fende Person mit der gleichen Abwehr: denn erstens hat sie ja erfahren, daß diese Gefühle nicht ausgedrückt werden kön­nen, nicht bewältigbar sind, und zweitens würd Lockern der Abwehr zu einem späteren Zeitpunkt gleichzei­tig bedeuten, daß alle früher abgewehrten und so bedrohli­chen Gefühle auch spürbar würden. Das Kind muß also ausge­feilte Lebensstrategien entwickeln, um die Abwehr intakt halten zu können. Das Gesamtmuster dieser Strategien, der gesamte Lebensplan, der dazu dient, die Abwehr aufrecht zu halten und zu verfestigen, ist das, was wir in TA das de­struktive Skript nennen. Spätere Erfahrungen werden so gefiltert, umgedeutet und organisiert, daß sie in dieLebensplan hineinpassen, ihn bestätigen und verstär­ken.

Man kann also sagen, daß spätere Beziehungserfah­r nach dem verunglückten Muster der primären Bezie­hungser­fahrungen strukturiert werden. So erklären sich die repe­titiven Muster der psychologischen Spiele und der Rackets. Der gebräuchliche Ausdruck dafür heißt "Übertra­gung".

Übertragung bedeutet nach der Definition von Greenson (1967), daß eine bestimmte emotionale Erfahrung aus der Vergangenheit in die Gegenwart übertragen und auf eine Person der Gegenwart so reagiert wird, als sei sie eine Person der Vergangenheit.

Dieses Phänomen kennt jeder aus Partnerbeziehungen: wir wiederholen wieder und wieder die Erfahrungen, die wir mit unseren Eltern gemacht haben, mit unseren Partnern. Noch viel vehementer tritt dieses Phänomen in der Psychothe­ra­pie in den Vordergrund. Der Therapeut wird so erlebt, als wäre er die Mutter (der Vater), mit denen die frühen Trau­matisierungen erlebt wurden. In der therapeutischen Bezie­hung widerspiegelt und wiederholt sich das Problem der frü­hen Kontaktunterbrechung in der frühen Objektbezie Auch in der TA hat sich in den letzten Jahren zunehmend die Betrachtungsweise durchgesetzt, daß es zentrale Aufga­ be der therapeutischen Beziehung ist, diese Wiederholung zu ermöglichen und die lebensgeschichtlichen Defizite da­durch sicht- und bearbeitbar zu machen. Ausführlich habe ich dazu an anderer Stelle (über den therapeutischen Pro­zeß und die Ich-Zustands-Diagnose in der therapeutischen Beziehung) (Sejkora 1991, 1992) Stellung genommen.

Wir sind damit an dem Punkt angelangt, definieren zu kön­nen, was 'beziehungsorientierte Therapie' bedeutet: in der Beziehung, im Kontakt über das Medium der Übertragung an die frühen Kontaktunterbrechungen in den frühen Beziehun­gen des Klienten heranzukommen und über die heilende the­rapeutische Beziehung im Hier und Jetzt Lösung und Durch­arbeiten anzubieten. In gewisser Weise kann so die neue Beziehung zum Therapeuten ein neues, gesünderes Bezie­hungs­muster für die Zukunft werden, als es die a traumatisierenden Beziehungen waren.

Warum habe ich in einem Referat über Gruppenpsychotherapie so ausführlich zu diesem Punkt Stellung genommen? Wir können davon ausgehen, daß das, was ich erläutert habe - daß sich alte Erfahrungen in neuen sozialen Situationen reproduzieren - natürlich auch in Gruppen, und insbe­son­dere in Therapiegruppen fortsetzt und intensiviert. Um die Unterschiede zur Einzeltherapie  zu verdeutlichen, ist es notwendig zu berücksichtigen, daß in der Gruppe ja ein vielfacher Übertragungskontext gegeben ist - nicht nur der der therapeutischen Beziehung, der Beziehung zum Gruppen­therapeuten, sondern auch der Kontext der Beziehung zu und mit den anderen Gruppenmitgliedern. Das war ja auch der Ausgangspunkt für die Entwicklung von Bernes Spielkonzept (Berne 1966, 1967), das er in Therapiegruppen entwickelte.

In dem  erwähnten Buch von Berne über die Struktur und Dynamik von Organisationen und Gruppen (Berne 1979) ist der psychodynamische Gesichtspunkt der Einzelperson in ihrer Interaktion mit den anderen Gruppenmitgliedern  und dem Gruppenleiter eher untergeordnet. Die Darstellung, die Berne davon gibt, ist auch etwas verwirrend und theore­tisch in sich nicht vollständig geschlossen. Trotzdem fin­den sich darin einige bemerkenswerte Konzeptionen, die ich  zu modifizieren und weiter­zuentwickeln versucht habe.

Berne schreibt, daß jedes neue Mitglied sich einer Gruppe fo­lgen­dermaßen ausgerüstet anschließt: es hat

  • 1. ein biologisches Bedürf­nis nach Stimulierung;
  • 2. ein psychologisches Bedürfnis nach Strukturierung der Zeit;
  • 3. ein gesellschaftliches Bedürfnis nach Intimerlebnissen;
  • 4. ein sehnsüchtiges Be­dürfnis danach, bestimmte Transaktionsmodelle zu schaffen; und schließlich
  • 5. ein provisorisches Bündel von Erwartun­gen, die auf Erfahrungen aus der Vergangenheit beruhen." (a.a.O., S. 242)

Ich würde diese Punkte so zusammenfassen, daß ein Mensch sich aus zweierlei Motiven einer Gruppe, und insbesondere einer Therapiegruppe, anschließt: er möchte 1. seine ungestillten Bedürfnisse und Sehnsüchte nach Kontakt befriedigen und 2. will er aufgrund der Mechanismen von Abwehr und Übertragung die neuen Beziehungserlebnisse  so gestalten, so strukturieren und so einordnen, daß sie in sein bisheriges Konzept, in sein Skript passen und ihm helfen, seine Abwehr aufrechtzuerhalten und zu verfesti­gen.

Für diese innere Erwartungshaltung, die jemand in eine Gruppe einbringt, hat Berne den Begriff des "Gruppenbil­des" oder besser "Gruppenimagos" geprägt.

Sobald der Eintritt in eine Gruppe unmittelbar bevor­steht, beginnt der Mensch sich ein provisorisches Gruppen­bild zu formen, ein Vorstellungsbild von dem, was die Grup­pe für ihn selbst möglicherweise bedeuten kann un er sich von ihr erhofft. Unter der Einwirkung der gegebe­nen Realitäten bleibt ein solches provisorisches Gruppen­bild in den meisten Fällen nicht lange unverändert; aber die innere Gruppenentwicklung basiert (...) auf dem Wunsch der einzelnen Mitglieder, dafür zu sorgen, daß die tat­säch­liche reale Gruppe ihrem provisorischen Gruppenbi weitgehend wie möglich entspricht." (a.a.O., S. 241)

Berne meint zwar, daß sich das im vorhinein imaginierte Bild von der Gruppe im wesentlichen aus relativ späten Lernerfahrungen, also aus Erfahrungen in etwa ähnlichen Situationen, erklären läßt. Ich denke jedoch, daß es sich hier ganz deutlich um ein sozusagen inneres Ausfahren der "Übertragungsantennen" handelt: die Person geht - mehr unbewußt als bewußt - in ihrem inneren Erinnerungsspeicher frühere Lebenserfahrungen im Zusammenhang mit Kontakt und Beziehung durch und kommt dabei auch in Berührung mit un­gestillten Sehnsüchten und abgewehrten Gefühlen. Ohne noch die anderen Personen in der Gruppe und womöglich noch ohne den Therapeuten zu kennen, wird bereits ein inneres Bild davon entworfen, "wie es werden könnte" - und das bedeutet gleichzeitig "es wird so werden, wie es immer war". Und das wiederum bedeutet: "all meine Gefühlsabwehr und all meine Skriptmechanismen sind sinnvoll und ich habe guten Grund, sie aufrechtzuerhalten und nicht zu ändern - und das werde ich jetzt unter Beweis stellen". Denn tat­säch­lich geht ein Mensch ja ursprünglich nicht in Therapie, um wirklich ganz grundlegende Dinge in dem tiefen Inneren sei­ner Psyche zu ändern, sondern um, wie Berne das n in oder mit seinem Skript besser zu­rechtzukommen ( 1983). Am Beginn einer Therapie geht es keineswegs darum, die Abwehr wirklich zu lockern und die tiefen inneren Verletzungen zu heilen, sondern darum, einige Änderungen auf der Verhaltensebene vorzunehmen, um im Grun­de mi  alten Lebens- und Selbstkonzept weiterleben zu können. Denn dieses Lebens- und Selbstkonzept, das Skript, wurde ja in Situationen höchsten, manchmal lebens­bedrohl Drucks entwickelt. Es ging darum, mit diesem Konzept absolut unerträgliche Gefühle über den Abbruch von Kontakt und Beziehung und die Nichtbefriedigung elementaBedürfnisse abzuwehren. Wenn jemand in Therapie kommt, dann geschieht das meistens deswegen, weil diese Abwehr bedrohlich ins Wanken gekommen ist - im allgemeinen durch größere Lebenskrisen, wie Trennungen, Todesfälle, Krank­hei­ten, oder ähnliches. Was er/sie dann vom Therap (und von der Gruppe) erwartet, ist, daß ihm/ihr geholfen wird, diese Abwehr wieder intakt zu gestalten.

 

Zurück zum Gruppenimago:  unser/e künftige/r Gruppenteil­neh­merIn hat also aus dem riesigen Speicher seiner/ bewußten und unbewußten Erinnerungen eine große Sammlung von Erfahrun­gen mit Beziehung und Kontakt - oder b gesagt mit mißglückten Beziehungen und Kontakten - her­vorgekramt und seine/ihre Abwehr entsprechend eingerich­tet. Und für die Abwehr spielt Übertragung immer eine zentrale Rolle. Denn der eigentliche Sinn der Übertragung, der Sinn davon, daß man auf eine Person in der Gegenwart so reagiert und sich zu ihr hin so verhält, als ob sie eine Person aus der Vergangenheit wäre, ist ja: die Er­innerung, sowohl die kognitive wie die emotionelle, an das, was damals so bedrohlich und schmerzvoll war, soll dadurch vermieden werden, daß es in der Gegenwart im Wiederholen ausagiert wird.

 

Freud sagt dazu:

Die unbewußten Regungen wollen nicht erinnert werden (...), sondern streben danach, sich zu reproduzieren." (Freud 1912, S. 491)

Das heißt: wenn ich zum Beispiel mit dem Therapeuten im Hier und Jetzt einen ähnlichen Konflikt erlebe, wie ich ihn mit meinem Vater vor dreißig Jahren erlebt habe, muß ich mich an den damaligen Konflikt und seine schmerzvolle Ungelöstheit nicht erinnern - ich bin ja innerlich viel zu sehr mit dem aktuellen Konflikt beschäftigt.

Mit diesem provisorischen Gruppenimago, der Bereitschaft, auf jedes einzelne Gruppenmitglied und den Therapeuten zu übertragen, kommt unser/e neue/r Teilnehmer/in also in die Therapiegruppe. Dort trifft er/sie auf konkrete Personen, und sein provisorisches Gruppenimago muß sich in ein ange­paßtes verwandeln. Berne (Berne 1979) meint dazu, daß das ein Erwachsenen-Ich-Vorgang sei, bei dem das Individuum Abstriche von seinen ursprünglichen Vorstellungen mache und Kompromisse eingehe, um sich in realistischer Weise den Gegebenheiten und Zielsetzungen der Gruppe unterzu­ordnen. Zumindest für den Fall der Therapiegruppe teile  ich die Idee dieser Art von Anpassungsvorgang aber nicht: ich denke, daß durch die Konfrontation mit der realen Grup­pensituation, also dem Setting, den konkreten Per (d.h. ihrem Geschlecht, Alter, Aussehen) usw. zwar eine ge­wisse Modifizierung des provisorischen imagini Gruppenbildes erfolgt. Das geschieht aber keineswegs in der Weise, daß tatsächlich eine Anpassung an die gegebene Realität im umfassenden Sinn erfolgt. Hat das neue Grup­penmitglied vor seiner ersten Gruppensitzung nur ein vages Bild davon gehabt, wie und in welcher Weise es für ihn/sie  notwendig sein wird, zu übertragen und sein/ihr Skript aus­zuleben, so kann das jetzt konkretere Formen anne Die für die Übertragung geeigneten Objekte werden als Per­sonen sichtbar; die verschiedenen "Lein­wän­de" für die Pro­jektionen treten auf. Vereinfachend könnte man also sagen, der/die neue Patient/in in der Therapiegruppe sucht sich Personen, die sich besonders dafür eignen würden, auf sie die Mutter, den Vater, die ältere Schwester, die Groß­mut­ter etc. zu projizieren.

 

Berne spricht dann davon, daß es im Interesse der Ziel- und Projektorientiertheit einer Gruppe wichtig sei, das Gruppenbild eines Mitglieds sukzessive der tatsächlichen Realität anzupassen, um die Arbeitsfähigkeit der Gruppe herzustellen. Dem stimme ich zu, wenn es tatsächlich um zielorientierte Gruppen im eigentlichen Sinn, wie zum Bei­spiel einen Verein oder ein Arbeitsteam geht. Im Falle ei­ner Psychotherapiegruppe besteht aber die Zielorientiert­heit ja gerade darin, daß sich die Übertragung entfalten kann. Indem der/die Gruppenteilnehmer/in beispielsweise auf mich seine Erfahrungen mit seinem/ihrem Vater oder sei­ner/ihrer Mutter überträgt, auf eine andere Teilneh­merin seine/ihre Erfahrungen mit der älteren Schwester, auf einen dritten Gruppenteilnehmer die Erfahrungen mit dem Volksschullehrer usw. - gerade dadurch werden erst die abgewehrten Verletzungen und traumatisierenden Lebenser­fah­run­gen des/der Gruppenteilnehmers/in sichtbar. Es also in einer Therapiegruppe nicht darum, eine Atmosphäre der Zielorientiertheit und der relativ raschen Enttrübung von imaginierten Gruppenbildern zu ermöglichen. Im Gegen­teil: es geht darum, die durch die Übertragungssituation gegebene scheinbare Nicht-Arbeitsfähigkeit (im Sinne einer Zielorientiertheit) zu erhalten bzw. zu entfalten. Erst dadurch kann für den Patienten allmählich sichtbar werden, wo die Defizite in seiner frühen Lebensgeschichte liegen. Nur so kann ein allmähliches Durcharbeiten und Auflösen der frühen Fixierungen und Traumatisierungen passieren und die Ablösung der Übertragung vom Therapeuten und den ande­ren Gruppenmitgliedern möglich werden. Erst dann ist der/ die Gruppenteilnehmer/in in der Lage, die Gruppe als eine Ansammlung realer Menschen zu sehen, und nicht als die Wiederholung einer Ansammlung von Personen, mit denen er/ sie früher in Beziehung (oder vielmehr in Nichtbe­zie­war.

 

Lassen Sie mich Ihnen noch kurz ein anderes Konzept der Transaktionsanalyse in Erinnerung rufen: das des Racket- oder Skript-Systems von Erskine und Zalcman (Erskine/Zalc­man 1979, Erskine/Moursund 1991), das einen ausgezeichne­ten Zugang zur Momentaufnahme der Wiederholung des Skripts, der alten abwehrenden Beziehungserfahrung, im Hier und Jetzt bietet. Das Racket- oder Skriptsystem ist nach der Definition ein sich selbst verstärkendes verzerr­tes System aus Gedanken, Gefühlen und Verhaltensweisen, das von skriptgebundenen Personen aufrechterhalten wird. Es besteht aus Skriptglaubenssätzen und Gefühlen, aus dem aktuellen Verhalten und den verstärkenden Erinnerungen und Erfahrungen. Lassen Sie es mich Ihnen an einem Beispiel ver­deutlichen.

 

In einer Therapiegruppen wollen zwei Teilnehmerinnen, nen­nen wir sie Elisabeth und Helga, beide zur gleichen Zeit ein Stück persönliche Therapiearbeit machen. Nach kurzer Verhandlung zwischen den beiden sagt Elisabeth: "Ist schon in Ordnung, du kannst beginnen, ich kann warten."

Ich beginne daher, mit Helga zu arbeiten, merke aber nach kurzer Zeit, daß Elisabeth unruhig wird, ihr Gesicht ver­zieht, vor sich hinzumurmeln beginnt um nach einiger Zeit plötzlich wütend hervorzuzischen: "Es ist immer dasselbe - du magst einfach die anderen mehr und willst mit mir nichts zu tun haben!"  Nach kurzem Gespräch mit Helga, die bereit ist, ihre Arbeit zu unterbrechen, wende ich mich Elisabeth zu.

Th: Was ist los, Elisabeth?

E: Nein, nein, kümmere dich nicht um mich, im muß mich damit abfinden, daß ich hier eben zu kurz komme.

Th: Wie meinst du das, du kommst zu kurz?

E (sehr wütend): Immer kommen die anderen zuerst dran, meine Probleme interessieren Dich nicht!

Th: Das klingt danach, als ob du diese Erfahrung schon öfter gemacht hättest.

E: Schon öfter? Immer!

Th: Was meinst Du mit immer?

Elisabeth beginnt dann zu erzählen, daß sie sich auch in der Beziehung mit ihrem Partner so fühle, daß alles andere wichtiger wäre, vor allem andere Frauen. Von hier aus be­wegen wir uns langsam in ihre Geschichte zurück, und sie erzählt, daß ihr Vater ihre ganze Kindheit und Jugend hin­durch ihre jüngere Schwester bevorzugt habe.

Sehen wir uns anhand dieses Beispiels das Racket- oder Skriptsystem  näher an.

In der mittleren Spalte des Skriptsystems haben wir das sogenannte Display, also das, was - wie zum Beispiel bei einer elektronischen Schreibmaschine - im Hier und Jetzt sichtbar wird: das Verhalten, die aktuellen Gefühle, das körperliche Empfinden und die Fantasien. Im Fall von Eli­sabeth ist das der Rückzug als das sichtbare Verhalten ("Ist schon in Ordnung..."), die körperliche Unruhe und die Gefühle der Wut, begleitet von der verbal geäußerten Fantasie: "Du magst die anderen mehr und willst mit mir nichts zu tun haben". In der linken Spalte des Skript­systems, der sogenannten Skriptspalte, finden wir die Skriptglaubenssätze über sich selbst, über die anderen und über die Welt. Elisabeth hat diese klar geäußert: ich kom­me zu kurz, die anderen sind wichtiger. Zugleich finden wir hier die abgewehrten Gefühle, das heißt die Gefühle, die die ursprüngliche Skriptentscheidung begleiteten bzw. mit der ursprünglichen Skriptentscheidung abgewehrt wur­den. Die ursprünglichen skriptbildenden Situationen für Elisabeth scheinen die der Kontaktunterbrechung durch den Vater und die Bevorzugung der Schwester gewesen zu sein, die begleitenden abgewehrten Gefühle Verzweiflung und Angst, wahrscheinlich auch Wut.

In der dritten Spalte des Skriptsystems findet sich das, was "verstärkende Erfah­rungen und Erinnerungen" ge wird: das funktioniert wie ein innerer Speicher. Hier sortiert Elisabeth die eben von ihr gemachte, provozierte Erfahrung ein: sie wurde zu­rückgewiesen, und j anderer wurde bevorzugt. Das bringt sie innerlich in Kontakt mit unendlich vielen frü­heren ähnl Erfahrungen: mit ihrem jetzigen Part­ner, mit frü Partnern, letztlich mit ihrem Vater. Dieser Speicher wirkt wieder zurück auf die erste Spalte - die Glaubenssätze. Die eben gemachte verstärkende Erfahrung und der innere Kontakt mit früheren ähnlichen Erfahrungen bestätigen ihr, daß alles immer so bleiben muß, wie es war, und daß es schon richtig ist, die entsprechenden Ge­fühle abzuwehren.

 

Wir sehen also, daß das Skript-System (ich verwende vor­zugs­weise die von Erskine <1991> vorgeschlagene umfas­sendere Bezeichung statt 'Racket-System') die vorher ge­nannten Punkte in sich vereint: das Element der Über­tragung als Wiederholung der ursprünglichen traumati­sie­renden Kontaktunterbrechung in der Beziehungserfahrung,  das Element der Abwehr und der Skriptbildung, und eine elegante Möglichkeit, von der manipulativen Wiederholung dieser Erfahrung im Verhal­ten des Hier und Jetzt au frühe Lebensgeschichte und die abgewehrten Gefühle rück­schließen zu können. In Elisa­beths Fall, in ihrem Über­tragungskontext, hat sie die frü­he Beziehungserfah nicht beachtet zu werden, auf mich übertragen (unter Zu­hilfenahme Helgas, die übertragungs­wei­se ihre k Schwester darstellte). Ich will hier nicht den Fortgang dieser Therapiearbeit schildern; hier geht es nur um die Verdeutlichung des Konzepts. Das Durch­arbeiten der Über­tragung wird später anhand des Beispiels einer Gruppen­sitzung deutlich werden.

 

Wir haben an Elisabeth gesehen, wie Klienten außerhalb ihres vollen Bewußtseins in der Thera­pie versuchen, üihr Skript-System den Therapeuten in ihr Skript einzu­passen und ihn zu entsprechendem Ge­gen­verhalten zu bewe­gen. Unter der Voraussetzung, daß der Therapeut genügend eigentherapeutische Erfahrung hat, wird es ihm gelingen, nicht in seine eigene Übertragung und in komplementäre Mechanismen einzusteigen, sondern auf dem Weg der Gegen­übertragung (ein Begriff, auf den ich später noch eingehen werde) die Projektionen des Klienten wahrzunehmen und so einen Zugang zu dessen Skript zu finden.

Das ist die Situation zwischen dem Therapeuten und dem/ der Klienten/in (ob Einzel- oder Gruppentherapie).

Elisabeths Beispiel zeigt aber deutlich, daß auch die an­deren Gruppenteilnehmer in die Übertragung und damit in das Ausspielen des Skript-Systems einbezogen werden.  Was genau passiert also in einer Gruppe, wo zu der Beziehung zwi­schen dem Therapeuten und der Einzelperson das kom Gefüge der Beziehungen dieser Einzelpersonen untereinander dazukommt?

Holtby (1979) und Erskine (1982) haben weiter ausgear­beitet, wie die Skript- Systeme verschiedener Personen ineinandergreifen und sich wechselseitig ergänzen und verstärken können: das, was die eine Person (z.B. bei einem Paar) an sichtbarem Verhalten im Display ausspielt, paßt genau zu den frühen Erfahrungen des anderen und kann als Bestätigung für die Skriptglau­benssätze im Erinne­rungsspeicher "einsortiert" werden.

Zum Beispiel: Ein Mann, dessen depressive Frau sich inner­lich von ihm zurückzieht, erlebt diese genauso wie seine an ihm seinerzeit desinteressierte Mutter. Das wirkt be­stä­tigend auf seine Skriptsätze "ich bin es nicht geliebt zu werden", "Frauen interessieren sich nicht für mich" und so weiter. In der Abwehr seiner Gefühle von Angst und Verzweiflung aktiviert er Trotz und Ärger­lichkeit und behandelt seine Frau dementsprechend. Das wiederum paßt zu ihren einschlägigen Vorerfahrungen und  Skriptglaubenssätzen: "Männer sind nur an sich selbst interessiert", "ich bin nicht liebenswert" und so weiter; ihre Wut wiederum wehrt sie mit depressiven Gefühlen und entsprechendem Rückzugsverhalten ab. Der Kreislauf ist geschlossen.

Das Konzept der ineinandergreifenden Skriptsysteme läßt sich unschwer auf die Dynamik in Gruppen ausweiten: jede/r Teilnehmer/in erlebt das Display jedes/r anderen Teilneh­mers/in im Übertragungskontext, das heißt, als Verstärkung und Bestätigung seiner/ihrer bisherigen Erfahrungen und  Skriptglaubenssätze; das hilft ihm/ihr, seine/ihre Abwehr der ursprünglichen Gefühle aufrechtzuerhalten. Umgekehrt reagiert und agiert jede/r Teilnehmer/in in seinem/ihrem Display (Offenkundige Gefühle, Verhalten, Phantasien) auf jede/n andere/n und natürlich auch auf den/die Therapeu­ten/in.

Ich habe diese komplizierte Gruppen-Übertragungsvernetzung in einem Diagramm aufgezeichnet, das der Einfachheit halber von nur vier Teilnehmern ausgeht.

 

Natürlich ist das ein Diagramm, das man nicht wirklich bei  der Arbeit ständig im Kopf haben kann - es dient mehr zum Reflektieren über die Vorgänge in der Gruppe. Es  ver­deutlicht, wie komplex die Übertragungssituation der Therapiegruppe ist, welche Komponenten sich auswirken - und welche therapeutische Chance aber auch gleichzeitig darin liegt, einen so intensiven Rahmen zu bieten, in dem die Teilnehmer/innen übertragungsweise ihre Skripts aus­agieren und damit zugänglich und bearbeitbar machen kön­nen.

Die Aufgabe des/der Therapeuten/in ist es also nicht "nur", die Übertragung auf seine eigene Person aufzu­grei­fen, sondern auch die Übertragung der Teilnehmer/innen unterei­n­ander. Die Gruppe stellt an den/die Therap /in gleichzeitig die Anforderung in (wenn wir von acht TeilnehmerInnen ausge­hen) acht verschiedene Übertrag und Gegenübertra­gungs­beziehungen einzutreten und die Ein­flüsse von insge­samt 56 weiteren Übertragungssitua­t darauf wahrzu­nehmen und zu berücksichtigen (A mit B, E, F, G, H; B mit A, C, D, E, F, G, H usw.).

Der Vorgang, der dem Therapeuten das ermöglicht, ist die Gegenüber­tra­gung, von der ich vorher schon gespr habe.

Wir haben gesehen, daß Übertragung bedeutet, daß der/die Klient/in auf den/die Therapeuten/in projiziert. KlientInnen tun das nicht beiläufig und am Rande, sondern mit hoher Intensi­tät, die sich daraus erklärt, wie wi es für Menschen ist, ihr Skript zum Aufrechterhalten der Abwehr durchzu­spielen. Außerhalb ihres Bewußtseins üdaher Menschen auf andere Menschen einen hohen Einfluß aus, sich in ihr Skript hineinzubegeben. Das ist auch am Skriptsystem deut­lich geworden. Der/die Therape empfängt intensive Impulse des/der Klienten/in, die ihn/sie in das Skript des /der Klienten/in hineinmanipulieren, dazu einladen sollen, sich seinem/ihrem Skript bzw. seinen/ihren Projektionen anzupassen. Wenn wir diese Impulse wahrnehmen können, er­zählen sie uns eine Menge über die Geschichte des/der Kli­enten/in.

Ebenso ist es im Weg der Gegenübertragung mög­unterdrückte und nicht ausgesprochene Gefühle der Klienten an uns selbst wahrzunehmen. Grundbedingung dafür ist entsprechende eigentherapeutische Schulung, damit nicht eigene ungelöste Probleme unsererseits auf den/die Klienten/in projiziert werden - in einer Übertragung des /der Therapeuten/in.

Gehen wir nun zum praktischen Teil meines Vortrags über.

 

Meine Konzeption der Gruppentherapie habe ich im wesent­lichen an meiner Arbeit mit fortlaufenden Therapiegruppen entwickelt. Seit November 1987 leite ich derartige Gruppen  - über mehrere Jahre hinweg waren es zwei bzw. drei, zur Zeit ist es nur mehr eine. Die Gruppe trifft sich drei Mal monatlich je zweieinhalb Stunden lang, und läuft kontinu­ier­lich weiter (ausgenommen die Sommermonate). Jed Teilnehmer/in entscheidet selbst, wie lange er/sie in der Gruppe bleiben möchte. Das ermöglicht es, sowohl kürzere Zeit für die Bearbeitung eines eingeschränkten Problems an der Gruppe teilzunehmen, als auch langfristig für eine um­fassende Persönlichkeitsveränderung zu bleiben. Die Mehr­zahl der Personen bleibt längere Zeit in der Gruppe.

Insgesamt haben in der Zeit von November 1987 bis ein­schließlich Ende März 1993 an 332 Gruppensitzungen mit insgesamt 978 Stunden Gruppentherapie 55 Personen teil­genommen. Im Schnitt ergibt das eine Verweildauer in der Gruppe von 33,58 Sitzungen, also etwas mehr als ein Jahr. Die längste Teilnahme war 115 Sitzungen (fast vier Jahre), die kürzeste zwei. Die Gruppe umfaßt acht Personen (eine Zeitlang arbeitete ich nur mit sechs Teilnehmern, bin aber wieder wegen der stärkeren Dynamik in der Gruppe zu einer Teilnehmerzahl von acht übergegangen).

Diagnostisch ist die Verteilung dieser 55 TeilnehmerInnen wie folgt:

  • endogene (psychotische) Depression  2
  • manisch-depressives Krankheitsbild  2
  • Borderline-Störung  7
  • narzißtische Störung  34
  • neurotische Störung  10

Zu dieser Verteilung werde ich später noch Stellung nehmen.
Ich möchte Ihnen gerne im Schlußteil des Referates Auszüge aus dem Protokoll einer Gruppensitzung vorstellen und es mit Kommentaren ergänzen, um ein Bild davon zu geben, wie meine Konzeption der beziehungsorientierten transaktions­analytischen Gruppenpsychotherapie in der Praxis aussieht.

Bei der Sitzung sind alle acht Teilnehmer anwesend, davon sind fünf Frauen und drei Männer. Die Namen und genauen Lebensumstände der Personen sind so verändert, daß ihre Anonymität gewährleistet ist, die Therapieprotokolle sind aber authentisch.

 

Zur Erklärung die Vorgeschichte:

Reinhard, ein 43jähriger verheirateter Angestellter, der seit etwa eineinhalb Jahren in der Gruppe ist, hatte vor ungefähr einem Jahre eine kurze, aber heftige Affäre mit Brigitte, einer anderen damaligen Gruppenteilnehmerin. Die Affäre, die vor der Gruppe geheimgehalten wurde, endete damit, daß Brigitte die Gruppe verließ. Erst im Nachhinein erzählte Reinhard nach und nach die ganze Geschichte.  Christa, eine 32jährige ledige Frau, mit psychosomatischen Problemen, seit nicht ganz vier Jahren in der Gruppe, war sehr eng mit Brigitte befreundet und hat deren Weggehen aus der Gruppe (obwohl es vor einem dreiviertel Jahr erfolgte) immer noch nicht verwinden können.

In der Eingangsrunde der Gruppensitzung erzählt eine wei­tere Teilnehmerin - Andrea - von ihrer momentanen Lebens­situation. Andrea, die seit ca. 10 Jahren verheiratet ist und einen 7jährigen Sohn hat, hat seit einigen Monaten ein Verhältnis mit einem anderen Mann und ist drauf und dran, sich von ihrem Partner zu trennen. Die Fakten von Andrea sind für die Gruppe nicht neu, doch in dieser Sitzung läßt sich zum ersten Mal etwas von ihren Gefühlen erahnen, die diese Lebenskrise begleiten: das Hin und Her, die Angst, die Verzweiflung, die Ratlosigkeit werden spürbar. Die Gruppe ist davon merklich betroffen.

Nach einer Pause des längeren Schweigens dreht sich plötz­lich Reinhard zu mir und sagt heftig:

R: Wenn ich mir das so anhöre, und wenn ich mir vorstelle, was die Familie von der Andrea da mitmacht, dann denke ich mir, ich bin eigentlich nur knapp daran vorbeigegangen, daß es mit mir genauso gekommen wäre.

Th: Was meinst Du mit 'genauso gekommen wäre'?

R: Ich meine, wenn meine Frau da dahintergekommen wäre, ich möchte nicht wissen, wie das geendet hätte ... ich mei­ne, die Andrea hat sich ja da auf ein ganz leichtfer­tiges Spiel eingelassen, indem sie ein Verhältnis mit einem anderen Mann angefangen hat!

Th: Du meinst: Indem sie ihren Mann verläßt?

R: Ja, genau das meine ich. Wenn ich Pech gehabt hätte, hät­te mich meine Frau damals auch verlassen können.

 

Hier wird deutlich, wie Reinhard das, was er von Andrea zu hören bekommt, so umdeutet, daß es in sein Skriptschema paßt. Andrea tut im Prinzip genau das, was er vor einem Jahr getan hat: sie hat eine Beziehung außerhalb ihrer Ehe. Nicht Andreas Mann ist es, der sie verläßt, sondern sie verläßt ihn. Genauso hätte man sagen können: vor einem Jahr war Reinhard nahe daran, selbst seine Frau zu verlas­sen. Das, was für ihn aber bedrohlich wirkt und was er unter seinen verstärkenden Erfahrungen und Erinnerungen einsortiert, ist schlichtweg die Tatsache, daß eine Frau ihren Mann verläßt. In seiner Übertragung erinnert ihn Andrea in diesem Moment vermutlich an seine Mutter: Reinhards Vater ist gestorben, als er noch ein Kind war; seine Mutter hat­te dann sehr viele wechs Männerbeziehungen und hat sich sehr wenig um ihren Sohn gekümmert - etwas, wofür Reinhard immer die Schuld bei sich selbst gesucht hat. Genau diese Situation wiederholt er hier innerlich: eine Frau wird ihn verlassen, und er selbst hat Schuld daran.

 

R (ziemlich heftig): Ich denke mir, Du hättest sehen müs­sen, was da zwischen mir und der Brigitte los ist!

Th: Und wenn ich das gesehen hätte, was hätte ich dann tun sollen?

R: Du hättest einschreiten und was dagegen tun müssen!

Th: Du meinst, ich hätte etwas unternehmen sollen, damit Deine Ehe nicht in Brüche geht?

R: Ja, genau. Das wäre Deine Verantwortung gewesen. Und in Wirklichkeit hast Du Dich damals viel mehr um die Brigitte gekümmert und Dir um sie Sorgen gemacht, statt um mich.

 

Jetzt wird deutlich, was Reinhard auf mich überträgt: den Ärger auf den Vater, der ihn verlassen hat, statt dafür zu sorgen, daß sich die Mutter weiter um ihn kümmert. In sei­nem Erleben sieht es so aus, als ob ich mich damals vor einem Jahr wesentlich mehr um Brigitte als um ihn geküm­mert hätte. Tatsache ist, daß ich nach Brigittes Ausschei­den aus der Gruppe mehrere Gruppensitzungen damit ver­bracht habe, mit Reinhard an der Aufarbeitung dieser Geschehnisse zu arbeiten und daran, wie er die Situation  mit seiner Frau lösen kann. Da Reinhard schon relativ lan­ge in der Gruppe ist, ist es möglich, diesen Übertragungs­zusammenhang rasch anzusprechen.

 

Th: Und wie erklärst Du Dir, daß wir mehrere Sitzungen da­mals darüber gesprochen haben, wie Du Deine Ehe retten kannst?

R: (Pause) Hm. Das stimmt. Aber trotzdem hättest Du es frü­her erkennen müssen - ich meine, das hätte ja au die Hosen gehen können.

Th: Von einer Frau verlassen zu werden, das wäre eine vertraute Erfahrung für Dich gewesen?

R: Natürlich! So ist es mir ja meine halbe Kindheit hin­durch mit meiner Mutter gegangen - aber über das haben wir ja oft und oft gesprochen.

Th: Ja, das haben wir. Aber worüber wir noch nicht gespro­chen haben, das ist, daß Dein Vater nicht verhindert hat, daß Deine Mutter Dich im Stich läßt.

R: Wie hätte er denn sollen? Er war ja tot.

Th: Eben.

R (sieht mich betroffen an): Ja, Du hast recht. Wenn er nicht gestorben wäre, dann hätte er sicher nicht zugelas­sen, daß sie sich jede dritte Nacht einen neuen Liebhaber holt und sich nicht um mich kümmert. Aber ich kann doch nicht ...

Th: Du meinst, Du kannst nicht gut wütend auf ihn sein, weil er ja nichts dafür konnte, daß er gestorben ist?

R: Ja, natürlich. Er hat ja nicht sterben wollen!

Th: Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, daß Du Dich als kleiner Bub von ihm sehr im Stich gelassen ge­fühlt haben mußt.

R: Und Du meinst, daß ich die ganze Geschichte mit der Bri­gitte vielleicht nur angefangen habe, um wieder von ei­ ner Frau verlassen zu werden und um wieder auf einen Mann wütend zu werden, der da nicht einschreitet?

Th: Das könnte man so sehen.

R: Das macht mich jetzt sehr betroffen.

In der restlichen Gruppe ist diese Betroffenheit auch zu spüren: die Teilnehmer sind sehr ruhig und schauen nach­denklich auf Reinhard. Ausgenommen davon ist Christa - die Freundin von Brigitte, die damals die Gruppe verlassen hat. Sie ist unruhig, schaut niemanden an und atmet heftig. Als ich diese Unruhe anspreche, sagt sie:

Ch: Ich bin ja überhaupt nicht der Meinung vom Reinhard, daß Du Dich damals viel zu viel um die Brigitte gekümmert hast. Ich finde genau das Gegenteil: Du hast Dich nur um den Reinhard gekümmert. Du hättest dafür sorgen müssen, daß die Brigitte in der Gruppe bleibt. Die hätte es so notwendig gehabt, letzte Woche habe ich sie gesehen, und ich kann Dir sagen, es geht ihr sauschlecht. Die hätte drin­gend weiter Therapie gebraucht, und Du hättes nicht gehen lassen dürfen!

Th: Du meinst, ich habe mich nicht genug um die Brigitte gekümmert?

Ch: Du kümmerst Dich überhaupt sehr viel um den Reinhard, fällt mir auf. Er macht da sein komisches Spiel mit der Brigitte, und was aus ihr wird, das ist ihm und Dir wurscht.

Th: Und warum habe ich mich Deiner Meinung nach mehr um den Reinhard gekümmert als um die Brigitte?

Ch: Woher soll ich das wissen?

Th: Weil er ein Mann ist?

Ch: Naja, das würde schon passen. Das wäre auch eine Er­klä­rung, warum Du Dich um mich so wenig kümmerst.

Th: Erlebst Du das schon immer so, seit Du in der Gruppe bist?

Ch: Nein, das könnte ich so nicht sagen, aber seit einigen Wochen merke ich, daß ich zu Dir ziemlich auf Distanz ge­he.

Dazu ist anzumerken, daß sich Brigittes psychosomatische Pro­bleme im Laufe ihrer Teilnahme an der Gruppe weitgehend gelöst haben, sie aber nach wie vor ohne Part­nerbeziehung lebt, und - wenn von Männern in ihrem Leben überhaupt die Rede ist, sie sich über diese eher verächt­lich äußert. In der letzten Zeit habe ich diese Frage zunehmend thematisiert.

Th: Und dieses Zurückziehen - kann das damit zusammenhän­gen, daß ich Dich in der letzten Zeit immer wieder auf Dein Verhältnis zu den Männern angesprochen habe?

Ch (denkt nach): Ja, das kann schon sein, daß da ein Zu­sammenhang besteht. Ich denke mir, was will er denn die ganze Zeit mit den Männern, eigentlich geht es mir doch so viel besser in meinem Leben.

Th: Und warum hast Du es besser ohne einen Mann?

Ch: Männer interessieren sich ja doch nur für sich selber und ich werde dann letztlich ja doch nur links liegen ge­lassen.

 

Der Übertragungskontext wird deutlich: Reinhard beginnt ein Verhältnis mit einer anderen Frau und läßt seine Frau links liegen. Dann endet das Verhältnis, und seine Gelieb­te muß die Gruppe verlassen - wieder hat er eine Frau links liegen gelassen. Und zu guter Letzt beschäftige ich mich (in ihrem Erleben) mit Reinhard wesentlich mehr als mit Brigitte (und auch mit ihr) - wieder lassen die Männern die Frauen links liegen.

 

Ch: Alles in allem denke ich mir einfach, Du ergreifst Par­tei für die Männer.

Th: Noch einmal die Frage: Warum sollte ich das tun?

Ch: Das kann ich Dir auch nicht so genau sagen.

Th: Weil Du nie was anderes von den Männern erlebt hast?

Ch: Ja, das stimmt.

Th: Willst Du mir darüber erzählen?

Ch (schweigt)

Th: Bist Du traurig?

Ch (nickt)

Th: Bei welchen Männern hast Du das denn erlebt - daß sie wichtiger sind als die Frauen?

Ch (mit tränenerstickter Stimme): Naja, mein Vater hat ja getrunken, und immer wenn er getrunken hat, dann hat er fürchterlich mit der Mutti gestritten und manchmal hat er sie auch geschlagen. Und auch meine großen Brüder - die haben nur den Mund aufmachen müssen, und schon war das, was ich wollen habe, nicht mehr wichtig.

Th: Und so hast Du gelernt, daß die Männer immer wichtiger sind, als die Frauen, und daß eine Frau ohne Mann besser dran ist, als mit ihm?

Ch (nickt mit Tränen in den Augen)

Th: Ich sehe, daß Du traurig bist, Christa, und das kann ich auch verstehen. Das ist ja wirklich schlimm für ein kleines Mädchen, wenn der Vater die Mutter so schlecht behandelt und die Brüder immer bevorzugt werden.

Ch (zuckt mit den Achseln)

Th: Aber wenn ich mich daran erinnere, wie Du das Gespräch mit mir jetzt begonnen hast - da warst Du am Anfang ja ei­gentlich ziemlich wütend.

Ch: Ja, das stimmt - weil Du Dich um den Reinhard viel mehr gekümmert hast, als um die Brigitte.

Th: Und kann es sein, daß Du überhaupt auf die Männer wü­tend bist, weil sie immer bevorzugt werden, und Frauen von ihnen nichts Gutes zu erwarten haben?

Ch: Ja, natürlich habe ich eine Mordswut auf das Pack! (Meh­rere Frauen in der Gruppe lachen).

Th: Und was wäre passiert, wenn Du damals auf Deinen Papa oder auf Deine Brüder wütend geworden wärst?

Ch: Das beste wäre noch gewesen, daß gar nichts passiert  wäre. Aber wahrscheinlich hätte es schlimm geendet.

Th: Und da ist es dann wahrscheinlich einfacher, auf alle möglichen anderen Männer eine Wut zu entwickeln, statt auf den Vater oder auf die Brüder.

Ch: Vielleicht hast Du recht. Aber ich möchte für heute lie­ber hier Schluß machen. Ich denke mir, daß es für genug ist.

Die Arbeit in der Therapiegruppe besteht aus sehr vielen solchen verhältnismäßig kurzen Sequenzen: die Teilnehmer treten untereinander in Übertragungsbeziehungen und diese Übertragung wird durch das jeweilige Verhalten und Erleben gegenseitig stimuliert. Zum Teil unabhängig davon, zum Teil resultierend oder mitbedingt daraus entwickelt sich die Übertragung zu mir. All das mündet in bestimmten Erle­bens- und Verhaltensmustern der Teilnehmer, und diese wer­den, wenn sie auftauchen, verhältnismäßig kurz analysiert und - soweit nötig - durchgearbeitet. Aus der Beobachtung der Arbeit mit den anderen Teilnehmern, entwickeln auch neue Gruppenteilnehmer verhältnismäßig rasch ein Ver­ständ­nis für die Dynamik der Übertragung. Anders als in lang­fristiger übertragungs- und gegenübertragungsorientierter Einzeltherapie ist es daher möglich, die Übertragung ra­scher von der verdeckten auf die offene Ebene zu bringen. Das ist auch notwendig, weil - bei aller Intensität der Beziehung zwischen mir und den Teilnehmern - trotzdem die Übertragungsbeziehung in der Gruppe nicht vergleichbar mit der einer regelmäßigen Einzeltherapie ist.

Anschließend nehmen einige TeilnehmerInnen Stellung zu dem, was sie eben in der Gruppe erlebt haben. Noch vor der Pause beginne ich, ein leichtes drückendes Gefühl im Ober­bauch zu spüren. Das ist für mich meist ein Anzeichen, daß ich entweder selbst Ärger unterdrücke oder im Gegenüber­tragungsweg unterdrückten Ärger von Klienten aufnehme. In der Pause denke ich darüber nach, kann aber nicht wahr­nehmen, daß ich mich über Reinhard oder Christa geärgert hätte. Ich beschließe daher, es nach der Pause anzu­spre­chen. Meine erste Vermutung ist, daß es mit Andrea zu tun haben könnte, die ja sozusagen die "Auslöserin" der Arbeit von Reinhard und Christa gewesen ist.

Th: Andrea, wie geht es denn Dir nach all dem?

A: Ich könnte nichts Spezielles dazu sagen. Ehrlich ge­sagt, war ich mehr mit mir selber und den Gedanken über meine Ehe beschäftigt, als daß ich da besonders zugehört hätte.

Th: Kann es sein, daß Du Dich über irgend etwas ärgerst?

A (schaut mich groß an): Nein, davon kann ich nichts mer­ken. Nein, Ärger habe ich keinen - eher bin ich ziemlich traurig und habe auch Angst vor dem, was da alles auf mich zukommt.

 

Ich spreche einige Zeit mit Andrea über diese Situation, und auch andere Gruppenmitglieder beteiligen sich daran. Für mich ist tatsächlich bei ihr kein wesentlicher unter­drückter Ärger spürbar, dennoch vergehen meine Gefühle im Oberbauch nicht, im Gegenteil, sie werden eher stärker. Ich beschließe daher, sie direkt anzusprechen.

 

Th: Ich möchte Euch etwas mitteilen: Seit etwa einer hal­ben Stunde spüre ich so ein mulmiges Gefühl im Bauch. So ein Gefühl kenne ich ziemlich gut: Ich habe das meistens, wenn es irgendwo Ärger gibt, der nicht rausdarf. Jetzt fra­ge ich mich die ganze Zeit, ob ich Ärger habe, od jemand von Euch Ärger hat, über den er nicht spricht.

Als ich das sage, beginnt eine weitere Teilnehmerin, Clau­dia, verlegen zu lachen. Claudia ist Mitte dreißig, Lehre­rin, zum zweiten Mal verheiratet, und auch diese Ehe droht  zu zerbrechen. Claudia ist erst seit zwei Monaten in der Gruppe. Sie ist an sich eine attraktive Frau, leidet aber vehement unter der Idee, häßlich und dick zu sein und Män­nern nicht gefallen zu können.

Th: Du lachst so?

C: Naja, lachen -

Th: Es klingt, als ob Dir eher nach etwas anderem zumute wäre, als nach lachen.

C: Ich bin froh, daß Du mich darauf ansprichst, ich weiß nicht, ob ich mich getraut hätte, es zu sagen. Aber wenn es jetzt schon einmal heraus ist, dann muß ich Dir sagen, daß ich die Christa sehr gut verstehen habe können.

Th: Was von der Christa hast Du gut verstehen können?

C: Naja, daß sie sich über Dich geärgert hat.

Th: Heißt das, Du ärgerst Dich auch über mich?

C: Eigentlich schon ...

Th: Hast Du Angst, mir den Ärger zu sagen?

C: Naja, sicher, so einfach ist das nicht.

Th: Was könnte dann passieren?

C: Du könntest mich aus der Gruppe rausschmeißen und ich fühle mich zwar hier überhaupt nicht wohl, aber ich weiß, daß das meine einzige Chance ist, wenn ich nicht zum zwei­ten Mal geschieden werden will.

Th: Und warum sollte ich Dich aus der Gruppe rausschmei­ßen?

C: Weil Du mich sowieso nicht magst! Und weil ich wirklich das Gefühl habe, daß ich hier in der Gruppe keinen Platz habe.

 

Diese Äußerung Claudias kommt für mich etwas überraschend, da ich in den Sitzungen, seit sie hier ist, verhältnismä­ßig viel Zeit für Gespräche mit ihr verwendet habe. Außer­dem stimmt die Fantasie, daß ich sie nicht mag, für mich überhaupt nicht.

 

Th: Du glaubst also, daß ich Dich nicht mag und daß ich  Dich nicht hier haben will?

C: Ja, es kommt mir fast so vor.

Th: Willst Du von mir hören, wie es damit wirklich steht?

C: Das will ich schon - obwohl ich mir ja denken kann, wie die Antwort ausfällt.

Th: Dann mach eine Fantasie. Fantasiere als erstes, daß ich sagen würde: Ja, es stimmt. Ich mag Dich wirklich nicht, und es wäre mir wirklich recht, wenn Du nicht mehr hier wärst. Wie wäre das für Dich, wenn ich das sagen würde?

C: Na, ich wäre furchtbar gekränkt darüber.

Th: Ja, und jetzt mach eine zweite Fantasie: Ich würde sa­gen, nein, Claudia, das stimmt nicht. Ich mag Dich, und für mich hast Du selbstverständlich Deinen Platz hier in der Gruppe, und ich freue mich, wenn Du herkommst. Wie wäre das?

C (sieht mich an, und fängt an zu lachen): Das würde ich Dir nicht glauben.

Th: Das ist ja schwierig: Wenn ich Dir sage, daß ich Dich mag, dann glaubst Du es mir nicht, und wenn ich Dir sage, daß ich Dich nicht mag, dann ist es eine tiefe Krän­für Dich.

C: Ja, aber so geht es mir immer.

Th: Was heißt immer?

C: Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, daß ein Mann mich mögen soll und damit meine ich nicht nur liebhaben, sondern überhaupt auch nur sympathisch finden.

Th: Und wenn einer es doch tun würde -

C: Dann würde ich es ihm nicht glauben.

Th: Und woher kommt dieses Bild, daß es keinen Mann auf der Welt gibt, der irgendetwas an Dir finden sollte?

C: Naja, ich kann mir schon vorstellen, daß ich das halt in meinen beiden Ehen und in all den anderen Männerbezie­hungen so erlebt habe. Denen war ja nie etwas recht an mir, bestenfalls wollten sie mit mir schlafen.

Anschließend erzählt Claudia einige Zeit über ihre erste und ihre jetzige Ehe. Danach sage ich:

Th: Ich kann mir schon vorstellen, daß all diese Erfahrun­gen Dein Bild, daß Du von Männern nicht zu mögen bist, verstärkt haben. Aber es klingt ja so, als ob Du nie mit einem anderen Bild an die Beziehung mit einem Mann herangegangen wärst. Das heißt, als ob es dieses Bild schon viel früher in Dir gegeben hätte, bevor Du begonnen hast, Dich in Männer zu verlieben.

C: Das weiß ich nicht so genau.

Th: Was für eine Rolle haben denn Männer in Deinem Leben als Kind gespielt?

C: Spontan würde ich sagen, keine. Mein Vater hat uns ver­lassen, wie ich ganz klein war. Und aufgewachsen bin ich dann mit meiner Mutter und meiner Großmutter.

Th: Also ein reiner Frauenhaushalt?

C: Ja, das kann man so sagen.

Th: Und warum hat Dein Vater Euch verlassen?

C: Weil er ein gemeines Schwein war! Jetzt, wo Du das sagst, fällt mir ein, warum ich mich bei dem, was die Christa gesagt hat, so angefangen habe, aufzuregen. Er hat dann in zweiter Ehe noch einen Sohn gehabt und wenn er auf Besuch war, dann war das immer sein Schatzibub, und mich hat er grob behandelt.

Th: Was hat er gesagt oder getan?

C: Wenn er mich nur gesehen hat, hat er gesagt: Häßliche fette Sau, Du bist ja zu allem zu blöd.

 

GruppenteilnehmerInnen äußern ihr Entsetzen, Kopfschütteln etc.

 

Th: Das hat er zu Dir gesagt?

C: Und nicht nur einmal! Immer wieder hat er mir das Ge­fühl gegeben, ich bin häßlich, und ich bin dumm. Wie ich so zehn, zwölf war, ist er einmal auf Besuch gekommen und ich habe gerade ein Buch gelesen, da hat er gesagt: Was, die blöde Sau kann sogar lesen? Und ich habe das Gefühl gehabt, das hat ihn wirklich erstaunt, daß ich lesen kann.

Th: Ich finde das absolut unglaublich.

C (fängt an zu weinen): Ich kann es ja selbst kaum glauben, daß ein Vater so zu seiner Tochter ist!

Th: In meinen Augen ist das kein Vater. Zum Vatersein ge­hört mehr, als nur ein Kind zu zeugen. Außerdem muß er ei­ne grenzenlose Verachtung für Frauen haben.

C: Das hat er wirklich gehabt! Bevor sie sich scheiden ha­ben lassen, hat er meine Mama immer geschlagen und sie hat aufpassen müssen, daß er mich nicht auch schlägt. Und ich war noch ein Baby damals! (weint)

Th: Das ist absolut unmenschlich.

C: Er war so gemein! (weint heftig) Aber vielleicht war ich ja wirklich so häßlich?

Th: Ist das die Erklärung, die Du dafür gefunden hast, daß Du für Männer nicht liebenswert bist?

C: Ich habe mir immer gedacht, daß mit mir was nicht stim­men muß, sonst hätte er ja nicht so gemein zu mir sein kön­nen.

Th: Mit ihm stimmt was nicht, sonst wäre er nicht so gemein gewesen. Du warst ein ganz normales kleines Mäd­chen.

C (weint heftig)

Th: Ist es das, was Du damals für Dein Leben herausgefun­den hast: Daß mit Dir was nicht stimmt und daß Dich die Männer deswegen nicht mögen?

C (nickt unter Weinen)

Th: Das ist eine schreckliche Erfahrung, die Du da mit Dei­nem Vater gemacht hast.

(Pause)

Aber nach allem, was ich von Deinem Mann bisher weiß, hat er zwar sicher seine Fehler, aber ich bin mir sicher, daß er Dich mag.

C: Und das ist es, was mir so schwerfällt zu glauben.

Th: Ja. Wer Dich wirklich nicht gemocht hat, war Dein Va­ter. Und das war absolut nicht in Ordnung von ihm. Du hät­test wie jedes andere Kind das Recht darauf gehabt, daß er Dich mag.

 

Wir sprechen noch eine Weile über Claudias Vater, und sie erzählt mehrere schlimme Erinnerungen an ihn. Zu Abschluß der Arbeit frage ich sie:

 

Th: Wie geht es Dir denn jetzt mit mir, Claudia, nach dieser Arbeit?

C: Ich glaube, besser.

Th: Meine Frage heißt genauer: Wie denkst Du jetzt darü­ber, ob Du einen Platz hier in der Gruppe hast?

C:Ich glaube, ich kann es jetzt glauben. Doch, ich bin jetzt froh, daß ich hier bin und möchte gerne weiter kommen, wenn Dir das recht ist.

Th: Selbstverständlich ist mir das recht. Ich freue mich, wenn Du weiter kommst.

 

Claudia hatte das Displayverhalten von Christa in ihrem Erinnerungsspeicher eingereiht als weitere Bestätigung da­für, daß ich Frauen überhaupt und sie im speziellen nicht mag bzw. daß Männer überhaupt sie nicht mögen und ihr kei­nen Platz geben. Durch die Äußerungen von Christa (die Männer halten zusammen, ich hätte nicht nur Christa, son­dern auch Brigitte abgelehnt), wurde ihr eigenes Übertra­gungsgefühl, nicht von mir gemocht zu werden, verstärkt und bestätigt. Die angeführte Sequenz ist ein Beispiel für das Ablösen und Durcharbeiten der Übertragung, während es in den vorherigen beiden Fällen um das Bewußtmachen der Übertragung ging. Indem Claudia regressiv die ursprüng­liche Situation wieder erlebt, in Kontakt mit ihren ursprünglichen Skriptentscheidungen kommt und durch das Durch­leben der abgewehrten traumatischen Gefühle zu Schlußfolgerungen für ihr Leben kommen kann, ist ein Stück der Übertragung von mir abgelöst und auf die ursprüngliche kontaktverweigernde Bezugsperson zurückgeführt. In der Auseinandersetzung mit dieser Bezugsperson (ihrem Vater) kann ein Stück Skriptheilung geschehen.

Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Nicht alle Gruppensitzungen sind so intensiv, nicht in allen Gruppen­sitzungen passiert so viel expliziter Umgang mit der Über­tragung und ihrem Bewußtmachen bzw. Ablösen und Durchar­beiten. Oft wird die Übertragung (untereinander und zu mir her) sehr wenig thematisiert, und ein größerer Fokus liegt auf der Rückmeldung der Gruppenmitglieder untereinander und dem therapeutischen Arbeiten mit mir an verschiedenen gegenwärtigen und vergangenen Lebensproblemen.

Zusammenfassend sollen noch einmal kurz die Unterschiede zwischen Einzel- und Gruppentherapie im beziehungsorien­ tier­ten Übertragungs-Gegenübertragungssetting deu gemacht werden:

Die Gruppe stellt durch das verflochtene Netz von Bezie­hun­gen untereinander eine stärkere Stimulierung zu schnel­le­rer Übertragung dar, als es die Einzeltherapiesitu tut. Insbesondere ist durch das Miterleben der Arbeit der anderen Gruppenteilnehmer ein schnelleres Begreifen der Realität von Übertragung und Gegenübertragung möglich. Hin­sichtlich der Gegenübertragung sind die Anforder an den Therapeuten wesentlich komplexer, weil er sich  auch in dem erwähnten Beziehungsgeflecht befindet.

Es ist zu berücksichtigen, daß für manche Klienten eine Gruppe eine zu hohe Anforderung darstellen würde, insbesondere am Anfang der Therapie. Zumindest die Hälfte der Gruppenteilnehmer hat im allgemeinen schon län­einzeltherapeutische Erfahrung bei mir.

Die vorhin er­wähnte Verteilung der psychischen Stör in meinen Gruppen über die Jahre ist daher nur bedingt als zufällig anzusehen: für Patienten mit psychotischen und schweren Borderline-Störungen stellt das beziehungsori­en­tierte gruppentherapeutische Setting im allgemeinen eine zu hohe Anforderung dar. Die komplizierte Übertragungsthe­matik bei dieser Art von Störung kann im Gruppenrahmen nicht genügend berücksichtigt werden; das würde dann dazu führen, daß die hohe Übertragungsintensität der Gruppe solche Patienten zwar stimulieren würde, selbst in einem starken Maße zu übertragen. Für das Ablösen und Durch­arbeiten dieser Übertragung ist jedoch im Rahmen der Gruppe (wo sie den Therapeuten mit sieben anderen "Kol­legInnen" teilen müssen) nicht genügend Beziehungsinten­sität gewährleistet. Die Erfahrungen mit Patienten mit solchen Störungen in der Gruppe haben das bestätigt. Auch für neurotische, insbesondere angstneurotische und dep­ressiv-neurotische Patienten ist das von mir geschilderte Gruppensetting nur bedingt anzuraten. Diese Patienten brauchen im allgemeinen eine sehr lange Zeit, um ent­sprechende Übertragung auf den Therapeuten zu entwickeln bzw. diese an ihr Bewußtsein dringen zu lassen. Daher ist bei solchen Personen zumindest vorherige entsprechend lange einzeltherapeutische Erfahrung indiziert. Die diag­nostische Gruppe, mit der ich in meinem Gruppensetting die besten Erfahrungen gemacht habe, sind Personen mit leich­ten bis mittelschweren narzißtischen Persönlichkeits­stö­rungen. Einerseits sind sie zu genügend rascher Über­tra­gung bereit (die narzißtische Problematik wird ja ge­durch das Teilen-Müssen entsprechend stimuliert), ande­rerseit sind sie fähig genug, sich mit dieser Übertragung auseinanderzusetzen und sie auch durchzuarbeiten. Denn auch das stellt ja in gewissem Sinne ein positives Aus­nutzen des pathologischen Narzißmus dar, daß sich sozu­sagen "vor Publikum" jemand mit ihren Problemen und Stö­ rungen beschäftigt.

Literatur:

  • BERNE, E.: Principles of Group Treatment. New York, 1966
  • BERNE, E.: Spiele der Erwachsenen. Reinbek 1967
  • BERNE, E.: Was sagen Sie, nachdem Sie Guten Tag gesagthaben? Fischer tb 1973
  • BERNE, E.: Struktur und Dynamik von Organisationen und Gruppen. Kindler TB, 1979
  • CHRISTOPH-LEMKE, Ch.: Nachwort. In: ERSKINE,R.G./MOURSUND,J.: Kontakt, Ich-Zustände, Lebensplan.     Paderborn 1991
  • ERSKINE, R.G.: Transactional Analysis and Family Therapy. In: HORNE, A.M. OHLSEN, M.M. (Ed.):        Family Counseling and Therapy. Itasca, Ill., 1982
  • ERSKINE,R.G./ZALCMAN,M.: The Racket System. In: Selected Articles from the Transactional             Analysis Journal 71-88
  • ERSKINE,R.G./MOURSUND,J.: Kontakt, Ich-Zustände, Lebensplan. Paderborn 1991
  • FREUD,S.: Zur Dynamik der Übertragung (1912)
  • HOLTBY, M.E.: Ineinandergreifende Maschensysteme. In: Neues aus der Transaktionsanalyse,             Jg.3/12, 1979
  • GREENSON, R.R.: The Technique and Practice of Psychoanalysis, Vol. I. New York 1967
  • MAHLER, S.M./PINE, F./BERGMAN, A.: Die psychische Geburt des Menschen. Symbiose und                  Individuation. Fischer TB, 1980
  • MENTZOS, S.: Neurotische Konfliktverarbeitung. Einführung in die psychoanalytische Neurosenlehre      unter Berücksichtigung neuer Perspektiven. Fischer tb, 1984
  • SEJKORA, K.: Männer unter Druck. Wege aus typisch männlichen Lebenskonflikten. Salzburg 1989
  • SEJKORA, K.: Therapieverlauf, Therapieplanung und therapeutische Beziehung. In: SELL, M.              (Hrsg.):Geschichte und Transaktionsana­lyse. Symposium 10 Jahre INITA, Hannover 1991
  • SEJKORA, K.: Diagnose von Ich-Zuständen in der therapeutischen Beziehung. Workshop am 13.             Kongreß der DGTA, Mainz, 1992 (unveröff.)
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