9. DIE SPRACHE DER TRÄUME. ÜBERLEGUNGEN ZU EINER TRANSAKTIONSANALYTISCHEN THEORIE DES UNBEWUSSTEN

Leitvortrag auf der 2. Fachtagung
‘Tage Tiefenpsychologischer Transaktionsanalyse’
Wels, September 1995

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„Es gab Träume, dachte er, und es gab Erinnerungen. Manchmal gab es Träume, wie um keine Erinnerungen zu haben oder um sich an die Erinnerung wiedererinnern zu können, und an diesem Morgen war Sigmund Freud sich einen Augenblick lang ganz und gar nicht sicher, um was es sich gehandelt hatte. Eine blitzartige Intuition oder aber eine Erinnerung, er wußte es nicht genau.“  (Hill 1995, S. 66)

Dieses Zitat findet sich in dem heuer erschienen Roman ‘Dr. Freuds Geheimnis’ der amerikanischen Autorin Carol de Chevis Hill, und so, wie dieser Absatz in wenigen einfachen Worten Wesentliches über das menschliche Unbewußte plastisch macht, so ist das ganze Buch ein Schlüsselroman über verborgene und halbverborgene seelische Vorgänge.

 

In diesem faszinierenden Krimi, der im Wien der Jahrhundertwende spielt, wird Sigmund Freud in eine mysteriöse Frauenmordserie verwickelt.  All die Elemente, die Freud in seinen Arbeiten über das Unbewußte und die Träume herausgearbeitet hat (Freud 1901, 1912a, 1915, 1938) und die in dem ihm von der Autorin in den Mund gelegten Satz so klar zusammengefaßt sind, bestimmen die Romanhandlung: etwas verschwindet gewaltsam (in diesem Fall sind es ermordete Frauen), taucht wieder auf - und verschwindet auch schon wieder, und niemand weiß, ob es eine hysterische Einbildung war oder nicht; scheinbar zusammenhanglose Einzelstücke werden an den verschiedensten Orten gefunden (in der Kriminalhandlung sind es Leichenteile), gleichzeitig findet man rätselhafte Texte, gewissermaßen freie Assoziationen, die irgendwie mit den Morden zu tun haben, irgendwie auch nicht; es gibt Verschiebungen - oft ist nicht klar, wer eigentlich der ermittelnde Polizist ist und wer der Psychoanalytiker, Freud oder der Kriminalinspektor; Hausnummern werden verwechselt und Personen landen an der falschen Adresse und vieles andere mehr.

Fast spielerisch half mir dieses Buch in meinen damals komplizierten und mühseligen Überlegungen zum Verständnis des Unbewußten weiter. Zu einem Zeitpunkt, als ich mich durch verschiedene tiefenpsychologische Theorien durcharbeitete, machte es mir auf vielschichtige Weise mit einem Mal vieles klar über die Wirkweise seelischer Kräfte unterhalb der Schwelle unseres Bewußtseins. War es ‘Zufall’, daß mir das Buch gerade heuer im Frühjahr in die Hände fiel, als ich mitten in den Vorarbeiten zu diesem Vortrag steckte?

Aber hat diese Frage - ob ich wirklich zufällig auf dieses Buch gestoßen bin oder ob mein eigenes Unbewußtes daran beteiligt war - mich als Transaktionsanalytiker überhaupt zu beschäftigen? Ist es für einen Transaktionsanalytiker überhaupt von Bedeutung, ob es Träume gibt, um sich wiedererinnern zu können, oder Träume, um die Erinnerung zu vermeiden? Sind Träume für einen Transaktionsanalytiker mehr als eher beliebige Elemente, die sich gestaltpsychologisch gut für die Neuentscheidung nutzen lassen? (Thomson 1987)

 

Gilt nicht für die Transaktionsanalyse weiterhin, was Drye 1977 in einem Vergleich zwischen TA und Psychoanalyse schreibt: „Der größte Unterschied zwischen den beiden Modellen ist das Fehlen des ‘Unbewußten’ als einer Qualität in der TA.“ (S. 199, Übersetzung K.S.)

Auch im Standardwerk der modernen TA, ‘TA Today’ von Stewart/Joines (1987) taucht der  Begriff ‘unbewußt’ nur marginal im Zusammenhang mit dem Skript, der in früher Kindheit zurechtgelegten Lebenskonzeption, auf - und da nur im Sinne des englischen Wortes ‘unaware’, was mehr bedeutet: nicht gewahr sein, nicht wissen: „Script is outside of awareness’ (S. 101). In Publikationen jüngsten Datums im ‘Transactional Analysis Journal’ oder in Tagungsbeiträgen, auch von Autoren, die von der tiefenpsychologischen Sichtweise der TA beeinflußt sind, kommt ‘unconscious’ als Begriff mittlerweile zunehmend vor. Aber auch dann bezeichnet dieser Begriff nicht etwas mit einer eigenen, mächtigen und auch unheimlichen Dynamik, sondern eher etwas, das einfach ‘nicht bewußt’ oder ‘nicht gewahr’ ist, das man schlicht nicht bemerkt - und damit hat sich’s dann (Clarkson 1994, Cornell 1994, English 1994, Erskine/Trautmann 1993, Erskine 1994, Novey 1994).

Damit steht die Transaktionsanalyse immer noch im Sinn von Eric Bernes Aussage in seinem letzten Buch: „Die Skriptanalytiker glauben an das Unbewußte, aber sie legen den Nachdruck auf das Bewußte (...).“ (1973, S. 453)

 

Aber läßt sich so eine Position wissenschaftlich und technisch-methodisch noch aufrechterhalten? Läßt sie sich vor allem menschlich, moralisch-ethisch noch aufrechterhalten  in den Tagen des Infernos von Sarajevo, in den Zeiten von Briefbomben und brennenden Asylantenheimen, in denen auf so grausige Art wahr wird, was Freud schon 1912 schreibt: „Die unbewußten Regungen wollen nicht erinnert werden, (...) sondern sie streben danach, sich zu reproduzieren.“ (S. 491)?

Freuds epochales Werk war ja nicht nur, nachzuweisen, daß es Dinge gibt, die dem Menschen nicht immer bewußt und gegenwärtig sind, sondern vor allem, daß es in diesem Un-Bewußten Unmengen von Inhalten gibt, die sich hartnäckig dagegen wehren, die Schwelle zum Bewußtsein zu überschreiten - die aber gleichzeitig eine enorme Wirksamkeit entfalten, im Konstruktiven wie im Destruktiven. Sie tauchen wieder auf, aber verzerrt, verschoben, bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, dem Wiederholungszwang unterworfen und sind einerseits der Motor für Kreativität und Intuitivität, andererseits aber auch die Quelle für ungeheures seelisches, körperliches und durch ihr Ausagieren auch soziales Leid (Freud 1912a, 1915, 1938).

Einstmals sind sie dem Ich bewußt gewesen - aber dann sind Dinge geschehen, die so schlimm waren, daß wir uns ihrer lieber nicht mehr bewußt sein wollten: es traten unlösbare Konflikte auf zwischen kindlicher Sehnsucht (Freud nennt es ‘Wunscherfüllung’) und der frustrierenden Realität, die unsere Eltern so einschränkend gestalteten. Durch einen momentan wohltuenden und Erleichterung schaffenden Vorgang wurden diese schmerzlichen, subjektiv nicht bewältigbaren Erfahrungen ins Unbewußte abgeschoben. Das Mittel dazu sind Vorgänge, die Freuds Tochter Anna näher explorierte: die Abwehrmechanismen, deren Aufgabe es ist, alles vom Ich fernzuhalten, was ihm Unlust verschafft (A. Freud 1974).

 

All das ist eigentlich seit ihren Anfängen impliziter Bestandteil der TA: Berne setzte in all seinen Werken die Grunderkenntnisse der Psychoanalyse, insbesondere die über das Unbewußte, voraus. Seine Erkenntnisse über die Intuition, Ich-Zustände, Transaktionen, Spiele und Skripts entsprangen dem Wunsch, die Wirkweise des Unbewußten im Verhalten deutlicher zu machen (Berne 1949, 1952, 1953, 1957a, 1957b, 1958, 1961, 1962, 1966, 1970, 1973).

Wenn auch in den Folgejahren vom Unbewußten, von Abwehr und Ich-Bildung nicht mehr geredet wurde, waren all diese Vorgänge trotzdem immer Bestandteil der verschiedenen theoretischen Entwicklungen in der TA, auch wenn man andere Terminologien dafür fand (unter vielen anderen:, Goulding/Goulding 1978, 1981, Steiner 1982,Schlegel 1984, Woollams/Brown o.J., Stewart/Joines 1987, James 1977). Allerdings beschäftigte man sich hauptsächlich damit, wie das Abgewehrte dem Unbewußten zu ‘entreißen’ ist, damit es wiedererinnert, verarbeitet und integriert werden kann (neben den genannten AutorInnen z.B. Erskine/Moursund 1991, McNamara/Lister-Ford 1995).

Erst der vor einigen Jahren in Gang gekommene Prozeß der Entwicklung der Tiefenpsychologischen Transaktionsanalyse hat eine neuerliche Beschäftigung mit dem Unbewußten mit sich gebracht, zuerst zaghaft, mittlerweile immer deutlicher (Erskine/Zalcman 1979, Erskine 1988, 1991, Moiso 1985, Weil 1986, Moiso/Novellino 1990, Erskine/Trautmann 1993, Clarkson 1992, Christoph-Lemke 1991, Sejkora 1989, 1991, 1992, 1993a, 1993b, 1993c, 1994, Christoph-Lemke/Rath/Springer 1995, Rath/Springer 1995).

Insgesamt kann man sagen, daß sich die Transaktionsanalyse zur Stunde wohl in einem hohen Ausmaß mit dem Unbewußten beschäftigt - aber in den allermeisten Fällen nur damit, wie Bewußtes zu Unbewußtem wird, wie Unbewußtes im Verhalten manifest wird und wie Unbewußtes wieder zu Bewußtem werden kann. Um es in einem Bild zu sagen: wir haben hier einen Fluß, der Teile seines Laufs unter der Erde fließt. Die TA setzt sich damit auseinander, wie und wo er versiegt und wo und wie er wieder auftaucht und auch mit Methoden, ihn anzubohren und zum Auftauchen zu bringen - aber mit den verborgenen, unterirdischen Strecken befassen wir uns meist nur implizit.

Berne selbst erklärte diese Diskrepanz seinerzeit damit, daß die psychoanalytischen Theorien über das Unbewußte und dementsprechend auch Technik und Methodik der Psychoanalyse nur für neurotische, nicht aber für persönlichkeitsgestörte (narzißtische) oder gar psychotische Menschen anwendbar sei. Daher sei die klare, einfache, das Unbewußte zwar kennende, aber nicht speziell erforschende oder nutzende Transaktionsanalyse für diese Leiden anzuwenden. (Berne 1973).

Das entsprach dem damaligen Stand der Betrachtungsweise. Mittlerweile hat aber die psychoanalytische Entwicklungspsychologie und die intensive Auseinandersetzung mit dem Selbst und dessen Störungen große Fortschritte gemacht (Jacobson 1974, Mahler/Pine/Bergman 1984, Bowlby 1984, 1986, Kernberg 1983, Kohut 1993, Johnson 1988, Masterson 1980, 1993): es gibt genug Wissen über die unbewußten Vorgänge, die den sogenannten ‘frühen Störungen’ zugrunde liegen und damit genug Wissen, das auch für die Tiefenpsychologische Transaktionsanalyse nutzbar gemacht werden kann.

Um dieses Unterfangen zu leisten, müssen wir zwei zentrale tiefenpsychologische Begriffe in das Gebäude der TA integrieren: den des ICH und den des SELBST.

 

Freud bezeichnet 1923 das Ich als die „zusammenhängende Organisation der seelischen Vorgänge in einer Person“; an dieser zusammenhängenden Organisation hänge das Bewußtsein, aber auch „die Verdrängungen (...) durch welche gewisse seelische Strebungen (...) vom Bewußtsein ausgeschlossen werden.“ (S. 372) Anna Freud (1975) hat zusätzlich zu der von ihrem Vater entdeckten Verdrängung noch neun weitere vom Ich ausgehende Abwehrformen beschrieben, die hier nicht im Detail erwähnt werden müssen.

Trotz dieser klaren Definition - das Ich ist die Organisation der seelischen Vorgänge - hat Freud mit seiner Instanzenlehre ein kompliziertes Konstrukt geschaffen, in dem dem Es und dem Über-Ich die ‘Verwahrung’ des Unbewußten zugedacht wird und das die ursprüngliche Eindeutigkeit - das Ich organisiert alle seelischen Vorgänge - wieder unterläuft.

Es ist das Verdienst Eric Bernes und der Transaktionsanalyse, in der Weiterentwicklung der Ideen von Bernes Lehranalytiker - des aus Österreich emigrierten Paul Federn (Federn 1978) - ein Modell der verschiedenen Zustände des Ich und der ihnen zugrundeliegenden Psychischen Organe (Berne 1957b, 1961) geschaffen zu haben. Dieses Modell macht das Freud’sche Konstrukt der Instanzenlehre überflüssig und ermöglicht eine konsistente Betrachtungsweise des Ich, in der sowohl Bewußtes wie auch Unbewußtes und die zugehörigen Abwehrvorgänge enthalten sind.

 

Wir sehen hier das Ich - die „zusammenhängende Organisation der seelischen Vorgänge in einer Person“ - mit Bewußtem und Unbewußtem. Diesem Ich liegen die psychischen Organe zugrunde: die Archäopsyche funktioniert als Speicher aller Erfahrungen, die aus eigenen Problemlösungen stammen, konstruktiven wie destruktiven, guten wie schlechten; die Exteropsyche als Speicher der Erfahrungen, die aus Problemlösungen von äußeren Quellen stammen (vor allem von den Eltern). Die Neopsyche schließlich ist das Organ des Verwertens der zugänglichen gespeicherten Erfahrungen, des Wahrnehmens, des adäquaten Denkens, Fühlens und Handelns, Reagierens und Agierens im Hier und Jetzt (vgl. Christoph-Lemke/Rath/Springer 1995).

Auf der Basis dieser psychischen Organe bilden sich Ich-Zustände als beobachtbare Erscheinungsformen des Ichs: der Erwachsenen-Ich-Zustand als Ausdruck altersangemessenen Denkens, Fühlens und Verhaltens; Kind-Ich- und Eltern-Ich-Zustände als Ausdruck von wiederbelebten früheren, selbst entwickelten  oder von außen übernommenen Formen des Ichs.

Die beiden letzteren, Kind-Ich- und Eltern-Ich-Zustandsformen, sind dem Unbewußten zuzuordnen. Diese früheren Zustandsformen des Ich wurden seinerzeit durch Abwehrmechanismen aus dem bewußten Erleben verbannt. Sie sind daher der Neopsyche für ihre Verarbeitungsprozesse primär nicht zugänglich.

Der Erwachsenen-Ich-Zustand ist zu großen Teilen bewußt bzw. dem Bewußtsein zugänglich, hat aber auch unbewußte Anteile (z.B. Intuition und Kreativität).

Das Ich als Ganzes aber ist keine gegebene, von Anfang an vorhandene Größe im Menschen wie zum Beispiel der Blutkreislauf. Von Anfang an gegeben ist nur die Fähigkeit, ‘Ich’ zu werden - ‘psychisch geboren’ zu werden, wie Margaret Mahler das treffend ausdrückt (Mahler/Pine/Bergman 1984).

Die Entwicklung des Ichs, seine Stärke oder Schwäche ist abhängig von der Beziehung mit anderen Menschen, primär natürlich den Eltern. Diese Vorgänge sind in der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie sehr anschaulich beschrieben worden (Mahler/Pine/Bergman 1984, Bowlby 1984, 1986, Jacobson 1974, Blanck/Blanck 1978, 1979). Je schmerzhafter und defizitärer diese Beziehung ist, umso mehr Erfahrungen, die das junge Kind macht, müssen über Abwehrmechanismen ins Unbewußte abgedrängt werden. Daß abgewehrt wird, daß das Unbewußte aktiviert und mit Inhalten angefüllt wird, ist normal und natürlich; frustrierende Beziehungserfahrungen sind in einem gewissen Maß sinnvoll und gesund. Je mehr aber das Unbewußte - auf dessen Wirkweisen ich noch zu sprechen kommen werde - strapaziert wird, umso mehr wird es zum bestimmenden Teil des Ich: umso schwächer und seinen Aufgaben weniger gewachsen ist das Ich.

 

Was aber ist die vorrangige Aufgabe des Ich, der es gewachsen sein sollte? Man könnte schlicht sagen, das Leben zu führen - aber da es kein Leben ‘an sich’ gibt, geht es um das konkrete Leben des konkreten Menschen: um das, worin er oder sie als Individuum, als Person sichtbar wird und sich ausdrückt. Mit anderen Worten: das, was das Ich organisiert, ist das SELBST.

Unter dem Selbst können wir das Ganze der physischen und psychischen Person verstehen (Jacobson 1974), alles das, was wir sind - oder was wir glauben, zu sein.

Wie geht das Ich bei dieser großen Aufgabe, das Selbst zu bilden, zu organisieren, vor?

Das Ich muß Kontakt und Beziehung zu anderen Personen, zu ‘Bezugs’-oder besser ‘Beziehungs’-Personen herstellen. In der tiefenpsychologischen Fachsprache werden diese - um sie vom Selbst, dem Subjekt, zu unterscheiden - ‘Objekte’ genannt. Auf sie sind wir auf Leben und Tod angewiesen; diese ersten Objekt-Beziehungen prägen entscheidend unser weiteres Leben - unser Ich und unser Selbst.

 

In einem komplizierten Vorgang müssen die Objekte und die Beziehung, die Haltung, die sie zu uns haben, verinnerlicht werden. Es werden innere Abbilder der Objekte, sogenannte ‘Objektrepräsentanzen’ geschaffen. Das Kind schafft sich eine innere, den Moment überdauernde Vorstellung von seiner Mutter, um danach sein Verhalten, Denken und Fühlen auszurichten. Und da ist es von unauslöschlicher Bedeutung, ob wir gute oder böse, akzeptierende oder vernichtende, verlassende oder konstante Abbilder unserer Beziehungspersonen verinnerlichen. Denn diese ersten äußeren und dann inneren Erfahrungen und Bilder prägen ja nicht ‘nur’ unser Verhalten, Denken und Fühlen, sondern nicht mehr und nicht weniger als das Bild, das wir von uns selbst haben - wir nehmen uns selbst so wahr, wir erleben uns selbst so, wie wir uns von unseren Eltern gespiegelt erfahren. Ob wir eine Mutter erleben, die uns so akzeptiert, wie wir sind oder eine, die uns lieber ganz anders hätte, hat entscheidenden Einfluß auf unser Bild von uns selbst.

Wenn wir von unseren Beziehungspersonen nicht so akzeptiert werden, wie wir sind, dann ist das schmerzlich, oft mehr als schmerzlich. Wenn uns dann niemand dabei hilft, diese verletzenden Erfahrungen zu bewältigen, dann müssen wir sie unter Zuhilfenahme der Abwehrmechanismen ins Unbewußte abdrängen. Weniger und weniger haben wir in so einem Fall die Chance, konstruktive Objektbilder zu verinnerlichen und dabei unser Bewußtsein nutzen zu können. Mehr und mehr muß das Unbewußte bei diesem Verinnerlichungsprozeß zum Tragen kommen - weil unser Ich nicht stark genug ist, sich bewußt der verletzenden, unaushaltbar verletzenden Realität zu stellen. Wenn wir aber dadurch destruktive, verzerrte, verformte, gespaltene Objektbilder verinnerlichen, werden wir dementsprechend mehr und mehr destruktive, verzerrte, verformte, gespaltene, vom Unbewußten geprägte Selbstbilder bilden.

Die Selbstbilder, genannt ‘Selbstrepräsentanzen’, die wir in uns bilden, wiederum sind maßgeblich für das Selbst, das wir entwickeln: für die Summe dessen, wie wir trachten, diesen Bildern zu entsprechen. Wenn die Entwicklung also so verläuft, wie eben im Zeitraffer beschrieben, werden wir wenig Chance haben, unser ‘wahres Selbst’ zu entwickeln, sondern mehr und mehr ein ‘falsches’. Weniger und weniger ist das Selbst der Realität entsprechend, sondern Produkt einer verzerrenden Phantasie, die auf unbewußt gespeicherten Selbstbildern basiert.

 

Lassen Sie mich diesen Unterschied zwischen wahrem und falschem Selbst mit den Zitaten von zwei Autoren verdeutlichen, die sich mit der Entwicklung narzißtischer Verformungen unter diesem Aspekt beschäftigt haben - James Masterson und Stephen Johnson.

„Vom wahren Selbst läßt sich sagen, daß es zumeist bewußt ist, daß es Bilder und Repräsentanzen des Individuums und der Welt erschafft, unsere je einmaligen Wünsche identifiziert und in der Realität zum Ausdruck bringt (...). Das wahre Selbst besteht aus allen unseren Selbstbildern und  der Fähigkeit, sie in einen Bezug zueinander zu setzen und sie als etwas zu erkennen, das ein bestimmtes und einmaliges Individuum ergibt.“ (Masterson 1993, S. 41)

„(...) wenn das, was ich bin, zuviel oder zuwenig ist, wenn ich zuviel oder zuwenig Energie habe oder zu sexuell oder nicht sexuell genug bin, zu stimulierend oder nicht stimulierend, zu frühreif oder zu langsam, zu unabhängig oder nicht unabhängig genug... dann kann ich mich nicht frei selbst verwirklichen. Das ist die narzißtische Kränkung.

Der Versuch des Kindes, so zu sein, wie die Umwelt es haben möchte, ist das falsche Selbst. Und die als ‘narzißtisch’ bezeichneten Pathologien sind einfach die Folge davon, (1) daß es so wurde, wie man es haben wollte, statt so, wie es seinen Anlagen entsprach, und (2) die Folge seiner Entwicklungshemmung an dem Punkt, an dem es eine unterstützende Spiegelung brauchte, um wirklich es selbst zu werden.“ (Johnson 1988, S.56)

Hier können wir den Bogen schließen: hier kommen wir wieder mit der ‘Theorienlandkarte der Transaktionsanalyse’ (Rath 1992) zurecht. Diese von Johnson beschriebenen Versuche, dem zu entsprechen, was von uns verlangt wird, das Ausleben der Folgen dieser Entwicklungshemmung - das ist das Skript, die destruktive Lebenskonzeption. Wir haben mit Hilfe tiefenpsychologischer Ich- und Selbstpsychologie eine Lücke geschlossen: die Lücke zwischen dem, was mit dem kleinen Kind passiert, und dem, was die lebenslangen skriptbedingten sichtbaren Folgen davon sind. Wir haben beschrieben, wie unbewußte Prozesse maßgeblich daran beteiligt sind, ein schwaches Ich und in der Folge ein falsches Selbst zu entwickeln, das sich in einem entwicklungshemmenden Skript manifestiert.

Aber noch fehlt uns ein entscheidender Punkt: wie arbeitet das Unbewußte - wie fördert es Material zutage, das für den psychotherapeutischen Prozeß nutzbar sein könnte? Und - noch eine bedeutungsvollere Frage -  kann das Unbewußte nutzbar gemacht werden für diesen Prozeß, und wenn ja, wie?

Erinnern wir uns an das Zitat aus de Chevis Hills Roman vom Anfang: „Es gab Träume, dachte er, und es gab Erinnerungen. Manchmal gab es Träume, wie um keine Erinnerungen zu haben oder um sich an die Erinnerung wiedererinnern zu können.“

Zugang zu unbewußten Prozessen bieten uns natürlich Skript- oder Übertragungsprozesse, die darauf hindeuten, was da verdrängt und gespeichert wurde, und als Hilfsmittel dabei die Analyse der gedeckten Transaktionen und der Spiele.

Einen noch unmittelbareren Zugang aber geben uns Träume - durch Tagesreste stimulierte innere Prozesse in einer Situation, in der durch den Schlaf die Schwelle des Bewußtseins gegenüber dem Abgewehrten gewissermaßen durchlässiger ist (Freud 1901).

Was dann ans Licht des Tages, oder besser der Nacht, kommt, ist - in verschlüsselter Form, um das Erinnern nicht zu schonungslos zu gestalten - nichts anderes als ein Abbild eines Versuches des Kindes, das der Träumer oder die Träumerin einmal war - ein Abbild des verzweifelten Versuchs, einen unlösbaren Konflikt doch zu lösen (Mertens 1991). Auf dem Hintergrund der Ich- und Selbst-Psychologie können wir sagen: ein Abbild des Konflikts, den das Kind zu lösen versuchte, indem es ein falsches Selbst entwickelte.

 

Lassen Sie mich das an einem Beispiel erläutern:

Frau S., deren Mutter an Krebs gestorben ist, als sie ein Kind war, träumt: Ihre Mutter muß sterben, und sie bringt sie ins Krankenhaus. Frau S. geht weg von dort und mit ihrer Freundin in ein Fitneßcenter, wo sie aber nicht wirklich hinkommt. Sie kann dort nicht wirklich etwas für ihre Fitneß tun, aber der Wunsch ist deutlich zu spüren. Die ganze Zeit über hat sie ein schlechtes Gewissen, weil sie ihre Mutter besuchen müßte.

Wie kann dieser Traum gedeutet werden? Frau S. war ein Mädchen von etwa zwölf, als ihre Mutter erkrankte, also in einem Alter, wo ihre Entwicklung zur erwachsenen Frau gerade begann - wo sie also naturgemäß ein ungeheures Bedürfnis nach Lebendigkeit entwickelte. Das bezeichnet der Traumwunsch nach ‘Fitneß’. Gleichzeitig aber stürzte sie die leidende, sterbende Mutter in einen schweren Konflikt: die Mutter signalisierte ihr deutlich, daß sie die Lebendigkeit der Tochter nicht ertragen könne und daß sie erwarte, daß das Mädchen sich mehr um sie kümmern solle. Daraus entwickelte Frau S. damals die Idee, eigentlich schuld am Sterben der Mutter zu sein. Dieser Konflikt spiegelt sich im Traum wieder: sie will weg von der Mutter, will sozusagen ‘fit’ für das Leben werden - und fühlt sich schuldig dafür. Aus diesem - ihr bis zum Traum nicht bewußten - schlechten Gewissen heraus entwickelte Frau S. eine ganz spezifische Lebensweise: sie tat zwar mehr oder weniger alles, was man in einem normalen Leben so tut, wurde erwachsen, hatte Beziehungen zu Männern, gebar ein Kind - aber gleichzeitig hatte sie immer das Gefühl, das alles ‘nicht richtig’ zu tun, ‘nicht wirklich’ zu leben. Das war ihr Versuch, den eigentlich unlösbaren Konflikt mit der ihr als Teenager zugänglichen Logik zu lösen. So konnte sie die Verlassenheitsängste abwehren, mußte aber gleichzeitig nicht vollständig auf das Leben verzichten.

Das findet sich im Traum wieder: sie geht zwar ins Fitneßcenter, kommt aber ‘nicht richtig’ dort hin, und das schlechte Gewissen bleibt.

Die Logik dieser ungesunden Konfliktlösung entspricht der Logik zum Zeitpunkt der Skriptbildung (Sejkora 1993 b, 1993c): den neopsychischen Fähigkeiten des Kindes zum Zeitpunkt der Entwicklungshemmung, also im Fall von Frau S. mit etwa 12 Jahren. Aufgrund der ihm zugänglichen altersgemäßen Fähigkeiten versucht das Kind, einen Konflikt zu lösen, vor allem: allein zu lösen, der ihm mehrere Schuhnummern zu groß ist. Diese - kreative und für den Moment sinnvolle - Lösung wird als archäopsychische Fixierung, als Kind-Ich-Zustand im Unbewußten begraben.

Die Aufgabe des Unbewußten bei der Bildung des Ich und des Selbst haben wir hinlänglich beschrieben. Wenn dieser Aufgabe aber so nachgekommen werden muß, daß ein falsches Selbst entwickelt wird, bleibt der mächtige innere Wunsch, das Problem endlich doch zu lösen, aus der Welt zu schaffen -um Platz zu machen für die Entstehung des wirklichen Selbst.

Durch die Fixierung, durch die Abwehr, bleibt dieser Versuch aber stecken: er kommt in seiner Umsetzung nicht über die neopsychischen Fähigkeiten des Kindes hinaus und wird daher bei jeder sich bietenden Gelegenheit wiederholt: der ‘Wiederholungszwang’, das Skript etabliert sich.

Diesen Wiederholungscharakter führen uns eindrücklich die Träume vor, und der Weg, sie zu verstehen, sie zu entschlüsseln, ist der, sich auf die neopsychische Logik des Kindes im entsprechenden Alter zu begeben. Dann passen die verschobenen Einzelteile zusammen, dann werden aus Träumen, die das Erinnern verhindern oder bremsen sollen, solche, die dabei helfen, sich zu erinnern.

 

Hier ein weiteres Beispiel zum Verstehen der kindlich-neopsychischen Logik:

Frau A. ist auf einem riesigen Schiff, das die Grachten von Amsterdam befährt. Das Schiff ist viel größer, als die Schiffe, die in Amsterdam wirklich fahren können. Es sind Tausende Leute da, auch ihre Familie. Überall auf diesem Schiff sind große und kleine Wohnungen, die numeriert sind, aber es ist ihr unmöglich, sich zu orientieren. Schließlich gelingt es ihr unter vielen Mühen doch, sich eine Wohnung einzurichten, aber sie ist sich überhaupt nicht sicher, ob ihr die überhaupt zusteht. Es bleibt weiterhin ein einziges Herumirren, und verwirrt wacht sie auf.

Frau A. war ihre ganze Kindheit hindurch mit der Anforderung konfrontiert, viel erwachsener, größer zu sein, als sie wirklich war. Dieses Bild taucht in dem ‘viel zu großen Schiff’, in dem sie sich nicht zurechtfindet, auf. Wir sehen deutlich ein kleines Kind, das in einer verwirrenden Fülle von Menschen herumirrt, daß sich nicht orientieren kann. Wie klein dieses Kind sein muß, sieht man darin, daß es sich mit den Nummern nicht zurechtfindet, also noch keine Zahlen lesen kann, und daß es kann noch nicht viele verschiedene Menschen, nur die vertrautesten, unterscheiden kann. Unter vielen Mühen findet sie sich doch einen Platz - ‘richtet sich eine Wohnung ein’, wie der Traum sagt. Was aber bleibt, ist die Unsicherheit, ob ihr das überhaupt zusteht, und sie ist zu weiterem Herumirren verurteilt. Frau A.’s Aussage in einer der ersten Therapiestunden war dementsprechend: „Ich möchte meinen Platz im Leben finden.“

 

Dieser Aspekt des Unbewußten, den ich eben beschrieben habe, ist an sich nicht neu - der Wiederholungsaspekt, die Absicht, es immer und immer wieder von neuem zu beginnen, damit es endlich gut wird. Neu daran ist mein Vorschlag, die Traumlogik analog der gegebenen neopsychische Logik des Kindes zum Zeitpunkt der Traumatisierung, der Skriptbildung, zu begreifen und sie so zu entschlüsseln.

Diese Wiederholungen der ursprünglichen Geschichte bieten aber nicht nur die Chance, zu erkennen und zu deuten, was damals schief gelaufen ist. Dieser Vorgang ist ja kein anderer, als er bei der Übertragung im Wachzustand im Rahmen der psychotherapeutischen Behandlung passiert. Auch da bieten sich dem Psychotherapeuten/ der Psychotherapeutin zwei Möglichkeiten: einerseits dieses Abbild der alten Verletzungen aufzudecken und zu bearbeiten - und andererseits eine Form von Reparation der seinerzeitigen Defizite anzubieten, indem dem Klienten/ der Klientin korrigierende Erfahrungen angeboten werden (Christoph-Lemke/Rath/Springer 1995). In der therapeutischen Beziehung kann ich also so intervenieren, daß ich nicht nur darauf hinweise und herausarbeite, wie der Klient/ die Klientin unter seinem/ ihrem strengen, verweigernden Vater gelitten hat, sondern selbst in der Übertragung ein konstruktiver, gewährender und konstanter Vater sein kann.

Korrespondierend damit arbeitet auch das Unbewußte auf zweierlei Art und Weise: es hält den Wiederholungszwang in Gang - und es gibt der Hoffnung auf Heilung Ausdruck. Auf diesen reparativen Aspekt, diesen Versuch, Heilung zu erreichen und wie er sich im Traum ausdrückt, möchte ich Ihre Aufmerksamkeit besonders richten. Das, was Träume an Übertragungselementen und an Skriptwiederholung beinhalten, ist in der psychoanalytischen Literatur bereits ausführlich behandelt worden (vgl. u.a. Mertens 1991, Greenson 1992).

 

Sehen wir uns die beiden Träume von vorhin unter diesem Gesichtspunkt an: dann können wir erkennen, daß Frau S. nicht nur ihr lebensgeschichtliches Drama, für die Mutter zu sorgen und nicht von ihr loszukommen, wiederholt, sondern daß sie auch versucht, ihr Problem zu lösen - sie will ins Fitneßcenter gehen und sich von der sterbenden Mutter trennen. Allerdings kann sie es allein nicht schaffen - aber in ihrem Heilungsversuch richtet sie einen Übertragungsappell an den Therapeuten, die Rolle einer Mutter  zu übernehmen, die ihr Erlaubnis gibt, ins Leben zu gehen und ‘fit’ zu werden.

Auch Frau A. wiederholt nicht nur ihr Muster, alleine zurechtkommen zu müssen; was sie tut, ist ja auch in hohem Maß konstruktiv: sie richtet sich eine ‘Wohnung’, einen Platz im Leben, ein. Was bleibt, ist die Unsicherheit, ob sie das überhaupt darf. Sie braucht also in der Übertragung eine Elternfigur, die ihr im Leben zurechthilft, es ihr erklärt, ihr sozusagen die ‘Wohnung’ ‘zuweist’.

Ich nenne diese Zweigesichtigkeit des Unbewußten und der Träume ihre Dualität - bestehend, wie erwähnt, aus dem Wiederholungs- und dem Heilungsaspekt. Ich möchte Ihnen das an zwei weiteren Beispielen deutlich machen. Der erste Traum stammt von dem Klienten, an dessen Geschichte ich meine Arbeitsweise mit Träumen im an diesen Vortrag anschließenden Workshop demonstrieren werde.

 

Herr J., der in einer Atmosphäre sehr starrer und lebensfeindlicher Regeln und der Beziehungslosigkeit aufgewachsen ist, träumt: er fährt mit einem Bus zur Arbeit, kommt aber nicht hin, sondern zur Endstation an einem Berg, muß zu Fuß weitergehen und kommt zu einer Baustelle, aus der er nicht mehr herausfindet, weil der Ausgang verstellt ist. Ein Arbeiter hilft ihm heraus und will dafür Geld. J. sagt, er sei nicht bereit, über 2000,- Schilling zu zahlen und gibt ihm schließlich gar nichts.

Dieser Traum hat mir ein Schmunzeln entlockt - denn über 2000,- Schilling ist in etwa das Monatshonorar, das Herr J. mir damals bezahlt hat. Wieder finden wir hier deutlich die Dualität: den Wiederholungsaspekt - er kommt nicht an sein Lebensziel, sondern es ist ‘Endstation’, er findet nicht mehr heraus, weil der Ausgang verstellt ist, und jemand, der dort professionell damit zu tun hat, muß ihm helfen. Der Heilungsaspekt liegt in der Empörung, in dem aggressiven Protest dagegen, Hilfe zu brauchen und dafür auch noch zahlen zu müssen. Aggression ist der Gefühlsbereich, der für Herrn J. am meisten verboten ist; und wie ein Kind in der Phase der Wiederannähherung (Mahler/Pine/Bergman 1984) mit etwa eineinhalb, zwei Jahren braucht er jemanden, der erkennen und akzeptieren kann, wie kränkend es ist, nicht auf eigenen Füßen stehen zu können und bedürftig zu sein.

Herr N., der unter großen Versagensängsten leidet und eine ihn schwer überfordernde Mutter hatte, erzählt zwei Träume aus derselben Nacht::

Im ersten beschäftigt er sich mit Figuren aus Sand, die zwar klein, aber bedrohlich und ‘nicht richtig menschlich’ sind. Er versucht, sie zu zerschlagen, sie stehen aber sofort wieder auf und kommen auf ihn zu. Sein Cousin, einige Jahre älter als er, taucht auf und versucht Herrn N. zu überzeugen, mit ihm im Zug wegzufahren. Dieser Cousin erklärt dann N.’s Mutter das Problem mit den Sandfiguren.

Im zweiten Traum hat N. das Gefühl, total zu versagen. Er ist in einer Art Hörsaal, wo jeder einen Vortrag und mit EDV gefertigte Zeichnungen dazu präsentieren muß. Er hat einen phantastischen Einfall dazu, den er kurz mit einer Formel skizziert, denkt aber dazu: „Ich präsentiere es sicher nicht, das ist nichts Besonderes.“ Mittlerweile halten andere ihre Vorträge, er wird sehr nervös, hat Angstzustände und verläßt den Hörsaal, kurz bevor er an der Reihe ist. Als er aufgerufen wird, geht er wieder hinein und trifft einen ehemaligen Arbeitskollegen, einige Jahre älter als er, der versucht, ihn zu ermutigen.

Ich will nicht mehr ausführlich auf den anschaulich dargestellten Konflikt und den Wiederholungsaspekt eingehen; die Details der Träume sind deutlich genug: die unmenschliche Bedrohung, die Sisyphusarbeit, die er leisten muß, um die Bedrohung zu meistern, das Abwerten seiner Leistungsfähigkeit, die Versagensangst.

Besonders klar sehen wir aber hier den Heilungsaspekt, den Herr N. selbst in der Schilderung der Träume - unbewußt - so erfaßte:

Im ersten Traum, als er auf den Cousin zu sprechen kam, sagte er: „Der ist vielleicht fünf Jahre älter als ich, so wie Sie ungefähr.“

Und im zweiten Traum erläuterte er die Figur des Arbeitskollegen wie folgt: „Der war mir in der Arbeit damals eine große Unterstützung, der ist etwas älter als ich, auch so wie Sie vielleicht.“

 

Damit war deutlich, welches Defizit repariert werden sollte: N. (vor allem der kleine N.) wünscht sich eine Figur in der Rolle eines großen Bruders, der ihn vor den unbewältigbaren Anforderungen, vor der überwältigenden Mutter, schützen soll. In dem er in seiner Traumerzählung die beiden Traumgestalten mit mir vergleicht, wird sein Wunsch deutlich, daß ich (in der Übertragung) diese Rolle übernehmen soll.

Natürlich bewirkt das Aufgreifen dieses Versuches der Heilung von Defiziten, die im Lauf der Skriptbildung entstanden sind, Bewußtheit über das Skript und über das, was so schmerzlich gefehlt hat. Bei der Arbeit mit Träumen unter diesem Aspekt habe ich aber noch ein ganz anderes, höchst faszinierendes Phänomen festgestellt: wenn ich den Heilungsaspekt aufgreife und in der Übertragung dem Klienten/ der Klientin das Fehlende ein Stück weit ersetze, beeinflußt das direkt und unmittelbar nicht nur das Bewußtsein, sondern auch das Unbewußte. Das läßt sich daran erkennen, daß dadurch oft Folgeträume stimuliert werden, die eine seelische Weiterentwicklung und Reifung bedeuten.

Herr J. - der von der Baustelle und dem Arbeiter geträumt hatte - träumt nach der Stunde der Traumanalyse folgendes:

Er ist in Wien in einer Disco, will beim Hinausgehen zahlen, dabei stellt sich heraus, daß zwar sein Getränk schon gezahlt sei, nicht aber der Eintritt, der übermäßig hoch ist. Er beschließt daher, noch zu bleiben, wenn er schon gezahlt hat.

Wieder erkennen wir daß Herr J. für eine Selbstverständlichkeit zu viel ‘bezahlen’ muß. Zugleich aber beginnt er, diese Kränkung zumindest teilweise zu akzeptieren - er beschließt, zu bleiben. Ich vermute, daß das eine direkte Folge meiner Intervention aus der vorherigen Stunde ist, in der ich ebendiese Kränkung wahrgenommen, benannt und verstanden hatte.

Ich- und Selbstpsychologisch können wir sagen, daß ein Stück Entwicklung möglich geworden ist, indem ich mich als konstruktives Objekt für die Verinnerlichung angeboten habe. Dadurch wird destruktive Energie aus dem Unbewußten gelöst, die damit gebunden ist, sich mit den Selbstbildern an verzerrte und überfordernde verinnerlichte Objektbilder anzupassen. Damit wiederum wird kreatives gestaltendes Potential im Unbewußten frei, das so helfen kann, das wahre Selbst aus dem falschen herauszuschälen.

Man kann es auch so formulieren: auf das Unbewußte und seine Heilungswünsche wird eingegangen und es wird ihnen zumindest Respekt, wenn nicht ein Stück Erfüllung  entgegengebracht. Dadurch können sich die inneren Objektbilder und damit auch die entsprechenden Selbstbilder verändern. In dem Maß, wie das Unbewußte mehr und mehr konstruktiv Anteil an der Gestaltung des Selbst nehmen kann, wird auch das Bewußte freier und energetisch wirksamer. Und so wird wiederum das Unbewußte zu neuen Heilungs- und Bewältigungsversuchen angespornt.

Träume stellen nicht nur ein Abbild eines frühen Konflikts dar, sondern auch einen Versuch, ebendiesen Konflikt zu bewältigen. Worum es mir geht, ist, diese Dynamik nicht nur zu beschreiben, sondern ein Instrumentarium zu entwickeln, mit dem  wir sie auch aktiv interventionstechnisch beeinflussen können. Damit wird nicht nur Bewußtes an die Stelle des ehemals Unbewußten gesetzt, sondern das Unbewußte wird eine heilsame konstruktive Kraft, auf die wir im therapeutischen Vorgang setzen können. Wir können damit nicht nur erfassen, wie das Unbewußte seine Rolle in der Ich- und Selbstbildung spielt, sondern können psychotherapeutisch mit dem Unbewußten arbeiten und ihm eine tragende Rolle in dem Prozeß geben, mit dem wir befaßt sind: die Entwicklung des wahren Selbst.

 

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