Positive Führung - Leseprobe

2.2.  Erster Schritt: Autonomie - bin ich der Mensch, der ich sein kann?

Ein zentraler Wert im Menschenbild der Transaktionsanalyse ist der Begriff der Autonomie. Damit ist gemeint: ich kann voll und ganz der Mensch sein, der ich bin und der ich sein kann.
Autonomie setzt sich aus drei Aspekten zusammen:
o Bewusstheit: ich bin mir meines Denkens, Fühlens und Handelns bewusst und kann andere Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit und ihrer Ähnlich-keit zu mir wahrnehmen
o Spontaneität: ich kann wählen, wie ich meine Gefühle ausdrücke und zeige und wie ich handle
o Intimität: ich kann echte Nähe zu anderen Menschen herstellen, indem ich mich verstehend in sie hinein versetze und meine Gefühle und Wünsche offen mitteilen kann
Wir werden nicht autonom geboren, im Gegenteil. Zu Beginn unseres Lebens sind wir vollständig abhängig: wir brauchen andere Menschen zum Überleben. In der gesunden Entwicklung durchlaufen wir dann die Stadien wechselseitiger Ab-hängigkeit und (scheinbarer) Unabhängigkeit, um dann Autonomie als höchste Form der Persönlichkeitsentwicklung zu erreichen: die Freiheit zu verschiedenen Beziehungsarten, je nach Situation und Bedürfnissen (Lenhardt 1991).

Landkarte 1: Autonomie

In diesen kurzen definitorischen Bemerkungen steckt bereits die erste transakti-onsanalytische Landkarte, die wir Ihnen anbieten wollen. Jedes menschliche und zwischenmenschliche Problem und die Art und Weise, wie wir es mehr oder we-niger erfolgreich lösen, hat mit Autonomie oder einem Mangel daran zu tun. Um-gekehrt: wenn wir in Schwierigkeiten stecken, fällt es uns schwer, sie zu bewälti-gen, weil wir in Abhängigkeit, wechselseitiger Abhängigkeit oder scheinbarer Un-abhängigkeit verharren. Ohne ein entsprechendes Maß an Autonomie kommen wir nicht konstruktiv aus der Situation heraus.

Sehen wir uns das näher an unserem Fallbeispiel an.

Manfred, 46, ist  Abteilungsleiter in einer mittelgroßen Bank. Er ist ehrgei-zig, der Erfolg seiner Abteilung wird im ganzen Haus gelobt. Trotzdem ist er mit seiner Führungstätigkeit nicht zufrieden. Auf Empfehlung seines Vorgesetzen sucht er Hilfe im Coaching.  Zu Beginn der ersten Sitzung er-zählt er, wie er seine Situation erlebt:

Manfred: Da könnte noch mehr drin sein an Leistung. Wir sind noch nicht am Limit. Meine Leute sind nicht wirklich gut motiviert, ich versuche, sie mitzureißen, aber das klappt nicht so recht.
Coach: Woran liegt das Ihrer Ansicht nach?
Manfred: Am mangelnden Leistungswillen. Die sind zufrieden, wenn sie Er-gebnisse erzielen, die ganz gut sind. Ich will aber sehr gute Ergebnisse! Da muss man halt mehr raus zu den Kunden, das Geschäft kommt nicht zu uns in die Bank reinspaziert. Wenn ich denen zuhöre, wie sie telefonieren, da möchte ich ihnen am liebsten das Handy wegnehmen und das Gespräch selbst zu Ende führen.
Coach: Das klingt, als ob Sie ziemlich unter Druck wären.
Manfred: Na ja, das ist halt das Business. Alles wird immer schneller, der Markt wird enger. Wissen Sie, da sind einige altgediente Semester bei mir in der Abteilung, die zehren immer noch vom Erfolg von früher und wollen nicht einsehen, dass die Zeiten sich geändert haben. Die sagen den Jünge-ren immer, keinen Stress, das läuft schon alles. Keinen Stress! Wenn ich das nur höre! Und wer frägt mich nach meinem Stress?
Coach: Dann frage ich Sie doch einmal nach ihrem Stress.
Manfred: Sag’ ich doch! Ich habe das Gefühl, ich stehe mit dem Rücken zur Wand. Ich will mehr als 100 Prozent, das ist mir einfach zu wenig! Ich will es noch weiter bringen in der Bank, da muss ich mich profilieren. Mir sitzt auch der Vorstand im Nacken. Ich soll die Leute mehr loben, das mo-tiviert sie angeblich. Wer lobt denn mich? Jetzt wollen sie mich auf ein Führungskräftetraining schicken. Wenn ich das schon höre! Als ob ich da die Zeit dafür hätte! 120 Mails in meiner Inbox, wenn ich um 7 im Büro bin, können Sie sich das vorstellen? Dabei sitze ich abends oft bis 11 und länger daheim am Laptop! Aber das muss halt so sein.
Coach: Was ist denn Ihr Ziel für unser gemeinsames Coaching?
Manfred: Ich möchte besser mit all dem zurechtkommen.
Coach: Mit all dem?
Manfred: Mit meinem Zeitmanagement, mit meinen Arbeitsaufgaben, mit meinen Mitarbeitern.
Coach: Wie genau würde denn ‚besser zurechtkommen’ aussehen?
Manfred: Also wissen Sie, wenn ich das wüsste, würde ich ja nicht hier sit-zen! Ich habe Ihnen erzählt, womit ich nicht so gut zurechtkomme, jetzt sagen Sie mir, was ich tun soll!

Wir haben Autonomie als die Fähigkeit zu Bewusstheit, Spontaneität und Intimi-tät definiert, als Fähigkeit, Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit wahrzunehmen, sich in sie hineinzuversetzen, sich in seinen Wahlmöglichkeiten im Denken und Handeln zu begreifen. In diesem Sinne finden wir bei Manfreds Aussagen viele Hinweise darauf, dass er sich wenig autonom fühlt: er scheint nicht zu verstehen, warum seine Mitarbeiter so sind, wie sie sind (oder genauer: wie er sie erlebt). Er kann nicht begreifen, was in ihnen vorgeht und warum sie nicht so denken und fühlen wie er. Manfred wirkt getrieben („das muss halt so sein“) und fühlt sich abhängig – von seinen Mitarbeitern, vom Vorstand, auch vom Coach („sagen Sie mir, was ich tun soll!“). Er scheint nicht weit weg von der Vorstellung von der ‚eierlegenden Wollmilchsau’ zu sein, die wir im ersten Kapitel beschrieben haben: er glaubt, tun zu müssen, was er tut (eigentlich sollte es noch viel mehr sein), keine Wahl zu haben und dabei in hohem Maße von außen abhängig zu sein. Sei-ne scheinbar einzige Wahlmöglichkeit, die einzige Chance auf ein bisschen Steue-rung von seiner Seite her, ist der Wunsch, „besser mit all dem zurechtzukom-men“. Er scheint festzustecken wie in einem Tunnel und sieht keinen Weg, da herauszukommen.

Diese Metapher für die Situation des Autonomiemangels stammt von Eric Berne. Den aus Abhängigkeit resultierende Wunsch, nur besser damit klarzukommen, beschreibt er anschaulich so: „Wie lebt man komfortabler, während man sich an den beiden Seitenwänden eines Tunnels festklammert?" (Berne 1973, S. 397). Autonomie zu erlangen ist das wichtigste Ziel jeder transaktionsanalytischen Ar-beit. Ohne sie ist erfolgreiches Leben, in unserem Fall erfolgreiches berufliches Arbeiten und erfolgreiches Führen nicht denkbar. In Bernes Metapher heißt das: wie kommt ein Mensch aus dem Tunnel heraus in die Freiheit?

In diese Richtung zielen auch die im Gespräch folgenden Fragen und Aussagen des Coachs.

Coach: Ich kann Ihren Wunsch gut nachvollziehen, Herr M. Nur – Leute, die Ihnen sagen, was Sie tun sollen, gibt es in Ihrem Leben schon genug.
Manfred: Da haben Sie weiß Gott recht!
Coach: Und in diese lange Reihe soll ich mich auch noch einfügen? Damit der Druck, unter dem Sie offensichtlich stehen, noch größer wird?
Manfred: Da ist was dran. Würde wahrscheinlich nicht funktionieren. Da-rum will ich ja auf kein Führungskräftetraining – nur damit mir so ein Guru dann sagt, was ich alles falsch mache!
Coach: Mein Vorschlag ist, mit Ihnen gemeinsam Wege zu finden, was Sie verändern können und wollen, um erfolgreich zu führen. Da brauche ich Sie und Ihre Zusammenarbeit, denn ich bin ja nur der Experte für Füh-rungskräftecoaching. Der Experte für Ihre Führungssituation und über-haupt Ihr Leben sind Sie.
Manfred: Stimmt. Sollte ich zumindest sein.
Coach: Dann könnte es darum gehen, Ihre Expertise für sich, Ihr Führen, Ihr Leben zu entdecken und zu erhöhen.
Manfred: Das hört sich gut an.

Gleich zu Beginn des Coachings hat Manfred – nachdem er erklärt hat, warum und von wem er sich abhängig fühlt – seinen Wunsch deutlich gemacht, eine neue Abhängigkeit herzustellen: die vom Coach. Er wollte gewissermaßen eine von ihm als nachteilig erlebte Abhängigkeit in eine für ihn vorteilhafte umkehren. Doch Abhängigkeit bleibt Abhängigkeit; selbst wenn der Coach sehr hilfreiche Vorschläge machen würde und selbst wenn Manfred sie alle positiv umsetzen könnte, wäre es doch keine autonome Position von seiner Seite. Er wäre in sei-nem Führen nur begrenzt hilfreich, weil er nicht authentisch (wirklich er selbst) wäre. Kein noch so guter Ratschlag kann alle denkbaren und undenkbaren Mög-lichkeiten und Parameter erfassen.

Manfred bewegt sich in seinen Antworten auf den Coach ein Stück weg von der Abhängigkeit. Allerdings ist er – natürlich – noch nicht bei Autonomie angelangt, sondern er legt einen Zwischenschritt ein: von der Abhängigkeit zur Unabhängig-keit (die allerdings in der verflochtenen Arbeitswelt eines Unternehmens nur eine scheinbare sein kann). Sinngemäß sagt er: wer bin ich denn, mir alles sagen zu lassen? Ich brauche nichts und niemanden! Aber damit bewegt er sich weg aus der Position eines Opfers, das ausweglos in einer fremdverursachten Situation gefangen ist und beginnt, Selbstverantwortung zu übernehmen. Für den ersten Schritt in einem Coaching ist das ein beachtlicher Fortschritt.

Wie könnte eine autonome Position zu den Themen aussehen, die Manfred in den ersten fünf Minuten präsentiert?

o Leistung der Abteilung: ich habe ein klares Bild davon, was für ein Ziel ich mit meiner Abteilung erreichen will, um meinen Beitrag zum Unterneh-menserfolg zu erzielen und um mich erfolgreich zu fühlen.
o Führungsrolle: Ich weiß, was mein Beitrag zum Erreichen dieses Ziels ist und was für Führungsleistungen mit welchen Führungsinstrumenten (z.B. Delegieren, Mitarbeitergespräch, Lob, Kritik, Feedback...) zu ihrem Errei-chen nötig sind.
o Mitarbeiter: Ich kenne meine Mitarbeiter und verschaffe mir laufend ein Bild über ihre Stärken, Schwächen, Potenziale und ihre Eigenmotivation. Ich habe Ideen dazu, was jeder einzelne von ihnen von mir zu seiner Ent-wicklung brauchen könnte.
o Erfolg der Abteilung: Ich weiß, durch welche Leistungen am Kunden (ex-terne wie interne) die Ziele meiner Abteilung erreicht werden können und welche ‚Hebel’ und ‚Stellschrauben’ ich bewegen muss, wenn der Erfolg erhöht werden soll.
o Unternehmen/Unternehmensleitung: Ich kann die Ziele und Werte des Un-ternehmens teilen und mittragen. Ich vertrete gegenüber dem Vorstand meine eigene Position und die meiner Abteilung in Abstimmung mit der Rolle der Abteilung im Gesamtunternehmen.
o Ich selbst: Ich kenne meine physischen und psychischen Grenzen und Möglichkeiten und gehe damit konstruktiv um. Ich organisiere die Balance zwischen Arbeit und Freizeit und strukturiere meine Arbeitszeit den Erfor-dernissen und meinen Zielen entsprechend. Ich kenne meine sozialen und kommunikativen Potenziale und setze sie erfolgreich ein.

Klingt das für Sie schwierig und komplex? Im folgenden finden Sie – wie am En-de jedes Abschnittes zur Transaktionsanalyse – einige Übungen, die Ihnen helfen sollen, die Landkarten auf Ihrem Weg für Sie einzusetzen.

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