13. TRANSAKTIONSANALYSE IN SUPERVISION UND COACHING : EIN DREIDIMENSIONALES MODELL: Prozess, Beziehung und Entwicklung.

Vortrag auf dem 19. Kongreß der
Deutschen Gesellschaft für Transaktionsanalyse
Berlin, Mai 1999

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Stellen Sie sich bitte folgende Situation vor: Sie sind  Supervisor, und eine Supervisandin kommt mit folgendem Problem zu Ihnen:

Die Supervisandin – W. – ist Psychotherapeutin in Ausbildung. Sie ist schon seit längerer Zeit bei Ihnen in Supervision. Sie arbeiten gerne mit ihr, weil sie rasch lernt und verarbeitet und in ihrer Ausbildung gute Fortschritte macht. Seit einiger Zeit haben Sie begonnen, Ihr Klienten/ Klientinnen zur Psychotherapie zuzuweisen.

W. erzählt:  das Problem, mit dem sie heute zu Ihnen kommt, drückt sie schon länger, aber bis jetzt hat sie sich noch nicht getraut, es anzusprechen. Sie steckt mit einem Klienten fest. Ihr Wunsch ist es, Lösungsoptionen für diese festgefahrene Situation zu finden. Sie jedenfalls sei mit ihrem Latein am Ende.

Sie arbeitet seit etwa zehn Sitzungen therapeutisch mit einem Mann ägyptischer Herkunft, etwa 45 Jahre alt, der auf Drängen seiner – deutschen – Frau zu ihr gekommen sei. Die Frau sei nicht bereit, seine Lieblosigkeit, insbesondere seine sexuelle Rücksichtslosigkeit, länger zu ertragen, ebensowenig wie seine häufigen Außenbeziehungen.

W. war spontan bereit, mit dem Mann zu arbeiten, weil ihr das Problem und die Ehezerrüttung tatsächlich gravierend erschienen seien. Der Mann – den sie als intelligent und liebenswürdig beschreibt – ist zwar durchaus problemeinsichtig, gleichzeitig sagt er aber: ‚Wissen Sie, ich komme eben aus der arabischen Kultur. Und die ist eben so ganz anders, auch unsere Haltung Frauen gegenüber. Ich bin eben so aufgewachsen und erzogen.‘

W. kann das verstehen, ebenso wie sie auch die Frau ihres Klienten verstehen kann. Als Ausweg hat sie schon probiert, die Frau zu einer Paarsitzung dazu einzuladen – mit dem Effekt, daß sie noch mehr beide Seiten verstehen konnte.

„Und da stecke ich also, wie gesagt, fest und weiß nicht, wie ich weiter vorgehen soll.“  

Bitte überlegen Sie kurz, was Sie für Ideen haben, wie Sie mit W. supervisorisch weiter arbeiten könnten.

 

Ich möchte in diesem Vortrag die möglichen Vorgangsweisen nach 3 Gesichtspunkten gruppieren:

  • die Arbeit an der aktuellen, präsentierten Supervisionsfragestellung,
  • die Analyse der Übertragungs- und Gegenübertragungsbeziehung zwischen Supervisor/in und Supervisand/in,
  • und die Analyse der Parallelen zwischen Supervisionprozesses und supervidiertem Prozeß.

Diese 3 Gesichtspunkte werde ich modellhaft an der supervisorischen Methodik erläutern, um anschließend kurz auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten zum Coaching herauszuarbeiten.

1. Supervision entlang der Fragestellung (des Vertragszieles) des/r Supervisanden/in

Der Mensch, der zur Supervision kommt, hat in irgendeiner Weise ein Problem in der Ausübung seines Berufes. Er (sie)  weiß oder kann in irgendeiner Weise nicht weiter, sonst wäre er (sie)  ja nicht beim Supervisor.

 

Ich habe die kurze Fallvignette, die ich Ihnen vorhin vorgestellt hätte, unlängst in einer Ausbildungsgruppe präsentiert und dazu die Frage gestellt: ‚Um was geht es Eurer Meinung nach hier?‘

Hier ein paar der Antworten: ‚Um Trübungen‘, ‚um die Skripts des Paares und der Therapeutin‘, ‚um ein Problem der Supervisandin mit dem Supervisor‘, ‚um Passivität und Symbiose‘, ‚um ein Männerproblem der Therapeutin/Supervisandin‘.

Lauter sehr plausible Antworten und lauter Möglichkeiten für die konkrete Problemstellung – und auch aufschlußreiches Beispiel dafür, wie wir es gewohnt sind, auf unseren fachlichen Metaebenen um die Ecke zu denken. Wenn wir dieselbe Geschichte jemandem erzählen würden, der von Supervision, von TA und auch sonstiger psychologischer Denkweise nichts weiß,  und diesem Jemand dieselbe Frage: ‚Um was geht’s Ihrer Meinung nach hier?‘ stellen würden: ich vermute, er oder sie würde schlicht und einfach antworten: ‚Nun, diese Frau will wissen, was sie weiter tun soll.‘

Natürlich würde kaum jemand von uns als Supervisand/in das so herzhaft und naiv formulieren; dazu haben wir oft genug gehört, daß das eine passive Formulierung wäre. Trotzdem ist es in aller Regel die Eingangsfragestellung in Supervision: WAS SOLL ICH TUN?

Eleganter formuliert: aus noch unbekannten Gründen ist diedes/der Supervisanden/in blockiert. Handlungsfähigkeit

 

Als erster Schritt ist daher zu untersuchen, woher diese Handlungsblockade kommt. Es könnte beispielsweise sein, daß dem Supervisanden Sachinformationen darüber fehlen, was in einer Situation wie der seinen sinnvollerweise zu tun ist.

Die Teilnehmer einer meiner ersten Supervisiongruppen vor gut fünfzehn Jahren waren katholischen Pastoralassistenten. In einer Sitzung erzählte ein Teilnehmer von einem Alkoholiker, der seinen Rat gesucht hatte. Der Mann wollte aufhören zu trinken und der Pastoralassistent wußte nicht, was er ihm raten sollte. Ich klopfte meinen Supervisanden lang und breit und nach allen Regeln der Kunst daraufhin ab, was es denn mit ihm zu tun habe, daß er so zögerlich sei, daß er sich blockiere und daß er die doch offensichtlich gute Motivation des Alkoholikers nicht offensiver nütze. Schließlich kam ich drauf, daß er schlicht kaum Bescheid wußte über Sucht an sich, über die Unterschiede zwischen körperlicher und seelischer Abhängigkeit und die verschiedenen möglichen Maßnahmen der Alkoholikertherapie, von der Entzugsstation bis zur Langzeitbehandlung. Mit entsprechenden Informationen versorgt, hatte er keine Schwierigkeiten mehr, mit dem Mann weiterzuarbeiten.

In unserem Fall, im Fall von W., scheint das allerdings nicht der Grund dafür zu sein, daß sie nicht weiter weiß. Sie hat durchaus Ideen zum Umgang mit der Situation: so hat sie ja die Frau ihres Klienten zu einer gemeinsamen Sitzung eingeladen – im Wissen um die Verflochtenheit von Beziehungsstörungen. Sie hat  verschiedene andere Interventionstechniken ausprobiert; sie hat Herrn A. (ihren Klienten) damit konfrontiert, daß man erlernte Haltungen auch aufgeben kann, sie hat mögliche Beziehungsängste seinerseits angesprochen, sie hat begonnen, seine Mutterbeziehung näher zu erforschen. Wir könnten ihr jetzt natürlich noch verschiedene andere Alternativen vorschlagen: sie könnte beispielsweise gestalttherapeutisch mit Herrn A. arbeiten und ihn auffordern, sich seine Frau auf einem leeren Stuhl vorzustellen und ihr zu sagen, was er von ihr wolle und was nicht. Sie könnte ihn in einen Dialog mit seinem Vater treten lassen, der ihm möglicherweise diese Haltung zu Frauen vorgelebt hat. Sie könnte verhaltensorientiert mit ihm arbeiten und zum Beispiel Verträge abschließen, keine Außenbeziehungen mehr zu führen - und so weiter. Allerdings ist W. eine kluge und kompetente Frau, die auf alle diese Ideen mehr oder weniger auch selbst gekommen ist oder auch noch kommen wird. Zugleich aber steckt sie fest: es scheint also nicht nur ihre Handlungsfähigkeit blockiert zu sein, sondern noch etwas Anderes.

Wenn jemand zwar grundsätzlich weiß, wie sie handeln könnte, es aber trotzdem nicht oder nicht erfolgreich tut, dann ist in irgendeiner Weise ihre Denkfähigkeit blockiert. W. hätte ausreichende Sachinformation, um die Frage ‚Was soll ich tun?‘ zu beantworten. Daß sie es trotzdem nicht kann, heißt, daß sie ihre Fähigkeiten und die Informationen, die sie hat, nicht sinnvoll oder nicht ausreichend sinnvoll im Denken verknüpfen kann.

Als nächstes ist es daher Aufgabe des Supervisors, ihr bei mehr Klarheit im Denken zu helfen. Auf die Frage ‚Was soll ich tun?‘ folgt also die Gegenfrage WAS DENKST DU ÜBER DAS PROBLEM?

Auf diese Frage sind viele Antworten vorstellbar, die sich auf Hypothesen zur Therapiesituation beziehen könnten - zum Beispiel:

  • Herr A. und seine Frau versuchen, mich in ihr Spiel hineinzuziehen und mir die Position des Schiedsrichters zu geben, damit keiner von ihnen seine Passivität aufgeben muß;
  • Herr A. versucht, mich auf die gleiche Weise mit seinem Charme und seiner Unschuldsmiene um den Finger zu wickeln wie seine Frau (und auch andere Frauen);
  • ich habe ein Problem mit Herrn A., weil ich selbst bis vor drei Jahren mit einem Mann verheiratet war, der sich ganz ähnlich verhalten hat;
  • ich habe ein Problem mit Frauen, die verlangen, daß ihre Männer sich ändern sollen, damit sie sich nicht verändern müssen – denn meine Mutter ist so eine Frau.

Über diese Hypothesen könnten wir dann diskutieren und überlegen, ob sie zutreffen könnten und was für Interventionen dann sinnvoll sein könnten bzw. was W. helfen könnte, ihre Geschichte von der des Ehepaares A. zu trennen. Damit könnte sie auf die Handlungsebene zurückkehren und ihre Blockade dort lösen.

Es kann  aber auch sein, daß – so wie das Handeln – auch das Denken weiter blockiert ist und noch nicht in Gang kommen kann: W. weiß nicht nur nicht recht, was sie tun soll, sondern auch nicht recht, was sie über die Situation denken könnte. Sie denkt zwar alles mögliche, aber nicht wirklich auf die Lösung des Problems bezogen; zum Beispiel: „Vielleicht ist das ganze halt um eine Schuhnummer zu groß für mich. Vielleicht sollte ich Herrn A. woanders hin verweisen.“ oder „Es ist eben auch schwierig, mit Menschen aus einem ganz anderen Kulturkreis zu arbeiten.“

Dann ist der Hebel noch eine Etage tiefer anzusetzen – dann liegt die Blockade im Denken vermutlich in einer korrespondierenden Blockade im Fühlen begründet. Wenn Sie über eine bestimmte Sache nicht wirklich folgerichtig und erwachsen denken können, obwohl Sie das ansonsten durchaus können und tun, dann liegt das in aller Regel daran, daß Sie mit bestimmten Gefühlen über diese Sache nicht in Kontakt kommen können oder wollen.

Ein Beispiel: Stellen Sie sich bitte vor, Ihr Partner/ Ihre Partnerin eröffnet Ihnen, daß er/sie eine Beziehung mit jemand anderem hat und sich von Ihnen trennen will (wenn Sie keine/n Partner/in haben, stellen Sie sich vor, sie hätten eine/n). Er/sie hat Ihnen das gerade gesagt, in diesem Moment. Notieren Sie, was Sie jetzt gerade über das, was Sie gehört haben und über Ihre Situation denken.

 

Und jetzt unterbrechen Sie Ihre Notizen – bleiben Sie aber noch in der Phantasie. Sie brauchen im Moment gar nichts besonderes zu denken. Das, was Sie sich gerade vorstellen haben, gehört zu den schlimmsten Dingen, die im Leben eines erwachsenen Menschen passieren können. Achten Sie – statt sich intensiv mit dem Denken zu befassen – auf das, was Sie fühlen. Erlauben Sie sich diese Gefühle und notieren Sie sie.

Und jetzt kehren Sie wieder zum Denken zurück: was denken Sie jetzt – unter Einbeziehung dieser Gefühle? Und unterscheidet sich das von dem, was Sie vorhin an Gedanken notiert haben?

Um dem blockierten Fühlen des/der Supervisanden/in auf die Spur zu kommen, ist daher die entsprechende Frage WAS FÜHLST DU ÜBER DAS PROBLEM UND ÜBER DIE SITUATION?

Als ich das W. fragte, antwortete sie: „Zuerst einmal fühle ich mich wütend über Herrn A., weil er so schäbig mit seiner Frau – und mit anderen Frauen – umgeht. Ich kann dieses Gelaber über seinen anderen kulturellen Hintergrund nicht mehr hören! Eine Frau ist ein Mensch und soll als Mensch behandelt werden, mir egal, was für ein kultureller Hintergrund. Und außerdem bin ich auf sie auch aggressiv, weil sie so passiv-erpresserisch ist. Warum läßt sie sich das gefallen? Warum delegiert sie das Problem an mich? Warum sagt sie: entweder du gehst zur Therapie oder ich verlasse dich – und nicht: entweder du verhältst dich anders oder ich verlasse dich?“

 

Ich ermutigte sie, weiter in diese Richtung zu gehen.
„Beide hängen ihr Problem einfach mir um... wie komme ich denn dazu? Ich soll mich anstrengen und mir Lösungen und Interventionen einfallen lassen, womöglich das gemeinsame Kind auch noch in die Therapie einbeziehen, nur damit sie nicht die Scheiße realisieren müssen, in der sie gemeinsam stecken! Nur damit sie nicht kapieren müssen, daß es so nicht weitergehen kann!“

„Und wenn du das siehst – du sollst dich anstrengen, nur damit die beiden ihr Problem nicht wirklich sehen müssen – was fühlst du dann?“

„Es macht mich hilflos – nein, macht es mich nicht...ich – ach Gott, ich will da gar nicht hinsehen müssen! Es macht mich traurig, es macht mich so verzweifelt und traurig! Es ist das, was meine Eltern immer mit mir gemacht haben! Ich mußte ständig zwischen ihnen vermitteln, damit sie nicht realisieren mußten, daß sie eigentlich mit ihrer Ehe am Ende waren, und das schon vor mir. Sie haben mich überhaupt nur gekriegt als einen Versuch, die Ehe zu reparieren.“

Wir blieben noch kurz bei W.s Gefühlen und ihrem persönlichen Thema; anschließend schneuzte sie sich kräftig (oft ein untrügliches Zeichen dafür, daß die Denkfähigkeit wieder eingesetzt hat) und sagte: „Na ja, da kriegt die Sache ja ein ganz anderes Licht. Ich denke, ich habe jetzt Ideen, wie ich weiter vorgehen kann. In jedem Fall geht es darum, den beiden die Verantwortung für ihre Situation und ihr Handeln zurückzugeben. Dann kann man immer noch mit Herrn A. – wenn er das will – an seinem Skript arbeiten.“

In wenigen Sätzen hat sie damit selbst  die nächsten Schritte in diesem Interventionsmodell vollzogen: wenn die Gefühlsblockade gelöst ist, kann auch die Blockade im Denken und anschließend die im Handeln überwunden werden.

Grafisch aufgelöst sieht dieses 4-Schritte-Modell so aus:

In Ichzuständen gesprochen geht es darum, in einzelnen Schritten getrübte Inhalte des Erwachsenen-Ichs zu enttrüben, um damit die volle erwachsene Fähigkeit zu handeln, zu denken und zu fühlen, wiederherzustellen.

Manchmal sind alle 4 erwähnten Schritte zu dieser Enttrübung notwendig, manchmal auch weniger – je nachdem, ob die Trübung alle 3 Punkte ‚Ich kann nicht handeln/ nicht denken/ nicht fühlen‘ beinhaltet oder nur ‚Ich kann nicht handeln‘ bzw. ‚Ich kann nicht handeln/ nicht denken‘.

Das 4-Schritte-Modell bietet also eine Herangehensweise an die aktuelle Supervisionsfragestellung, die situationsadäquat abgestuft werden kann.

Der Supervisor/ die Supervisorin bewegt sich damit in einem Koordinatensystem: die eine Achse bilden die Bedürfnisse des/der Supervisanden/in vom Informations- zum persönlichen skriptbedingten Defizit, die andere Achse bedeutet die Dichte oder Intensität supervisorischen Intervenierens. Zwischen diesen Koordinaten entwickelt sich das Supervisionsgeschehen: je stärker das Defizit (und das ist nicht wertend gemeint), je höher also die Ebene der Blockade, umso intensiver wird der Supervisor/ die Supervisorin intervenieren.

Intensiver heißt in diesem Fall dichter in die Beziehung hinein zu intervenieren, sich stärker auf die Person des/ der Supervisandin zu beziehen. Die Frage wie ‚Brauchst Du mehr Informationen darüber, wie man damit umgehen kann, den Partner eines Klienten in die Therapie hereinzunehmen?‘ ist weniger beziehungsintensiv ist als die Intervention ‚Bleib bei diesen Gefühlen. Sprich weiter darüber.‘

Damit sind wir beim zweiten unserer 3 Axiome zur Beschreibung von Supervisions- und Coachingprozessen:

2. Die Beziehung zwischen Supervisor/ Supervisorin und Supervisand/ Supervisandin (Übertragungs-Gegenübertragungsbeziehung)

Generell kann man sagen, daß alle psychologisch-professionellen Beziehungen – ob Psychotherapie, Beratung oder eben Supervision und Coaching – sich auf einem Kontinuum bewegen.

Am einen Ende steht die ‚Realbeziehung‘, also eine reale professionelle Beziehung zwischen 2 erwachsenen Individuen mit klar verteilten Rollen und klar definierten Zielen. Am anderen Ende steht die Übertragungs-Gegenübertragungsbeziehung – eine Art von Beziehung, in die ein Teil (mehr unbewußt als bewußt) frühere destruktive Beziehungserfahrung mit hereinnimmt und sie auf das Gegenüber projiziert. Solange er/ sie das tut, denkt, handelt und fühlt er/ sie nicht vollständig erwachsen, sondern wie das Kind, das diese (destruktiven) Beziehungserfahrungen gemacht hat – er/sie besetzt Kindheits-Ichzustände.

Wenn wir Supervisionsgeschehen so betrachten, nehmen wir einen Meta-Standpunkt ein und entfernen wir uns von der dezidierten und definierten aktuellen Supervisionsfragestellung. Wir entfernen uns von dem ‚Was?‘ – ‚Was kann ich tun? Was gibt es für Möglichkeiten?‘ und untersuchen das ‚Wie?‘: wie präsentiert ein/e Supervisand/in sein/ihr Problem, wie kommt es, daß ihn/sie dieses Problem beschäftigt, wie geht er/sie mit Interventionen des Supervisors/ der Supervisorin um.

Sehen wir uns das an unserem Fallbeispiel, der Supervision von W. an. Sie erinnern sich: die Supervisionssitzung beginnt damit, daß W. sagt, das Problem, mit dem sie heute kommt, drücke sie schon länger, aber bis jetzt habe sie sich noch nicht getraut, es anzusprechen.

Es ist nicht notwendig, hier einzugreifen, weil W. sofort beginnt, das Problem zu schildern, aber im Hintergrund bleibt die Frage: Warum hat sie sich bisher nicht getraut? Was befürchtet sie?

Einige Zeit später – bei der Frage, was sie über das Problem denke – kommt W. noch einmal zu diesem Kontext: „Vielleicht ist das ganze einfach um eine Schuhnummer zu groß für mich. Vielleicht sollte ich Herrn A. woanders hin verweisen.“ Und sie ergänzt noch: „Ich habe schon überlegt, ob ich ihn zu Dir schicken soll.“

 

Warum soll der Klient eine Schuhnummer zu groß für sie sein? Schließlich handelt es sich nicht um eine Schwerststörung, wie z.B. eine akute paranoid-psychotische Episode, und  W. ist eine kompetente Therapeutin kurz vor dem Abschluß ihrer Ausbildung. Warum sollte sie ihn zu mir weiterschicken? Weder bin ich ein expliziter Spezialist für Männer mit Problemen, wie sie Herr A hat, noch ist Herrn A.s Problem so ungewöhnlich, daß W. etwas Vergleichbares noch nie erlebt hätte. Die Vermutung liegt nahe, daß diese Aussagen nicht Ausdruck der realen Beziehung zwischen einer erwachsenen Ausbildungskandidatin und einem erwachsenen Supervisor (und Kollegen) sind, sondern daß W. Aspekte einer anderen, problematischeren Beziehung überträgt.

Zur Übertragung gehört immer komplementär die andere Seite: die Gegenübertragung. Die andere beteiligte Person (Therapeut/in, Berater/in, Supervisor/in) erlebt die Übertragung und beginnt, emotionell darauf zu reagieren.
Lassen Sie mich das kurz an der Situation verdeutlichen, an der ich selbst vor Jahren begriff, was Gegenübertragung bedeutet:

In der psychotherapeutischen Arbeit mit einem Klienten von mir mit angstneuro­tischer Symptomatik, mit dem ich ansonsten gut in Kontakt war, wurde ich zu einer bestimmten Zeit der Therapie in jeder Stunde immer furchtbar müde, so daß ich es wirklich schwer hatte, nicht einzuschlafen. Anfangs vermutete ich einfach, ich hätte zu wenig geschlafen, oder zu viel ge­arbeitet. Ich verlegte die Stunden mit ihm auf eine Ta­geszeit, zu der ich üblicherweise meine wachste Zeit habe - auch das nützte nichts. Ich wurde todmüde, sobald der Klient sich mir gegenüber hinsetzte. Dann packte mich das schlechte Gewissen: Ich bringe ihm nicht genügend Inter­esse entgegen, sagte ich mir. In mehreren Supervisions­stunden konnte ich jedoch keinen nennenswerten Eigenanteil bei mir herausfinden. Auf Empfehlung meines Supervisors stellte ich aber dem Klienten schließlich die folgende Frage:

"Ist es dir als Kind jemals passiert, daß jemand einge­schlafen ist oder sehr gelangweilt war, wenn du versucht hast, ihm von dir zu erzählen?"

Die Antwort meines Klienten war verblüffend:

"Ich weiß zwar nicht, warum du mich das fragst, aber oft und oft am Abend, wenn mein Vater noch zu mir ans Bett kam, wenn er aus der Arbeit nach Hause gekommen ist, habe ich während dem Erzählen plötzlich gemerkt, daß der Kerl eigentlich schläft."

Die Gegenübertragung ist ein sehr sensibles Diagnostikum, das viel über die frühere Beziehungserfahrung eines Menschen erzählen kann. Den beiden zitierten Äußerungen der Supervisandin W. (‚ich habe mich nicht getraut, früher damit in Supervision zu kommen‘ und ‚vielleicht ist der Klient eine Schuhnummer zu groß und ich vermittle ihn besser an dich‘) entspräche auf Ebene der erwachsenen Realbeziehung, also ohne Impulse der Gegenübertragung, wahrscheinlich nicht viel andere innere Reaktion als „Aha. Mal sehen, was sie damit meint.“

Möglicherweise lösen W.s Aussagen aber andere emotionelle Impulse aus, subtil, aber doch: den Wunsch, die Stirn zu runzeln beispielsweise; Gedanken wie ‚Was meint sie denn damit schon wieder? Was soll die Überanpassung? Warum redet sie nicht über das Problem mit dem Klienten?‘). Das könnten Hinweise auf eine Gegenübertragungsreaktion sein, die sozusagen Beziehungserfahrungen spiegeln würde, die W. früher gemacht hat – Erfahrungen mit einer möglicherweise strengen, kritischen Bezugsperson, der sie es nicht recht machen konnte und an die sie sich besser nicht mit ihren Problemen wandte.

Man könnte natürlich sagen (und das ist eine weitverbreitete Haltung): Übertragung und Gegenübertragung gehören in die Therapie und haben in der Supervision nichts verloren. Wir konfrontieren W. mit ihrer Übertragung und sie muß sich selbst Wege suchen, wie sie damit zurecht kommt. Supervision ist eine Angelegenheit für Realbeziehungen und sonst nichts.

Das hat zwar einen wahren Kern – das regressive Auf- und Durcharbeiten der Übertragung ist tatsächlich ein der Psychotherapie vorbehaltener Vorgang und geht über den Supervisionsvertrag hinaus – geht aber trotzdem am Problem vorbei. Wenn Sie W. so konfrontieren, ist sie möglicherweise erst recht in ihrem Übertragungserleben drin und sieht sie als kritisch-verweigernde Autoritätsperson; auf das Problem mit ihrem Klienten bezogen heißt das, sie bleibt blockiert. Die Frage ist ja nicht, ob wir Übertragung mögen oder nicht oder ob sie in Supervision etwas verloren hat oder nicht – Faktum ist, daß sie da ist und wir damit umgehen müssen. Das allerdings in der Tat anders als in der Therapie.

Denn der Fokus ist ein anderer: in der Therapie geht es um die persönliche Entwicklung des Klienten/ der Klientin, um das Überwinden kindlicher Haltungen im Denken, Fühlen und Verhalten um der Person selbst willen. In der Supervision geht es auch um die persönliche Weiterentwicklung des Supervisanden/ der Supervisandin – aber um der Menschen willen, mit denen er/sie arbeitet. Für die haben wir als Supervisoren /innen ja Mitverantwortung übernommen.

Ein Beispiel: in meinen ersten Jahren als TA-Ausbildungskandidat hatte ich einen Supervisor, den ich als sehr problemorientiert erlebte. Das heißt, meiner Wahrnehmung nach bekam man bei ihm viel Unterstützung für schwierige Situationen in der therapeutischen Arbeit, wenig für Erfolge und gelungene Interventionen. Ob er wirklich so war oder ob ich da auf ihn projizierte – jedenfalls beeinflußte es nachdrücklich meine Arbeit mit Klienten. An den Tagen vor Supervisionsstunden begann ich intensiv, nach Problemen zu suchen, die ich mitbringen könnte. Und allmählich wurde ich in der Arbeit mit meinen Klienten auch immer problemorientierter. Die Übertragung zum Supervisor wirkte sich nachdrücklich auf die Beziehung zu meinen Klienten aus.

Die (ungelöste) Übertragung zum Supervisor/ zur Supervisorin beeinflußt also das professionelles Arbeiten nachdrücklich beeinflussen: wenn W. beispielsweise ihre Probleme mit Herrn A. beispielsweise gar nicht zur Supervision bringt, weil sie so viel Angst hat, ich könnte sie tadeln, wird möglicherweise ihr Steckenbleiben fortgesetzt und führt unter Umständen zu einem schlechten Verlauf der Therapie oder ihrem Abbruch.

Im der tatsächlichen Situation mit W. war das nicht der Fall, weil die Übertragung vergleichsweise nur am Rande – in den zwei genannten Transaktionen – auftauchte; die tatsächliche Beschäftigung mit dem Supervisionsproblem und der Wunsch, auf der realen, erwachsenen Ebene eine Lösung zu finden, stand im Vordergrund.

Versuchen wir aber, eine Situation zu konstruieren, wo dieser erwachsene Wunsch nach Lösung eines professionellen Problems überlagert wird von dem kindlichen Wunsch nach Heilung früher Beziehungsdefizite. Stellen wir uns vor, W. wäre in ihrer Schilderung der Probleme mit Herrn A. weiter ängstlich und verzagt gewesen. Auf meine Fragen anhand des 4-Schritt-Modells wäre ihre Verzagtheit immer größer geworden und ebenso ihre Blockaden. In so einem Fall ist das aktuelle Problem ist (noch) nicht die Supervisionsfragestellung, sondern die (Übertragungs-)Angst vor dem Supervisor. Es wäre daher sinnlos, nach den 4 Schritten vorzugehen. Vorher muß ein Stück Übertragungslösung stattfinden, damit die Supervisandin als erwachsene Person den Interventionen des Supervisors zugänglich werden kann.

Taucht eine ähnliche Verhaltensweise im psychotherapeutischen Prozeß auf,
ist es notwendig, mit der Klientin zurückzugehen zu der frühen Beziehungserfahrung, die sie gelehrt hat, auf keine Hilfe zu vertrauen, sondern Kritik zu befürchten. Angenommen, sie hat das mit ihrem Vater erlebt: dann käme es hier darauf an, sie behutsam dorthin zu führen, daß sie sich diesen schmerzvollen Erfahrungen stellen und sich emotionell im Wiedererleben und Verarbeiten der frühen Situationen aus ihrem Skript lösen kann. Psychotherapie ist ein Vorgang, mittels dessen Menschen in bewußte regressive Prozesse hinein begleitet werden, um dann Lösung zu ermöglichen.

 

Anders Supervision und Coaching: hier geht es darum, den Supervisanden/ Coachee aus der (in der Regel nicht bewußten) Regression herauszuführen, um erwachsenes Problemlösen zu ermöglichen.

Sehen wir uns diesen Unterschied an möglichen Interventionsformen an:

„Ich habe ein Problem, dass mich schon längere Zeit belastet, aber ich habe große Angst mit dir darüber zu sprechen. Ich fürchte mich, dass du ärgerlich werden wirst.“
MÖGLICHE INTERVENTIONEN
1.Psychotherapie - 2.Supervision
Psychotherapie
Th: „Lass diese Angst zu. Erlaube dir die Phantasie, was dann alles passieren könnte, wenn du mir dein Problem erzählst.“   
Kl: „Du wirst ungeduldig sein und mich fortschicken.“ 
Th: „Und wie wirst du dich dann fühlen?“ 
Kl: „Verzweifelt und hilflos.“ 
Th: „Das klingt nach den Gefühlen eines kleinen Mädchens, das sich sehr allein gelassen und verletzt fühlt.“ 
Kl: (bestätigt) 
Th: „Und wie alt ist dieses kleine Mädchen?“ 
Kl: „Vielleicht fünf oder sechs … „ 
Th: „Und was geht vor im Leben dieses fünf-, sechsjährigen Mädchens, wenn sie sich so verzweifelt und hilflos fühlt?“ 
      usw.

Supervision
Sv: „Was werde ich tun, wenn ich ärgerlich auf dich bin?“
Svd: „Mich wegschicken und mit meinem Problem alleinlassen.“
Sv: „Hast du so etwas mit mir schon erlebt?“
Svd: „Nein, natürlich nicht. Das weiß ich ja, aber …“
Sv: „Gibt es frühere Erfahrungen aus deinem Leben, wo du weggeschickt und mit deinen Problemen allein gelassen worden bist?“
Svd: „Gibt es frühere Erfahrungen aus deinem Leben, wo du weggeschickt und mit deinen Problemen allein gelassen worden bist?“
Sv: „Bei welchen Problemen ist er am allerärgerlichsten geworden?“
Svd: „Wenn ich mit der depressiven Mutter nicht zu Rande gekommen bin.“
Sv: „Gibt es bei deinem Supervisionsproblem depressive Menschen, mit denen du nicht zu Rande kommst?“
Svd: „Ja, klar, die Frau meines Klienten ist genauso passiv-aggressiv wie meine Mutter!“
      usw.

Im Prinzip kann man sagen: Supervision und Coaching müssen mit Übertragungsphänomenen und Vorgängen arbeiten, aber sie laden nicht dazu ein, sie zu intensivieren und durchzuerleben, sondern fokussieren mehr auf das kognitive Erkennen und verhältnismäßig rasche Lösen der Übertragung.

Das Thema ‘Übertragung’ ist ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen Coaching und Supervision, und hier wieder zwischen Praxis- und Ausbildungssupervision; ich werde noch darauf zu sprechen kommen.

Lassen Sie uns aber vorher noch den dritten Aspekt der Analyse des Supervisions- (und Coaching-) Geschehens betrachten:

 

3. Der parallelle Prozeß zwischen Supervisionsgeschehen und supervidiertem Geschehen

Wir haben vorher von der Gegenübertragung des Supervisors/ der Supervisorin gesprochen – also davon, wie er/sie die Übertragung aufnimmt und dazu tendiert, den projektiven Impulsen des/ der Supervisanden/in zu entsprechen. Dieser Vorgang beginnt natürlich nicht erst in der Supervision: auch die Supervisandin nimmt in ihrer Arbeit mit dem Klienten dessen Übertragung auf und entwickelt ihre eigene Gegenübertragung dazu. Diese Gegenübertragung wiederum bringt sie unbewußt in die Supervision ein.

Fassen wir die Essenz der tatsächlichen Supervision mit W. zusammen: W. hat herausgefunden, daß Herr A. (und seine Frau) ihr, der Therapeutin, die Lösung und vor allem die Verantwortung für ihre Probleme zuschieben wollen.

Betrachten wir noch einmal genau die Ausgangssituation: nach der Schilderung der Therapiesituation aus ihrer Sicht formulierte W. den Wunsch, ‘Lösungsoptionen’ zu finden, begleitet von der Bemerkung “Ich jedenfalls bin mit meinem Latein am Ende.” Was letztlich – ihre schnell aktivierbare Fähigkeit zu fühlen, zu denken und Handlungsmöglichkeiten zu finden  beweist es – nicht stimmte, sondern viel eher auf eine unbewußte Parallellität zur Situation des Paares A. hinweist.

Ähnlich verhält es sich mit dem Umstand, daß W. sich in der Supervision aggressionsgehemmt zeigt – sie muß erst darauf aufmerksam gemacht werden, daß sie möglicherweise ärgerlich auf A. und seine Frau ist. Das ist normalerweise kein besonderes Problem für sie; in diesem Fall aber spiegelt es die Aggressionsgehemmtheit der beiden.

Da diese beiden Komponenten – ähnlich wie ihre eigene Übertragung – nicht im Vordergrund in W.s Darlegung des Falles standen, war es nicht sinnvoll, in diese Richtung weiter zu intervenieren. Stellen wir uns aber vor, die Situation hätte sich weiter in diese Richtung entwickelt:

SV: Und was denkst du, wo das Problem in dieser Situation liegt?

SVd: Keine Ahnung. Weiß ich nicht. Ich sage doch, ich bin mit meinem Latein am Ende.

SV: Was meinst du mit ‘mit meinem Latein’ am Ende?

SVd: Na ja, was denn schon. Die Redewendung wirst du wohl kennen!

SV: Die Redewendung schon, ich weiß auch, was sie bedeutet. Aber es ist etwas, was ich von dir noch nie erlebt habe. Ich kennen dich als ziemlich kreativ im Finden von Lösungen, und auch als ziemlich gut im theoretischen Konzeptionalisieren deiner Arbeit.

SVd: Na ja, aber diesmal funktioniert’s halt nicht.

 

Sie sehen, wie W. sich hier (hypothetisch) in etwas verstrickt, was sie zwar blockiert, was aber weder mit eigenen Defiziten auf dem Kontinuum zwischen Information und Skript zu tun hat – noch ihren persönlichen Übertragungsthemen entspricht (in ihrer frühen Beziehungsgeschichte hatte sie eher gelernt, immer Lösungen parat zu haben, auch wenn es untaugliche waren).

An dieser Stelle ist es oft hilfreich, die Frage zu stellen: “Kann es sein, daß das, was hier zwischen uns passiert, Ähnlichkeit mit dem hat, was zwischen dir und deinem Klienten passiert?”


Im Unterschied zum zweiten ist es hier nicht die Übertragung der Supervisandin, die in den Prozeß einfließt, sondern die Gegenübertragung, die sie wiederum auf die Übertragung ihres Klienten entwickelt. Das kann oft wie eigene Übertragung aussehen und sich so anfühlen, weil es ja auch Gegenübertragungsimpulse beim Supervisor auslöst. Allerdings vermitteln uns diese gewissermaßen Gegen-Gegenübertragungs-Reaktionen weniger ein Bild von der frühen Beziehungsgeschichte der Supervisandin als eines von der ihres Klienten (und natürlich von seiner Beziehung mit ihr, beziehungsweise ihrer mit ihm).

Die Dynamik des parallelen Prozesses hilft  manchmal, Dynamiken zu erklären, die sonst unverständlich und unzusammenhängend erscheinen: Supervisanden, die sonst gut denken können und auch keine größeren Übertragungsthemen zum Supervisor haben, können plötzlich so blockiert oder verwirrt sein, als ob sie gestern erst mit ihrem Job begonnen hätten. Tatsächlich ist es aber oft nur die Verwirrung ihrer Klienten, die sie widerspiegeln.

Anfang der 80er Jahre arbeitete ich in einer neugegründeten therapeutischen Wohngemeinschaft für Drogenabhängige. Wer jemals mit Suchtkranken gearbeitet hat, kann sich vielleicht vorstellen, in wie kurzer Zeit unsere Klienten uns, das Betreuerteam, jung und unerfahren, wie wir waren, in einen undurchdringlichen Beziehungsdschungel aus Halbwahrheiten, ganzen Lügen und Umdefinierungen verwickelten. Je mehr wir versuchten, ihnen auf die Schliche zu kommen, umso mehr häuften sich Drogenrückfälle, Regelüberschreitungen, Vorwände, Ausreden und Entschuldigungen. Der Vorstand des Trägervereins geriet unter Druck von seiten der Öffentlichen Hand, des Geldgebers und gab diesen Druck an uns weiter. Da setzte ein merkwürdiger Prozeß ein: wir begannen, Drogenrückfälle nicht mehr im Berichtsbuch zu verzeichnen. Wir nahmen keine Harnproben mehr ab, und als das von ‚oben‘ bemängelt wurde, tauchte allen Ernstes im Team die Idee auf, Proben unseres eigenen Harns analysieren zu lassen, um gute, also drogennegative Testergebnisse zu erhalten. Ich weiß nicht, wie weit wir uns da noch heineinverstrickt hätten, wenn nicht eine Kollegin den erlösenden Satz gesagt hätte: „Merkt Ihr nicht, daß wir schon genauso sind wie unsere Klienten?“  

Schlußfolgerungen

So weit die Beschreibung der 3 Grundelemente in Supervision und Coaching – die Arbeit an der aktuellen Fragestellung, Übertragung und Gegenübertragung und Parallelprozeßanalyse.  Wie aber lassen sie sich miteinander in Beziehung bringen?

Wir können sie als Achsen für ein dreidimensionales Modell verwenden, mittels dessen sich beschreiben läßt, wo – im Schnittpunkt dieser Achsen – die jeweilige professionelle berufsbegleitende und berufsunterstützende Tätigkeit angesiedelt ist oder angesiedelt sein soll:

Achse 1 ist die Arbeit an der aktuellen Fragestellung; sie betrifft den professionellen Prozeß, den der Supervisand/ Coachee durchzuführen hat. Diese Achse ist primär handlungsorientiert.

Achse 2 erfaßt die Dimension der Übertragung des/der Supervisanden/in/Coachee auf den Supervisor/Coach bzw. die komplementäre Gegenübertragung. Dieser Fokus zielt auf die professionell-persönliche Entwicklung des Supervisanden/Coachee.

Die 3. Achse schließlich erfaßt die Analyse der Parallellen zwischen Supervisions-/Coachingprozeß und dem professionellen Prozeß des Supervisanden/ Coachees. Sie befaßt sich mit der Beziehung zwischen dem Supervisanden und seinem Klienten.

Wir können daher jeder Art eines berufsunterstützenden Verfahrens einen bestimmten Platz in diesem Quader zuweisen, indem wir beispielsweise definieren: das Verfahren XY hat sich zu genau gleichen Anteilen, also zu je einem Drittel, mit Prozeß Beziehung und Entwicklung zu beschäftigen. Dieses Verfahren wäre dann dementsprechend ein Drittel auf der Achse 1 nach rechts, ein Drittel auf der Achse 2 nach oben und ein Drittel auf der Achse 3 nach hinten am Schnittpunkt angesiedelt.

Für diesen Kontext geht es um 4 spezifische berufsunterstützende Vorgangsweisen: Coaching, Einzelsupervision, Teamsupervision und Ausbildungssupervision. Sie alle sind in diesem Quader angesiedelt, d.h. sie alle berücksichtigen die 3 Dimensionen Prozeß, Entwicklung und Beziehung. Indem wir sagen, wie genau, also wie unterschiedlich das jeweilige Verfahren mit diesen Dimensionen arbeitet, indem wir ihm als einen Platz in diesem Modell zuweisen, definieren wir seine Eigenheiten und Unterschiedlichkeiten.

  • Beim Coaching spielt die Handlungsorientierung, also der Prozeß des beruflichen Handelns der gecoachten Person, bei weitem die größte Rolle; das Übertragungsgeschehen mit dem Coach ist so knapp wie nur irgend möglich zu halten. Beim beruflichen Handeln des Coachee geht es nicht um helfende, heilende oder sonst begleitende Vorgänge, sondern beispielsweise um Führungsverhalten, Kooperation, Organisationsdynamik, Stellenwechsel und –bewerbungen. Daher kommt auch parallelen Prozessen, also der Frage der Gegenübertragung auf Personen, mit denen der Coachee arbeitet, wenig Bedeutung zu.
  • In der Einzelsupervision hingegen hat die Analyse des Parallelprozesses hohe Bedeutung; neben dem 4-Schritt-Vorgehen hilft sie dem Supervisanden am deutlichsten in seiner Professionalität, weil sie sein Verständnis und Gespür für die eigene Gegenübertragung als Instrument des Zugangs auf Patient/ Klient entwickelt. Mit Übertragung und Gegenübertragung wird deutlich mehr gearbeitet als im Coaching. Das geschieht hauptsächlich deswegen, damit der Supervisand anhand der eigenen Übertragung verstehen kann, welche Prozesse auch sein Klient/ Patient erlebt
  • Die Teamsupervision hingegen hält diesen Fokus – Übertragung auf den Supervisor - ähnlich niedrig wie beim Coaching, da das ein dafür zu persönlicher Zugang ist. Arbeit am aktuellen beruflichen Handeln und Analyse des Parallelprozesses halten sich in ihrer Gewichtung in etwa die Waage. Die Untersuchung des Parallelprozesses  wird hier ganz wesentlich bereichert um die Variante ‚Wie spiegeln die Prozesse bei Euch im Team die Prozesse zwischen Euch und Euren Klienten und die der Klienten untereinander wieder?‘
  • Ausbildungssupervision schließlich, also die supervisorische Begleitung von Menschen, die selbst zu Therapeuten, Supervisoren, Coaches werden, stellt die Analyse der Übertragung des Kandidaten/ der Kandidatin deutlich mehr in den Blickpunkt als die beiden anderen Dimensionen. Der Grund dafür ist, daß es nicht nur um professionelles Handeln selbst geht, sondern zu einem großen Teil um persönliche Entwicklung zu einer professionell mit den Problemen anderer Menschen arbeitenden Persönlichkeit hin.

 

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