19„ICH KANN SIE DOCH NICHT ALLE AUF EINMAL LIEBEN!“ TRANSAKTIONSANALYSE UND PÄDAGOGISCHE BEZIEHUNG
Leitvortrag auf dem PädagogInnentag des ÖTISO
Wien, März 2012
Als Sylvia Schachner mich vor fast einem Jahr einlud, auf diesem PädagogInnen-Tag zu sprechen, habe ich sie gewarnt: „Wenn du mich einlädst, dann werde ich keinen Vortrag halten, das tue ich nämlich nie. Ich werde Geschichten erzählen, das tue ich nämlich immer. Und diese Geschichten werden mit Menschen zu tun haben und mit den Beziehungen die sie miteiander haben, die sie miteinander hatten, die sie miteinander haben könnten oder auch mit denen, die sie nicht miteinander haben.“ Ich weiß nicht, ob sie diese Warnung ernst genommen hat – jedenfalls bin ich jetzt hier, als Geschichtenerzähler, nicht als Vortragender. Und auch Sie sind jetzt jedenfalls gewarnt.
Die Geschichte, mit der ich beginnen möchte, spielt vor fast 50 Jahren. In meiner Erinnerung steht sie sehr deutlich vor mir, und wie das mit unseren Erinnerungen so ist, wissen wir nie genau, ob sie sich wirklich so zugetragen haben oder ob wir sie im Laufe unseres Lebens allmählich zurechtgeformt und sie mit Bedeutung angereichert haben. Jedenfalls hat sie mein Leben entscheidend beeinflusst, sie hat mich in gewisser Weise zu dem gemacht, was ich heute bin. Wenn sie so nicht geschehen wäre, würde ich – so denke ich jedenfalls - heute nicht hier an dieser Stelle stehen und Ihnen Geschichten erzählen.
Sie spielt in der Altstadt von Innsbruck, meine Geschichte, die Stadt, in der ich aufgewachsen bin, und es ist ein Frühlingstag. Wir begegnen einer Klasse der Knabenvolksschule Mariahilf – ja, so etwas gab es noch damals, Knaben- und Mädchenvolksschulen – es ist, glaube ich, eine zweite oder eine dritte Klasse, und die vielleicht 25 oder 30 Buben sollen diese weltberühmte Altstadt mit dem Goldenen Dachl kennen lernen. Ihr Lehrer, der Direktor der Schule, bemüht sich redlich, aber besonders interessiert sind die kleinen Burschen nicht. Sie schwätzen, sie blödeln, sie sind eben Buben. Nur einer von ihnen hat gegenüber vom Goldenen Dachl ein Haus entdeckt, das ihn fasziniert. Es hat eine in seinen Augen wunderschöne verschnörkelte goldverzierte Fassade. Versunken betrachtet er sie und fragt sich, wie alt dieses Haus wohl sein mag und was für Menschen in ihm gewohnt haben mögen.
Der Lehrer – in meiner Erinnerung ist er ein alter Mann, heute denke ich, er wird jünger gewesen sein, als ich heute bin, denn er war noch aktiv, als ich maturiert habe - bemerkt ihn, geht zu ihm und fängt an, von dem Haus zu erzählen. Es ist das Helblinghaus, es stammt in seiner ursprünglich gotischen Form aus dem 15. Jahrhundert und wurde im 18. dann barock verziert.
Das 15. Jahrhundert – der Bub, es ist natürlich der kleine Klaus, Sie haben es erraten, rechnet: jetzt haben wir das 20., das bedeutet ja, dass diese Haus unvorstellbare 500 Jahre alt ist! 500 Jahre!
Und der Lehrer erzählt: ja, da haben schon Menschen darin gelebt, Menschen wie wir, die sich geliebt und gestritten haben, die Kinder bekommen haben und die gestorben sind. Klaus lauscht fasziniert, er liebt es, wenn man ihm Geschichten erzählt. Er kann sie fast vor sich sehen, diese Menschen, wie sie einkaufen gehen, wie die Kinder in die Schule gehen, wie sie miteinander reden, wie sie sich Sorgen machen.
Und in diesem Moment passiert es, während der Lehrer ihm erzählt, während die Bilder in seinem Kopf entstehen: ein Virus befällt ihn, ein Virus, der ihn nie wieder loslassen wird. Dieser Virus heißt „Geschichte“. Nie wieder wird er aufhören, sich damit zu beschäftigen, dass Menschen, Völker, Länder eine Geschichte haben – und dass sie aus dieser Geschichte heraus erklärt und verstanden werden können, und mehr noch, dass sie sich selbst daraus verstehen können.
Der Lehrer war ein kluger und einfühlsamer Mann, er hat mit meiner Mutter gesprochen und ihr ein, zwei Bücher über die Geschichte Innsbrucks empfohlen, und sie hat sie mir zu meinem Geburtstag kurz darauf geschenkt. Damit war ich der Geschichte – und den Geschichten, die Menschen über sie und die sie über die Menschen erzählt – unrettbar verfallen.
Wir Menschen sind Beziehungswesen; die Struktur unseres Gehirns entwickelt sich zu ihrem unvorstellbar komplexen Geflecht von neuronalen Netzwerken durch die Erfahrungen, die wir in Beziehungen zu anderen Menschen machen. Wir ziehen aus diesen Erfahrungen unsere Schlussfolgerungen über uns selbst und die Welt, wir strukturieren künftige Beziehungserfahrungen nach den Mustern der bisherigen. Wir konstruieren sie, um manche Erfahrungen wieder herzustellen, um sie zu wiederholen, und wir konstruieren sie, um andere Erfahrungen zu vermeiden. So entwickeln wir – kompliziert, beharrlich, unermüdlich, jeden Tag aufs Neue – das, was wir in der Transaktionsanalyse ‚Skripts’ nennen: Konzepte, nach denen unser Leben abläuft, eher unbewusst als bewusst. Wir schreiben die Geschichte unseres Lebens. Das Herzstück transaktionsanalytischer Arbeit, in Psychotherapie, in Beratung, im Coaching und natürlich in der pädagogischen Arbeit, besteht darin, die Skripts von Menschen aufzudröseln, ihnen zu helfen, sie zu verändern und konstruktiv zu gestalten. Mit anderen Worten: ihre Geschichte zu verändern, sich ihrer Vergangenheit bewusst zu werden und ihre Gegenwart und ihre Zukunft anders zu gestalten.
Ich möchte Ihnen eine zweite Geschichte erzählen, sie handelt von einer Frau in mittleren Jahren, die vor einiger Zeit zu mir in die Praxis zur Psychotherapie kam. Geben wir ihr den Namen Maria.
Maria leidet an starken panikartigen Ängsten. Sie hat einen verantwortungsvollen Beruf im öffentlichen Dienst, in ihrer Behörde ist sie die einzige Frau und bewegt sich vorwiegend in einer Männerwelt. Sie ist erfolgreich und beliebt – und trotzdem wird ihre Angst, etwas falsch zu machen, zu versagen immer größer. Sie wacht in der Nacht auf, mit einem schweren Druck auf der Brust, und kann nicht mehr einschlafen. Sie wälzt sich in ihrem Bett hin und her, und ihre Gedanken wälzen sich mit.
Ich bitte sie, mir diese wälzenden Gedanken zu erzählen.
Habe ich etwas falsch gemacht? Habe ich den Bescheid wirklich noch einmal überprüft, bevor er hinausgegangen ist? Habe ich den Auftrag meines Vorgesetzten wirklich richtig verstanden? Und die Besprechung morgen Vormittag – weiß ich, was ich da für einen Standpunkt vertrete?
An diesem Punkt hake ich ein und wiederhole ihren Satz; er kommt mir – ohne dass ich genau sagen kann, warum – bedeutungsvoll vor:
Th: Und die Besprechung morgen – weiß ich, was ich da für einen Standpunkt vertreten werde...
M: Eigentlich nicht Standpunkt, der ist klar, da gibt es einschlägige Bestimmungen. Weiß ich, was ich sagen werde? Weiß ich, wie ich es sagen werde? Werde ich nichts Falsches sagen...
Th: Werden Sie etwas Falsches sagen?
M: Eigentlich nicht, das sagt mein Verstand. Das ist noch nie vorgekommen, dazu bin ich viel zu gut vorbereitet. Nein, das ist noch nie vorgekommen.
Noch nie vorgekommen? Woher mag ihre verzweifelte Angst dann herrühren? Gut vorbereitet und dennoch das Falsche sagen – wenn ein Mensch im Leben noch nie so eine Erfahrung gemacht hätte, würde er aller Wahrscheinlichkeit nach nicht befürchten, dass sie eintritt. Aber es scheint außerhalb ihres Bewusstseins zu liegen.
M: Ich habe schon mein Gedächtnis durchforstet – das weiß man doch, dass so etwas meistens aus der Kindheit herrührt. Ich hab mich schon gefragt, ob meine Eltern schuld daran sind, aber da finde ich nichts. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie mir das Gefühl gegeben hätte, ich würde etwas falsch machen. Nicht, dass ich eine perfekte Kindheit gehabt hätte, aber ich habe schon immer das Gefühl gehabt, meine Eltern lieben mich. Aber vielleicht finden Sie ja etwas, das ich noch nicht weiß?
Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten: entweder Maria will etwas nicht wahrhaben (oft erzählen die Menschen mit unvorstellbar schrecklichen familiären Erfahrungen ‚ich hatte eine wunderbare Kindheit’) – oder ihre Erfahrungen haben an der Stelle mit ihren Eltern nichts zu tun.
Vor 20 oder 25 Jahren wäre ich wahrscheinlich der ersten Hypothese nachgegangen. Zu übermächtig hatte sich uns TransaktionsanalytikerInnenn damals ein Lehrsatz eingeprägt, den ich von Bob Goulding, einem der ‚Gründerväter’ der TA, selbst gehört hatte:
„Scripts always originate from your family. First, second, third look for mom and dad.“
Alle Diagramme, die das Eltern-Ich in eine Strukturanalyse zweiter oder gar dritter Ordnung aufschlüsseln, die sich mit Introjektion, also der Verinnerlichung elterlicher Figuren beschäftigen, die verschiedenen Skript-Matrices, sie alle sprechen immer von ‚Mutter’ und ‚Vater’. Und heißt es nicht schließlich schon seit Eric Berne ‚parent ego state’ – ‚Eltern-Ich-Zustand’? Und Eltern sind schließlich ‚Mutter’ und ‚Vater’!
Ja, Skript beginnt in der Herkunftsfamilie, zweifellos. Aber was ist mit anderen einflussreichen Menschen? Großeltern? Älteren Geschwistern? Der freundlichen (oder unfreundlichen) älteren Nachbarin?
Oder...
Sie merken schon, warum ich Sie vor meinem Geschichtenerzählen gewarnt habe: die Geschichten verflechten sich ineinander, und ich spanne Sie auf die Folter, wie es mit ihnen weitergeht. Denn in meiner Leidenschaft für Geschichte und Geschichten ist natürlich auch die Geschichte der TA eines meiner Lieblingsthemen.
Also, zurück zu Marias Geschichte.
Wieder greife ich ihre Worte auf. Und ich beginne, ihr eine Geschichte zu erzählen.
Th: Das ist noch nie vorgekommen, haben Sie gesagt. Und doch, wenn ich Ihnen so zuhöre, dann kommt mir ein Bild – aber vielleicht hat das gar nichts mit Ihnen zu tun – ein Bild von einem Mädchen von vielleicht 7 oder 8 oder 9 Jahren, einem Mädchen mit Zöpfen, einem Schulmädchen. Aber vielleicht hat das gar nichts mit Ihnen zu tun, vielleicht haben Sie gar keine Zöpfe gehabt. Einem Mädchen, das sehr gut und sehr gerne lernt und das vor allem sehr gerne liest. Und rechnet. Und wahrscheinlich auch zeichnet. Aber vielleicht ist das ja ganz ein anderes Mädchen, und Sie haben gar nicht gerne gelesen und gerechnet und gezeichnet. Aber dieses Mädchen, an das ich jetzt denke – obwohl sie gerne lernt und liest und schreibt und rechnet und zeichnet - und trotzdem – aber vielleicht täusche ich mich da – geht sie nicht gerne in die Schule...
M (laut): Nein! Gar nicht gerne!
Th: Weil?
M: Weil es da die blöde Lehrerin gibt! Nie hat sie mich dran genommen, wenn ich aufgezeigt hab, und ich hab oft aufgezeigt, weil ich fast alles gewusst hab! Maria, mach dich nicht so wichtig, hat sie gesagt, alles weißt du auch nicht! Wir werden schon sehen, was du alles nicht weißt! Und immer dann, wenn ich nicht aufgezeigt hab – weil ich es nicht gewusst hab – dann hat sie gesagt: und das sagt uns jetzt die Maria! Ich hab mich immer zwei, drei Stunden im Voraus vorbereitet, aber immer, immer hat sie was herausgefunden, was ich nicht gewusst hab! In der Nacht hab ich nicht mehr schlafen können vor Angst, in der Früh hab ich mich erbrochen... (sie hält inne).
Th: Sie hören, was sie da sagen, Maria?
M: Ja. Das ist es. Das ist der Schlüssel.
Zwei Geschichten, die des kleinen Klaus und die der kleinen Maria. Und beide erzählen sie, was für bedeutungsvolle Personen Lehrer und Lehrerinnen in unseren Köpfen in unserer Seele werden können.
Nicht, dass die Menschen in unserer Köpfen, in unserer Erinnerung unbedingt das Gleiche sind wie die realen PädagogInnen, mit denen wir zu tun hatten. Mein so wunderbarer einfühlsamer Lehrer, der behutsam meine Leidenschaft für Geschichte erweckt hat – gleichzeitig konnte er mit Kindern, die nicht so interessiert waren wie ich, ziemlich verächtlich umgehen. Manche Dinge, die er sagte, lassen mich vermuten, dass das Gedankengut des Dritten Reiches ziemlich ungebrochen in ihm wach war. Mich mochte er wahrscheinlich sehr ungerecht und sehr selektiv, weil ich so gerne las und weil ich schon damals ziemlich wortreich reden konnte.
Und Marias Lehrerin – wir kennen sie nicht, aber wissen wir, warum sie Maria so behandelte? Hat sie vielleicht sich selbst als nervtötendes besserwisserisches kleines Mädchen in ihr wiedergesehen? War Maria für sie die Tochter, die sie selbst nie haben durfte? Gibt es andere Frauen, ganz andere als Maria, die auch ihre Schülerinnen waren und für die sie das Vorbild war, selbst Lehrerin zu werden?
In der Psychotherapie tun wir uns oft sehr leicht – wir müssen nicht den realen Personen gerecht werden, die die Erinnerung und das Skript unserer PatientInnen bevölkern, wir müssen ihnen nur helfen, diese Erinnerungen zu integrieren und damit konstruktiv umzugehen.
Ich will Ihnen nicht Geschichten von bösen und von guten PädagogInnen erzählen, ich will Ihnen auch nicht erzählen, wie wichtig es ist, sich des Einflusses bewusst zu sein, den Sie auf die Seele und das Leben der jungen Menschen haben, mit denen Sie arbeiten. Das wissen Sie selber, dazu brauchen Sie keinen klugen Psychologen, der sich hier hinstellt und Ihnen das als die ultimative Weisheit der Transaktionsanalyse verkauft.
Ich will Ihnen noch eine Geschichte erzählen, sie handelt von einer jungen Lehrerin, Teilnehmerin an einer Supervisionsgruppe, die ich geleitet habe. Und damals – es ist schon gut 20 Jahre her – fühlte ich mich tatsächlich berufen, den Lehrern und Lehrerinnen einer Bundesanstalt für Kindergartenpädagogik von ihrer Verantwortung gegenüber den angehenden Kindergartenpädagoginnen und ihrer Mitverantwortung für die Kinder dieser angehenden Pädagoginnen zu erzählen. Davon, wieviel Beziehung und Liebe Menschen und gerade junge und kleine Menschen brauchen.
Da stieß diese Frau den Stoßseufzer aus, den ich diesem Vortrag vorangestellt habe: „Ich kann sie doch nicht alle auf einmal lieben! Und – wenn ich ehrlich bin – manche mag ich einfach nicht!“
Und ein anderer Teilnehmer stellte die kluge Frage (die eigentlich ich hätte stellen müssen): „Und welche sind das, die du nicht magst?“
„Die Braven, die Angepassten, die Streber, die gehen mir ganz fürchterlich auf die Nerven“, antwortete sie. „Am liebsten möchte ich sie schütteln und sagen: verdammt, ihr seid doch junge Mädchen, ihr sollt leben und nicht brav sein! Was werdet ihr den euren Kindern über das Leben und über das lebendig sein zeigen können, wenn ihr selber nicht lebendig seid?“
Andere in der Gruppe nickten zustimmend. Und ich stellte die Frage:
„Und Sie? Wie waren Sie als Schülerin?“
„Ich war eine verdammte Streberin! Ich hab mir eingebildet, dass ich immer lauter Einser haben müsste, obwohl das gar niemand von mir verlangt hat! Und ich hab meine ganze Kindheit und meine halbe Jugend dabei verpasst, dauernd zu lernen!“
Das ist der Punkt, um den es mir geht: wann und wo verflicht sich Ihre Geschichte, Ihr Skript, mit der Beziehung, die sie mit den jungen Menschen in Ihrem Kindergarten, in Ihrer Schule herstellen?
Was ist das, das Skript? Ich habe vorher darüber gesprochen, dass Menschen Beziehungswesen sind. Wir sind genetisch darauf programmiert, komplexe soziale Geflechte einzugehen, darauf, einander zu lieben, zu hassen, zu suchen, zu finden, zu verlieren, zu mögen, abzulehnen, miteinander zu lachen und zu weinen. Ohne diese Fähigkeit hätte die menschliche Rasse nicht überlebt, denn es ist im Grunde das Einzige, was wir besser können als Tiere. Ansonsten sind wir eher schwach und langsam, unser Gehör, unser Geruchssinn und unsere Augen sind vergleichsweise schlecht entwickelt. Aber wir haben dieses – im Vergleich zur Gesamtproportion unseres Körpers – riesige Großhirn, das uns Sprache und Denken entwickelt lässt. Wir wissen um unsere Vergangenheit, und wir planen unsere Zukunft.
Schon im Uterus setzen wir uns mit unserer Mutter in Beziehung, wir bewegen uns oder wir halten still, wir achten auf das, was sie uns signalisiert, und unser Gehirn beginnt, sich zu entwickeln. Genau gesagt heisst das, dass die Neuronen beginnen, sich zu verschalten. Wir fangen an, zu lernen, wie dieser Mensch, in dessen Leib wir leben, zu uns steht. Liebt sie mich? Lehnt sie mich ab? Bin ich ihr gleichgültig? Wenn ich mit den Beinen trete, spricht sie dann zu mir? Streichelt sie ihren Bauch? Die Hormone, die sie ausschüttet, überfluten auch mich – wenn sie Angst hat, habe ich sie auch, wenn sie glücklich ist, bin ich es auch. Ihr Lachen fühlt sich warm an, wenn sie weint, werde auch ich traurig.
Und wir fangen Stück für Stück an, zu begreifen, was es denn so auf sich hat, mit uns selbst und mit anderen Menschen. Wir werden geboren, und wir entdecken, dass wir eins nach dem anderen noch mehr Möglichkeiten haben, in Kontakt zu treten und auf Kontakt zu reagieren: wir schreien, und wir können dieses Schreien auch modulieren. Wir lernen, anders zu schreien, wenn wir Angst haben, wenn wir wütend sind, wenn wir Hunger haben, wenn wir uns einsam fühlen.
Und dann kommt der einzigartige Moment, wo wir zum ersten Mal lächeln. Wir entdecken, dass wir damit andere Menschen dazu bringen können, uns freundlich zu begegnen. Wir strecken unsere Ärmchen aus nach ihnen, wir beginnen, auf sie zu und von ihnen weg zu krabbeln und dann zu laufen. Und wir erforschen und erproben unsere Sprechwerkzeuge: zuerst lallen wir, dann formen wir erste Worte und Wortkombinationen. Zuerst sprechen wir nur nach, dann begreifen wir, dass wir uns und unsere Individualität damit zum Ausdruck bringen und anderen nahe bringen können. Und schließlich lernen wir – so zwischen dem zweiten und dem dritten Lebensjahr – die zwei alles entscheidenden Wörter: das eine heisst ‚Nein!“ und das zweite heisst „Ich!“
Und wenn wir dieses Wort zum ersten Mal aussprechen, wissen wir im Grund schon alles Wesentliche über dieses Ich. Wir kennen unser Geschlecht, wir wissen, was für ein Platz uns in dieser Welt zugedacht ist, ob wir geliebt sind oder nicht, wir haben Verhaltensweisen eingeübt, die uns im Leben helfen sollen. Genauer gesagt: wir haben in den Grundzügen ein Konzept dafür entwickelt, in Beziehung mit anderen Menschen zu treten und diesen Menschen einen Platz in unserem Leben zu geben.
Und diese Menschen werden mehr und mehr: zur Mutter ist – zumindest meistens – ein Vater dazu gekommen, Großeltern, Geschwister, Verwandte, Freunde der Eltern, dann gleichaltrige Kinder und schließlich eine Kindergärtnerin und dann eine Lehrerin, ein Lehrer. Von ihnen allen lernen wir in unglaublicher Geschwindigkeit mehr und mehr über die Welt und vor allem mehr und mehr über uns selber und unsere Beziehung zu dieser Welt, zu den Menschen in ihr und zu uns selbst.
Ach, ich wollte Ihnen doch über das Skript erzählen, und nun ist schon wieder eine Geschichte daraus geworden, eine kurze Geschichte der Entwicklungspsychologie... jedenfalls, Skript bedeutet, dass wir später, als erwachsene Menschen unsere Beziehungen immer noch nach einem Grundkonzept strukturieren, dessen Anfänge so alt sind wie wir selbst. Wir wählen nach diesem Muster Lebenspartner und –partnerinnen, Freunde und Freundinnen aus und wir erziehen unsere Kinder nach diesem Muster. Vieles an diesem Muster ist hoch funktional und hilfreich – und manches ist heute ziemlich dysfunktional (auch wenn es einmal durchaus effektiv war).
Nehmen wir als Beispiel Helene, die Lehrerin aus der Supervisiongruppe.
„Ich hab mir eingebildet, dass ich immer lauter Einser haben müsste, obwohl das gar niemand von mir verlangt hat!“ sagt sie.
Helene ist das vierte von fünf Kindern, die einzige Tochter. Ihr Vater habe sie sehr geliebt, sagt sie, als Mädchen sei sie immer etwas Besonderes gewesen. Einerseits – andererseits ist dieser Vater aber nicht nur ein unglaublicher Leistungsmensch, sondern auch ein klassischer Familienpatriarch. Sein spezielles kleines Mädchen ist schon etwas Besonderes, aber Frauen im allgemeinen sind weniger wert als Männer, da macht er kein Hehl daraus; und das insbesonders deswegen, weil sie – seiner Auffassung nach – weniger leisten könnten: körperlich, aber auch intellektuell.
Helene steigt mit ihrem Vater auf mehr Berge als alle vier Brüder gemeinsam, und sie hat bessere Noten in der Schule als sie. Zum stehenden Ausspruch in der Familie wird: wenn man bedenkt, dass sie nur ein Mädchen ist, dann ist das – der Schulerfolg, die sportliche Leistung – schon recht beachtlich. Als sie in die Pubertät kommt, beginnt sie, sich gegen den Vater aufzulehnen, wird ruppig, rebellisch, feministisch. Er reagiert darauf mit großer Gekränktheit und lässt sie sehr deutlich spüren, dass sie seine Liebe verloren hat, weil sie nicht mehr sein kleines Mädchen ist.
Helene steigt zwar nicht mehr auf Berge, aber ihre schulischen Erfolge sind unverändert, schließlich maturiert sie mit Auszeichnung (so, wie seinerzeit der Vater, der das auch anerkennt). Dafür hat sie keinerlei Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht, erst mit 20 hat sie ihren ersten Freund und ihr erstes sexuelles Erlebnis.
Das alles sprudelt in der Supervision aus ihr heraus. Dann frage ich:
S: Sie mögen also an diesen Mädchen den Spiegel nicht, den sie Ihnen vorhalten. Wie ist das für Sie, in diesen Spiegel hineinzuschauen und die junge Helene, den Teenager, darin zu sehen? Den Teenager, der sich so anstrengt und auf das Leben vergisst?
H: Ich mag sie nicht sehen! Ich mag sie nicht!
S: Das hört sich nach genau dem an, was Helenes Vater sagt... und Helene selbst? Die erwachsene Helene? Wie geht es Ihnen, wenn Sie dieses jüngere Bild von sich selbst sehen?
H: (Pause) Es macht mich traurig. So viele Jahre, die ich nicht mehr nachholen kann... ich war dann sehr umtriebig als Studentin, hab viele Männer gehabt... aber nachholen hab ich nichts mehr können...
Durch unser Skript, unser unbewusstes oder bestenfalls vorbewusstes Lebenskonzept, gestalten wir jede Art von menschlicher Beziehung. Skripts treffen aufeinander, wenn Menschen einander begegnen und Beziehungen eingehen, sie verflechten sich, bringen Neues hervor, wiederholen Altes, führen zu Bindungen und zu Trennungen, beeinflussen unser Denken, unser Fühlen und unser Handeln. Wir bestätigen in ihnen unser Ich, stellen es in Frage, erleben es durch die Beziehung gefestigt oder geschwächt. Und jede Beziehung bietet immer wieder die Chance, uns unseres Skripts bewusst zu werden und darüber hinaus zu wachsen: zu persönlicher Selbstbestimmtheit, zu Autonomie – zu den Menschen, die wir werden können.
In der pädagogischen Beziehung begegnet das Lebens- und Beziehungskonzept der Pädagogin/ des Pädagogen denen der Kinder und der Jugendlichen.
Das Skript des/r Pädagogen/in ist das ausgefeilte, verästelte Lebensmuster eines erwachsenen Menschen, mit all den darin verborgenen Abwehrmechanismen, Kompensationen, Potenzialen; das des jungen Menschen ist erst in groben Umrissen erkennbar, ist noch aufnahmefähiger, dehnbarer, ergänzbarer, im Guten wie im Schlechten.
Nein, natürlich funktioniert es nicht, die Kinder oder Jugendlichen alle zu lieben. Das ist nicht menschenmöglich, und das ist es nicht, was sie brauchen. Was sie brauchen, sind Menschen als Gegenüber, die sich mit sich selbst auseinandersetzen. Dann kann die pädagogische Beziehung zur Chance werden, selbst daran zu wachsen. Zur Chance, sich darüber bewusst zu werden, was das, was Sie als PädagogInnen in der Beziehung zu diesen jungen Menschen denken, fühlen, tun, mit Ihnen zu tun hat.
Eine Geschichte, ein ganz kurze noch zum Abschluss.
Gleich gegenüber meiner Praxis in Linz ist ein kubanisches Café, in dem ich zwischen meinen Therapiestunden oder auch danach in eine ganz andere, eine lateinamerikanische Welt eintauche. Eine Welt, in der unglaublich viel gelacht und unglaublich viel getanzt wird.
Eine der Stammgäste ist eine Kubanerin, die als Salsalehrerin arbeitet. Wenn Sie jemals Salsa zu tanzen probiert haben, wissen Sie, wie kompliziert dieser Tanz meist für uns europäische Menschen ist.
Diese Frau fragte mich, ob ich gerne Salsa lernen wolle. Ich erzählte ihr, dass ich eine – sagen wir, wechselvolle Geschichte mit Tanzkursen als Gymnasiast und auch als Erwachsener hinter mir habe, mit – sagen wir, mäßigem Resultat.
„Ich kann dir Salsa beibringen, ganz sicher!“ sagte sie. „Ich kann es jedem Menschen beibringen!“
Die Skepsis in meinem Gesicht war wahrscheinlich nicht zu übersehen.
„Ich mache das ganz einfach,“ sagte sie. „Ich zeige nicht Figuren. Ich zeige mich, und ich zeige das Leben. Denn ich liebe mich, und ich liebe das Leben, und das zeige ich den Menschen. Dann kommt die Musik, und ich sehe ihnen in die Augen. Und dann können sie tanzen.“