22. BURNOUT: PSYCHODYNAMIK UND ARBEISANSÄTZE

In: Zeitschrift für Transaktionsanalyse 4/2014 

(gemeinsam mit Henning Schulze)

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Rainer Maria Rilke:  Der Panther. Im Jardin des Plantes, Paris (Rilke 2011, S. 72)

In diesen ersten zwei Strophen des bekannten Gedichtes finde er sich genau wieder, erzählt Herr R., der zur Psychotherapie kommt, nachdem der Hausarzt bei ihm ein Burn-out-Syndrom diagnostiziert hat. So erlebe er die Welt – nichts mehr halte ihn, er sei nur mehr müde, und die Welt sei leer geworden. Er funktioniere noch, so wie der Panther, rastlos, aber ohne Hoffnung, diesen starken Willen, den er einmal gehabt habe, wieder zum Leben erwecken zu können. Von Herrn R. wird später in diesem Artikel noch aus-führlicher die Rede sein.

„Burnout-Syndrom klin. Bez. für Zustand emotionaler Erschöpfung im beruflichen Zu-sammenhang. Sympt.: Depression oder Aggressivität, erhöhtes Suchtrisiko, Kopf-schmerz u.a. Schmerzsyndrome, generalisierte Angst; reduzierte Leistungsfähigkeit u. evtl. Depersonalisation; Endzustand eines Prozesses von idealistischer Begeisterung über Desillusionierung, Apathie u. Zynismus; Gefühl, der beruflichen Aufgabe nicht mehr gewachsen zu sein.“ (Margraf/Maier 2012, S. 149)

Was ist da in einem vitalen kräftigen, idealistischen und leistungsfähigen Menschen ge-schehen, der scheinbar alle ihm genetisch innewohnende  Lebenskraft verloren hat und nur mehr in einem Käfig aus „wunschlosem Unglück“ (Peter Handke 1974) sitzt? Und wie lässt sich diese Kraft wieder finden? Kann man rechtzeitig gegensteuern? Was kann die Transaktionsanalyse mit ihren Modellen zu Diagnostik, Ätiologie und sowohl präventiver als auch behandelnder Arbeit bei Burnout beitragen?

Wir werden in diesem Artikel zeigen, dass Burnout ein komplexes psychodynamisches Geschehen zugrunde liegt, für das TA ein sehr präzises diagnostisches und arbeitstech-nisches Instrumentarium anbieten kann. Illustriert werden unsere Überlegungen dazu durch Herrn R.s Geschichte. Unseren Arbeitsansatz – im Coaching zur Prävention, in der Psychotherapie zur ambulanten Behandlung – werden wir anschließend an zwei Fallbei-spielen demonstrieren.

1. Psychodynamik
In der einschlägigen Literatur wird Burnout vorwiegend unter arbeits- und/oder sozialpsy-chologischen Aspekten dargestellt. Dementsprechend finden sich zahlreiche Beschrei-bungen der Symptomatik, die in verschiedenen Phasenmodellen resultieren (Freuden-berger/ North 2012, Maslach/Leiter 2001). Dabei bleiben diese Ansätze meist auf der Ebene der Diagnose des Verhaltens, der äußerlich sichtbaren Symptomatik. Eine Aus-nahme ist Burisch (2014), der innere und äußere Dynamik miteinander in Beziehung setzt.
Sowohl im Sinne der Behandlung als auch der Prävention erscheint uns ein Modell nütz-lich, das sich mit der zugrundeliegenden Psychodynamik beschäftigt. Die sozial- und ar-beitspsychologische Diskussion, insbesondere der moralisch-ethische Aspekt der massiv zunehmenden Ausbeutung (und Selbstausbeutung) ist gleichwertig zu führen. Die beiden Aspekte – Psychodynamik und Arbeitspsychologie – müssen einander ergänzen.
In der Beschreibung des intrapsychischen Geschehens bei Burnout sind viele Modelle der TA nützlich. Unseres Erachtens wirken dabei – sowohl in der Vorgeschichte, der sich steigernden Symptomatik als auch in der akuten Erkrankung - sechs Aspekte komplex zusammen, die sich mithilfe der folgenden TA-Konzepte verstehbar machen lassen:
- die existentielle Grundposition
- das Stroke-Muster
- die Skript-Einschärfung
- das Antreiber-System und das Miniskript
- die Skript-Matrix
- symbiotische Beziehungsmuster

1.1. Existentielle Grundposition
„Ich glaube, ich leide an einem Minderwertigkeitskomplex“ erzählt Herr R.
„Mir war das nie so bewusst, aber seit es mir so schlecht geht, denke ich viel über mich nach, und mir ist klar geworden, dass mich das schon mein ganzes Leben lang begleitet. Das würde mir niemand glauben, weil ich ja immer sehr erfolgreich war und viel Aner-kennung bekommen habe, ob in der Schule, als Junge im Fußballverein, im Studium, im Beruf.  Aber immer habe ich das Gefühl, ich kann das nicht, ich enttäusche die Erwar-tungen, die man in mich setzt.“
Der Fachterminus ‚Minderwertigkeitskomplex’ (Adler 2010) meint ursprünglich eine kon-struktive, Hindernisse überwindende Kraft. In die Alltagssprache eingegangenen ist er aber als Synonym für die Grundhaltung ‚Ich bin weniger wert als die Anderen’ – oder als das, was in der TA als Grundeinstellung ‚ich bin nicht ok – du bist ok’ bezeichnet wird (Berne 1962). Diese ‚depressive Position’ findet sich bei vielen Menschen als skriptbil-dende Grundlage. Als Fundament eines späteren Burnouts ist sie besonders ausgeprägt.

1.2. Stroke-Muster
Eric Berne sieht den ‚Hunger nach Anerkennung’ als eines von drei menschlichen Grundbedürfnissen (neben dem Hunger nach Struktur und dem nach Stimulierung) (Ber-ne 1964).
„Eine Einheit an Wiedererkennung nannte Eric Berne ‚Stroke’. Wir geben und/oder erhal-ten Strokes – und dieses englischsprachige Wort ist in seiner Doppelbedeutung unüber-setzbar. Es bedeutet sowohl ‚Streicheln’ als auch ‚Schlag’ und bringt damit zum Aus-druck, dass menschliche Zuwendung sowohl positiv als auch negativ erfolgen kann. Strokes können bedingt (für eine Leistung oder einen bestimmten Aspekt – also für das Tun) und bedingungslos (für die ganze Person, für das Sein) sein. Grundsätzlich empfeh-len wir, bei der englischen Bezeichnung zu bleiben; für die Übersetzung ins Deutsche schlagen wir für positive den Begriff ‚Wertschätzung’ (bedingt und bedingungslos) vor, für negative bedingte Strokes eignet sich wohl am ehesten der Begriff ‚Kritik’, für bedin-gungslose ‚Ablehnung’ oder ‚Zurückweisung’“ (Schulze/Sejkora 2014).

Wir Menschen entwickeln ein individuelles, uns eigenes Stroke-Muster, das darüber be-stimmt, welche Strokes wir geben und welche wir nehmen; solche, die nicht in das Mus-ter passen, werden entsprechend redefiniert.

Herr R.: „Ich frage mich manchmal, wieso Anerkennung mir so wichtig ist, sogar von meiner kleinen Tochter kann ich nicht oft genug hören, dass ich ein guter Papa bin. Sonst habe ich Angst, sie könnte mich nicht mehr lieben. Und Kritik ist für mich ganz schwierig. Diese neue Position jetzt, als Abteilungsleiter, ich muss an die zwanzig Leute entlassen. Ich schaffe das menschlich nicht, aber ich habe solche Angst, dass mein Be-reichsleiter das merkt.“

Das Stroke-Muster eines von Burnout gefährdeten oder betroffenen Menschen ist durch einen extrem hohen Bedarf an bedingt positiven Strokes gekennzeichnet; dieser Bedarf soll durch hohe Leistung gedeckt werden. Gleichzeitig werden bedingt negative Strokes (Kritik) in unbedingt negative redefiniert. Unbedingt positive werden zu bedingten umge-deutet: Zuwendung für die Person wird nicht wahrgenommen.

1.3. Skript-Einschärfung
Herr R.: „Ich hatte immer das Gefühl, dass meine Eltern gegen mich waren, besonders mein Vater. Er mochte mich nicht, manchmal hörte ich ihn Sachen sagen wie ‚Wenn der Junge nicht wäre...’, und meine Mutter nickte nur dazu.
Vor zwei Jahren ist meine Mutter gestorben, und in ihrem Nachlass fand sich ein Brief an mich. Sie informierte mich darüber, dass mein Vater nicht mein Vater ist. Er hat sie ge-heiratet, als sie schwanger war, weil die vier Großeltern schon lange beschlossen hatten, dass die beiden zusammenkommen müssten. Da ging es um die Bauernhöfe.“

Berne (1972) definiert Einschärfungen als „Verbot oder negativen Befehl von einem El-ternteil.“ Das Verbot, unter dem Burnout-Personen stehen, ist das Verbot, auf dieser Welt zu sein, zu existieren. Es heißt ‚Sei nicht!’ oder genauer ‚Existiere nicht!’  und beinhaltet damit die schärfste und vernichtendste aller Einschärfungen. Goulding/Goulding (1974) erläutern, dass Einschärfungen durch Strokes implantiert würden. Die ‚Sei nicht!’ – Ein-schärfung korrespondiert mit massiven unbedingt negativen Strokes und einer ‚Ich bin nicht ok’-Haltung zu sich selbst.

Das sind gewissermaßen die Ausgangsbedingungen, mit denen der zu diesem Zeitpunkt noch kleine Mensch (der später einmal Burnout-Probleme haben wird), in die Welt hin-ausgeht. Er (sie) hat jetzt im Prinzip zwei Möglichkeiten: die erste ist, sich diesem ver-nichtenden Druck zu beugen und als Ergänzungsposition zum ‚ich bin nicht ok’ ein ‚du bist auch nicht ok’ zu entwickeln. Aus dieser Position würde sie (er) allerdings voraus-sichtlich nicht bis zum Burnout kommen, sondern wäre vorher in einer sozialen Außen-seiterrolle oder tot.
Die zweite Möglichkeit ist, gegenzusteuern, zu kompensieren. Der kleine Walter R. ‚ent-scheidet’ sich, seinen Vater nicht abzulehnen, sondern ihn zu lieben. Er will ihn dazu be-wegen, zu einem guten, ihm zugewandten Vater zu werden.
Und so nimmt er die Grundposition ‚ich bin nicht ok – du bist ok’ ein. Das soll ihm helfen, die ‚Sei nicht!’-Einschärfung zu überwinden – indem es gelingt, den Vater dazu zu bewe-gen, ihm die Erlaubnis zu erteilen, am Leben zu sein, ok zu sein, am Leben zu sein.

1.4. Antreiber
Berne (1972) beschreibt, dass ‚Gegeneinschärfungen’ (counter injunctions) dabei helfen können, den Skripteinschärfungen (injunctions) ihre Schärfe zu nehmen.
Herr R.: „Es war schwierig, es meinem Vater recht zu machen. Er hat ja kaum gespro-chen. Aber ich kann mich erinnern, wenn ich ihm im Sägewerk geholfen und die schwe-ren Balken getragen und gehoben habe. Ganz gerade musste ich sie halten, damit er perfekt schneiden konnte. Und schnell musste es gehen, wir hatten schließlich Berge von Holz zu schneiden. Aber wenn meine Nase schon ganz voll Sägespäne war, hat er mir dann manchmal wortlos sein Taschentuch gereicht hat, das schon ganz schmutzig war. Und mit einer Kopfbewegung hat er dann gezeigt, dass es Zeit ist, weiter zu arbeiten. Irgendwie ist das eine schöne Erinnerung, auch wenn es schwere Arbeit war. Ich war ja erst sechs, sieben Jahre alt.“
Kahler (1975) modifiziert diese Sichtweise zum Konzept der Antreiber, die als Botschaft des Eltern-Ichs der Elternperson an das Kind gerichtet sind - im Unterschied zu den Ein-schärfungen, die vom Kind-Ich des Vaters/der Mutter ausgehen  . Mit einem oder mehre-ren der fünf Antreiber – sei perfekt, mach es allen recht, sei stark, streng dich an, beeil’ dich – versuchen wir, die Einschärfungen und die nicht ok- nicht ok Grundposition zu kompensieren. Im Klartext bedeutet ‚Antreiber’: ‚ich bin zwar nicht ok und sollte eigentlich nicht existieren, aber wenn ich (z.B.) alles perfekt mache, bin ich vielleicht ja doch ok und darf hier sein’.

Das Spezifikum der Burnout-Psychodynamik ist,  dass nicht ein Antreiber im Vordergrund steht, sondern drei gleichwertige beziehungsweise ähnlich stark ausgeprägte:
- sei perfekt!
- streng dich an!
- mach es allen recht!

Kahler sieht im (scheiternden) Antreiberverhalten den sich täglich erneuernden Mikro-kosmos des Skriptprozesses, das Miniskript: unter Druck, verstärkt durch Grundposition und Einschärfung,  wird Antreiberverhalten aktiviert. Das führt jedoch nicht zum Ziel:‚perfekt’ ist unerreichbar, die Anstrengung ist nie genug, allen alles recht zu machen ist unmöglich– So wird  die Nicht-ok-Position und die entsprechende Einschärfung bestä-tigt. Nach einer kurzen Phase der Auflehnung resultiert der Miniskript-Zyklus in depressi-onsähnlicher Verzweiflung.
Wir können also annehmen, dass ein Mensch mit der beschriebenen komplexen Struktur aus gleich 3 Antreibern entsprechend oft in dieses Verzweiflungsloch fällt – das er/sie dann mit gesteigertem Antreiberverhalten zu überwinden versucht. Schließlich gilt es ja, endlich die sei-nicht-Einschärfung zu überwinden und so eine Daseinsberechtigung zu erwerben.

Wir können also vier diagnostische Kriterien beschreiben, die als notwendige Bedingun-gen bei Burnout-Gefährdeten und –Betroffenen beobachtet werden können:
- Einschärfung: Sei nicht!
- Grundposition: Ich bin nicht ok – du bist ok
- Stroke-Muster: positive Strokes werden nur als bedingte wahrgenommen, an diesen besteht ein hoher Bedarf: negative Strokes werden nur als unbedingt wahrgenom-men.
- Antreiber: Sei perfekt/Streng dich an/Mach es allen recht.

Ausgehend von diesen vier Annahmen können wir die Psychodynamik im Burnout-Geschehen mit der Skript-Matrix und den symbiotischen Beziehungsmustern der Person beschreiben.

1.5. Skript-Matrix
Wir verwenden die von Woollams/ Brown (1978) vorgeschlagene Matrix, die sich von der von Berne (1972) konzipierten dadurch unterscheidet, dass alle  Botschaften der Eltern im Kind-Ich des Kindes aufgenommen werden.

       Abb. 1: Skript-Matrix nach Wollams/Brown (1978)

Wenn also Antreibersystem, Einschärfung, Grundeinstellung und Stroke-Muster aktiv sind, gehen wir davon aus, dass der betroffene Mensch Eltern- und Erwachsenen-Ich nicht ausreichend energetisieren kann. An diesem Punkt wird die bisher beschriebene intrapsychische Dynamik interpsychisch gelebt und verstärkt: andere Menschen werden gebraucht und gesucht, die diese fehlenden Ich-Zustände im Beziehungsprozess über-nehmen können. So werden Kommunikations- und Beziehungsmuster im fortschreiten-den Burnout-Geschehen zunehmend symbiotisch gestaltet.

1.6. Symbiotische Beziehungsmuster
Herr R. erzählt: „Vor einem halben Jahr wurde ich also zum Abteilungsleiter befördert, und das war eine große Ehre für mich. Von Anfang an war klar, dass meine erste große Aufgabe darin besteht, die Belegschaft um 30% zu verringern. Da ich ja aus der Abtei-lung komme, kannte ich alle und war vollkommen überfordert. Ich hatte mir das so vor-gestellt, dass ich das im Detail – wer, wann, wie – mit dem Bereichsleiter durchsprechen kann. Aber je öfter ich mit ihm reden wollte, umso mehr hat er mich abblitzen lassen bis hin zur Aussage: das ist Ihr Job. Wenn Sie das nicht können, sind Sie der falsche Mann für die Abteilungsleitung. Jetzt fühle ich mich immer verzweifelter und verwirrter, kann in der Nacht nicht mehr schlafen, gehe ständig die Namen der Mitarbeiter durch. Was sa-gen Sie – soll ich noch einmal versuchen, mit meinem Bereichsleiter zu sprechen?“

Angetriebenes Verhalten bedeutet hierbei noch nicht, dass alle Energie im Kind-Ich ist. Die konkrete und sozial erfolgreiche Fokussierung erfordert auch energetische Beset-zung von Erwachsenen- und Eltern-Ich: „Wie mache ich es, mich so überanzustrengen, dass ich meine Ziele tatsächlich erreiche. Tendenziell symbiotischen Beziehungspartnern kommt dabei die Rolle zu, durch Strokes dafür Bestätigung und Unterstützung zu liefern.
Je weniger im fortschreitenden Burnout-Geschehen Erwachsenen- und Eltern-Ich mit Energie besetzt werden können, desto stärker werden die symbiotischen Bedürfnisse und umso weniger erfolgreich funktioniert das Antreibersystem.
In den von Schiff et.al. (1975) beschriebenen passiven Verhaltensweisen (Nichtstun, Überanpassung, Agitation, Gewalt/Sich-unfähig-Machen) lässt sich diese Dynamik fol-gendermaßen beschreiben: die lange Zeit erfolgreiche Überanpassung (mach’s allen recht) führt nicht mehr zum Ziel. Sie steigert sich zuerst zur Agitation (ziel- und rastlose Versuche, das Problem ‚irgendwie’ zu lösen) und schließlich zur vollständigen Unfähig-keit (im Burnout-Vollstadium) und zur Gewalt gegen sich selbst (Alkohol, Drogen, Suizi-dalität).

2. Arbeitsansätze
Die Arbeit mit Menschen, die mit Burnout-Symptomen zu uns kommen, unterschei-den wir danach, auf welcher Stufe im Burnout wir sie wahrnehmen und wie stark sie schon in selbstschädigenden Dynamiken (sich unfähig machen, Depression, ..) ver-fangen sind.
Der Unterschied, ob wir jemanden in einem Coachingsetting annehmen oder ob wir eine Psychotherapie empfehlen, liegt in der Bewusstheit, die wir im Erstgespräch feststellen, und in der Zielsetzung, die der Betroffene äußert.
Im Coaching wird primär kognitiv gesteuert am Denken, Fühlen und Verhalten der internen Dynamiken gearbeitet.
In der Psychotherapie geht es vor allem darum, das emotionale Erleben von Denken, Fühlen und Verhalten zu bearbeiten und auch regressive Arbeit des Patienten anzu-regen.
So ist Coaching ein Setting, das etwa zur Prävention von Burnout und begleitend zum Wiedereinstieg nach einer Rehabilitationsbehandlung in das Berufsleben sinn-voll eingesetzt wird. Die Psychotherapie ist dagegen ein Behandlungssetting, das im Rahmen von stationären Reha-Behandlungen und zur Vor- und Nachbehandlung einer stationären Reha infrage kommt.

2.1. Diagnostik
2.1.1. Ist es wirklich Burnout rsp. Burnoutgefährdung?
Unserer Ansicht nach genügt zur Diagnose eines Burnout-Syndroms (oder seines Vor-stadiums) nicht die in der Praxis meist angewendete Vorgangsweise des Erfassens von Verhaltensmerkmalen, wie etwa sozialer Rückzug, Nachlassen der Leistungsfähigkeit, körperliche und seelische Beschwerden usw. Dies auch, weil gerade Burnout-betroffene Personen sehr zurückhaltend im Mitteilen entsprechender Informationen sind, die ja auf Schwäche schließen lassen könnten.
Wir wenden daher die oben erwähnten Kriterien an und erheben sie diagnostisch:
-  Grundposition ich-, du+
- Stroke-Muster: unbedingt positive Strokes werden als bedingte gefiltert, bedingt ne-gative als unbedingte
- Einschärfung: Sei nicht!
- Antreiber: Sei perfekt/Streng dich an/Mach es allen recht.
Nur beim gemeinsamen Vorliegen aller dieser vier Kriterien sprechen wir vom Vorliegen eines Burnout-Syndroms.

2.1.2. Abklärung des Stadiums im Burnout-Prozess
Wie bereits erwähnt finden sich in der Literatur mehrere Phasenmodelle in unterschiedli-cher Detailliertheit (Freudenberger/ Richelson 1982, Freudenberger/ North 2012, Maslach/Leitner 2001). Wir halten diese Modelle für begrenzt hilfreich bei der Beantwor-tung der Frage, wie weit fortgeschritten das Burnout-Geschehen ist. In der Arbeit mit Be-troffenen geht es darum, feststellen zu können, ob bereits eine krankheitswertige Störung vorliegt, die entsprechend psychotherapeutisch behandelt werden muss, oder ob es um prophylaktische Arbeit mit einem potenziell gefährdeten Menschen geht. In diesem Fall ist dann Coaching die Methode der Wahl.
Ziel ist also, einzuschätzen, an welcher Stelle der psychodynamische Prozess angelangt ist.
Wie vorher ausgeführt wird die Psychodynamik von drei Faktoren bestimmt:
- der Fähigkeit zur Energetisierung von Erwachsenen- und Eltern-Ichzustandes,
- der Intensität der symbiotischen Einladung, diese beiden Ichzustände zu substituie-ren und
- dem Grad der Passivität (Nichtstun, Überanpassung, Agitation, Selbstbeeinträchti-gung/ Gewalt).                   
Als wirksamer Indikator dafür dient die Abwertungstabelle oder Discount-Matrix (Schiff et al. 1975). „Passivität hängt eng zusammen mit dem Konzept der Abwertung: unbewusst werden Möglichkeiten zur Lösung eines Problems nicht wahrgenommen bzw. in ihrer Bedeutung für eine Lösung abgewertet“ (Glöckner et al. 2011, S.11).
Abgewertet werden können der wahrnehmbare Stimulus, der ein Problem anzeigt, das Problem selbst und die Alternativen zum Problem (Typen von Abwertungen). Die Abwer-tung selbst kann auf vier verschiedenen Ebenen erfolgen: der Existenz, der Bedeutung, der Veränderbarkeit und der persönlichen Fähigkeiten (jeweils bezogen auf den Stimu-lus, das Problem und die Veränderbarkeit).
Wir verwenden in unseren Arbeitsansätzen die ‚gedrehte Abwertungstabelle’ (Schulze (2005, 2013, 2014):
                
Abb. 2: Gedrehte Abwertungstabelle (Schulze 2005, 2013, 2014)

Zur Erläuterung zwei weitere Zitate von Herrn R.:
„Ich denke mir die ganze Zeit: das muss einfach gehen. Wie mein Vater an der Säge immer gesagt hat: Geht nicht gibt’s nicht!“
Hier wird die Existenz von Alternativen abgewertet: es gibt sie schlicht und einfach nicht. Korrespondierend auf derselben Abwertungsstufe (3) werden die Lösbarkeit des Prob-lems und die Veränderbarkeit der Stimuli missachtet.
„Mit dem ständigen Kopfschmerz und der Müdigkeit muss ich einfach leben, die merke ich schon gar nicht mehr.“
Die Existenz des Stimulus wird geleugnet; die Abwertung erfolgt auf Stufe 1.
Abwertungen bedeuten immer eine zumindest geringe Besetzung von Erwachsenen- und Eltern-Ich und dementsprechende symbiotische Bedürftigkeit. Die Höhe der Stufe ist um-gekehrt proportional zur Intensität der Abwertung: je mehr und je intensiver abgewertet wird, desto weniger schafft es der Klient, Erwachsenen-Ichzustand und Eltern-Ichzustand zu energetisieren. Umso näher ist die Person am krankheitswertigen ‚Vollstadium’ der Burnout-Erkrankung.
Als Faustregel kann gelten: Die Abwertungsstufen 6, 5 und 4 sind den Klient_innen in Coachingprozessen gut zugänglich. Die Besetzung von ER und EL kann relativ kurzfris-tig erreicht werden. Stufe 3 ist der Punkt, an dem die Psychodynamik zu eskalieren be-ginnt. Hier setzt das Kippen in das psychophysische Syndrom ein, das psychotherapeuti-sche Behandlung braucht.

2.2. Arbeitsansätze
2.1.1. Coaching
In den bisherigen Ausführungen ist deutlich geworden, dass die Arbeit mit Burnout-gefährdeten Menschen im Coachingsetting nur dann sinnvoll und zu verantworten ist, wenn die Betroffenen Bewusstheit über ihre eigene Gefährdung haben. Hierzu gehört als erstes, dass sie sich über diese Gefährdung im Klaren sind (oder werden) und somit auf der ersten Abwertungsstufe NICHT abwerten. Hierin liegt dann die Voraussetzung dafür, mit ihnen auf der zweiten Stufe in der Abwertungsmatrix daran zu arbeiten, welche Be-deutung die Gefährdung für sie und ihr Umfeld hat und welche Probleme damit in Zu-sammenhang stehen . Besteht Bewusstheit für diese Zusammenhänge, dann ist es mög-lich, auf der dritten Stufe zu arbeiten.
Im Mai 2007 kommt Herr R. (Anfang 40) – zu dem Zeitpunkt Gruppenleiter in einem gro-ßen Industrieunternehmen – auf dringende Empfehlung seines Vorgesetzten zum Coaching. Nach dessen Einschätzung sei er, Herr R., ‚möglicherweise Burnout-gefährdet’. Coach und Herr R. schließen den Arbeitsvertrag, die Burnout-Gefährdung abzuklären. Dazu sollen die Handlungs-, die Denk- und die Gefühlsebene exploriert wer-den.
Wie ist nun Herrn R.s Sichtweise zur Befürchtung seines Vorgesetzten?
R.: Ich kann mir das so nicht vorstellen. Klar, wir haben viel Arbeit, und die Leute in mei-nem Team kommen oft mit den technischen Umstellungen nicht zurecht, die wir momen-tan in der Firma haben. Nur weil ich in letzter Zeit sehr viel am Schreibtisch bin...
Coach (C.): Wie viele Stunden arbeiten Sie denn zurzeit pro Woche?
R.: So 60, 70 werden es schon sein, manchmal mehr. Das ist halt notwendig, das geht auch wieder vorbei. Wenn ich meine Arbeit machen soll, dann mache ich sie auch zu 150%. Aber mehr Sorgen macht mir die Einschätzung meines Chefs – was heißt denn das, Burnout-gefährdet? Glaubt er, ich mache meinen Job nicht gut? Will er mich loswer-den? Das wäre existentiell eine Katastrophe, wir haben gerade eine kleine Tochter be-kommen!

In diesen wenigen Transaktionen der ersten Sitzung finden sich bereits deutliche diag-nostische Hinweise, die die Vermutung von Herrn R.s Chef bestätigen:
Ein konstruktiv gemeinter bedingter negativer Stroke („Sie arbeiten zu viel!“) wird zu ei-nem unbedingt negativen redefiniert („Er will mich loswerden!“).
Alle drei maßgeblichen Antreiber sind hörbar:
- Sei perfekt!: „Ich mache meine Arbeit zu 150%!“
- Streng dich an!: „60, 70 Stunden, das ist halt notwendig.“
- Mach es allen recht!: „Mehr Sorgen macht mir die Einschätzung des Chefs!“
Ein Charakteristikum des Burnout-Prozesses ist, dass Betroffene ihre Gefährdung nicht wahrhaben wollen (weil das nicht kompatibel mit ihrem Antreibersystem wäre). Daher sind (anfängliche) Abwertungen auf den Ebenen 1, 2 und 3 nicht ungewöhnlich. Diagnos-tisch relevant für die Sinnhaftigkeit eines Coachingprozesses ist, wie sehr diese Abwer-tungen dem Erwachsenen-Ichzustand und damit der Bewusstheitzugänglich sind.

C.: Wie lange arbeiten Sie schon 60 bis 70 Stunden in der Woche?
R.: Ich kann mich nicht erinnern, dass es jemals weniger waren, manchmal auch mehr.
C.: Sie meinen, seit Sie in dem Unternehmen sind?
R.: Kann man so sagen. Also seit 14 Jahren.
C.: Seit 14 Jahren arbeiten Sie 60 bis 70 Stunden die Woche, manchmal auch mehr.
R.: Ganz schön viel, wenn man das so sieht.
C.: Und wie geht’s Ihnen, wenn Sie das so sehen?
R.: Nicht so gut. Ich frage mich, wie lange ich das rein körperlich noch durchhalte, ich werde ja auch nicht jünger. Irgendwann gehört man dann zum alten Eisen.
C.: Gibt es noch andere Ebenen außer der körperlichen?
R.: Die Familie. Meine Frau sagt ja ständig, dass ich mehr zu Hause sein muss, sie schafft das mit dem Kind einfach nicht allein.
C.: Sie fragen sich, wie lange Sie das noch durchhalten. Sie sehen mögliche Auswirkun-gen auf die Familie. Wie fühlt sich das an?
R.: Beunruhigend.
C.: Angst?
R.: Könnte man so sagen.
C.: Angst wovor?
R.: Wenn sie mich so direkt fragen: Angst, meinen Job zu verlieren. Angst, dass meine Ehe den Bach runtergehen könnte. Angst, krank zu werden.
C.: Gibt’s da Lösungsmöglichkeiten?
R.: Am liebsten würde ich sagen: eine Jobgarantie von meinem Chef, eine Zusicherung von meiner Frau, dass sie bei mir bleibt, eine ärztliche Bestätigung, dass ich kerngesund bin. Aber das wird nicht das sein, was Sie hören wollen.
C.: Was immer ich hören will – was denken denn Sie?
R.: Dass ich da wohl selber was ändern werde müssen. Oder zumindest in die Wege lei-ten.

Herr R. ist sehr rasch von der Stufe 1 der Abwertungsmatrix zur 4. Stufe fortgeschritten: er kann seine persönlichen Fähigkeiten zur Veränderung eines grundsätzlich lösbaren Problems sehen, es gibt für ihn Alternativen. Damit ist ein Coachingprozess die Methode der Wahl, dessen Kennzeichen darin besteht, dass primär auf der kognitiven Ebene das Denken, Fühlen und Verhalten des Klienten bearbeitet wird. Der Vertrag ist erfüllt – Herr R. sieht sich selbst als Burnout-gefährdet.
Für die weiteren 4 Sitzungen wird dann ein neuer Vertrag geschlossen: das Erarbeiten und Umsetzen von Änderungsoptionen auf der organisationalen und der persönlichen Ebene. Im Weiteren erreicht Herr R. die Einstellung eines zusätzlichen Experten für die technische Umstellung, sodass er für seine Führungsaufgaben freigespielt wird.

2.1.2. Psychotherapie

Sechs Jahre später – 2013 – nimmt Herr R. wieder Kontakt mit seinem Coach auf. Er sei mittlerweile zum Abteilungsleiter aufgestiegen und leide seit etwa einem halben Jahr an schweren Schlafstörungen, Panikattacken und quälenden Selbstzweifeln. Zurzeit sei er auf unbestimmte Zeit im Krankenstand. Erschwerend komme noch dazu, dass seine Partnerin sich von ihm getrennt habe und die Beziehung zu seiner mittlerweile siebenjäh-rigen Tochter ‚problematisch’ sei.
Herr R. (am Telefon): Ich fürchte, ich bin mittlerweile voll drin im Burnout.
Aufgrund der Intensität der Symptome empfiehlt der Coach den Beginn einer Psychothe-rapie. Indikator dafür ist das nach der Beschreibung vorliegende voll ausgebildete Burn-out-Syndrom (der Punkt, an dem von ‚Gefährdung’ die Rede sein kann, ist lange über-schritten).
Im psychotherapeutischen Erstgespräch geht es zuallererst um die Frage, ob ambulante Behandlung ausreichend oder die Notwendigkeit eines stationären Aufenthaltes in einer Rehabilitationseinrichtung angezeigt ist. Hauptindikator dafür ist, ob Erwachsenen- und Eltern-Ichzustand noch so weit besetzt werden, dass Herr R. ausreichend Schutz und Verantwortung für sich selbst übernehmen kann. Mit anderen Worten: es geht um die Einschätzung, wie hoch die Suizidgefährdung ist.
Nach einem abklärenden Erstgespräch ist Herr R. bereit, sich zu einer stationären Be-handlung anzumelden. Ausschlaggebend dafür ist von ihm die eingangs des Artikels zi-tierte Metapher von Rilkes Panther: „Ich bin mir mittlerweile sicher, dass ich alleine aus dem Käfig nicht mehr herauskomme.“
Der (erste) Behandlungsvertrag besteht darin, sich in der Psychotherapie auf die Reha vorzubereiten, Stabilisierung seines emotionalen und sozialen Zustands zu erreichen und die lebensgeschichtlichen Parameter seines „Käfigs“ zu explorieren. Dazu wird mit drei-mal pro Woche eine hohe Frequenz an Sitzungen vereinbart, um die entsprechende Un-terstützung zu sichern.
Die Metapher des Käfigs eignet sich hervorragend, die Sei-nicht-Einschärfung, die exis-tentielle Grundposition, das Stroke-Muster und die Antreiber herauszuarbeiten.
Th.: Dieser Käfig – wie lange gehen Sie denn schon darin im Kreis?
R.: Wenn Sie mich das vor ein paar Wochen gefragt hätten, hätte ich gesagt, seit ich Ab-teilungsleiter bin. Dann ist mir klar geworden, dass es schon begonnen hat, als ich in die Firma eingetreten bin. Aber immer mehr wird mir klar, dass ich da mehr oder weniger mein ganzes Leben drin bin.
Th.: Wer hat denn den Panther eingefangen und eingesperrt?
R.: Er war niemals frei. Er ist im Käfig geboren worden. Und die Stäbe sind immer fester geschmiedet worden.
Th.: Wer hat daran geschmiedet?
R.: Mein Vater, in erster Linie. Wie gesagt, ich bin ja erst vor einigen Jahren draufge-kommen, dass er nicht mein leiblicher Vater ist. Das wird der Grund sein, dass er mich zu seinem Arbeitssklaven degradiert hat.

Die psychotherapeutische Arbeit mit Bildern, Geschichten und Metaphern folgt dem Kon-zept der transaktionsanalytischen narrativen Imagination (Sejkora 2010, 2011). Sie dient einerseits einer subtilen Dissoziierung von der tiefen emotionellen Betroffenheit, anderer-seits der Stimulierung unbewusster Prozesse. Entsprechend dem Vertrag (Exploration) wird in diesem Stadium der Therapie (noch) nicht intensiv auf der Gefühlsebene gearbei-tet; dazu ist Herr R. nicht stabil genug. Obwohl er nicht unmittelbar suizidal erscheint, ist die mit dem Burnout eingehende entsprechende Gefährdung zu berücksichtigen. Weitere Zitate zu den Therapiesitzungen vor der Reha (insgesamt 12 in 4 Wochen) finden sich oben im ersten Teil dieses Artikels.
Anschließend unterzieht sich Herr R. einer achtwöchigen stationären Behandlung in ei-ner auf Burnout-Erkrankungen spezialisierten Rehabilitationseinrichtung mit Gruppen- und Einzelgesprächen, Musik-, Kunst- und Bewegungstherapie.
Wie vereinbart kommt er danach wieder zurück in die ambulante Psychotherapie.
R.: Es hat mir unglaublich gut getan. Ich habe gesehen, dass es so vielen Menschen so geht wie mir. Die Vorarbeit, die wir geleistet haben, war sehr wichtig, ich habe da gleich unmittelbar einsteigen können. Es ist so viel aufgebrochen in mir – und dadurch sind die Gitterstäbe im Käfig aufgebrochen. Mit ist klar geworden, wie sehr ich meine Tochter lie-be, und dass sie jetzt die absolute Priorität in meinem Leben hat. Keine Arbeit kann so wichtig sein – sonst geht es ihr ja mit mir nicht anders als mir mit meinem Vater.

Und später, nach ausführlichen Schilderungen der Behandlung:

R.: Aber ich gebe mich nicht der Illusion hin, dass das jetzt alles erledigt ist. Zwei Dinge sind zu tun: ich werde die Situation in der Firma klären, und ich muss mein Leben aufar-beiten. Wie gesagt, das ist ja erst aufgebrochen, und ich kann einigermaßen damit um-gehen, aber es gibt so vieles, was mich bedrückt und was ich mit Ihnen besprechen will. Sonst gehen die Gitterstäbe wieder zu. Und für diese beiden Dinge brauche ich Ihre Hil-fe.
Dementsprechend lautet der Vertrag für die psychotherapeutische Nachbehandlung: Klä-rung und Lösung der Burnout-gefährdenden Situation in der Firma und Veränderung der einschränkenden Skriptdeterminanten.
Das Thema, dass Herrn R. am meisten unter den Nägeln brennt, ist die Veränderung seiner Situation in der Firma.
R.: Nächste Woche geht’s dann wieder los mit der Arbeit. Ich glaube, die einzige Mög-lichkeit ist, dass ich die Abteilungsleitung zurücklege. Sonst bin ich sofort wieder im alten Schema drin: rechtmachen, anstrengen, perfekt sein müssen.
Th: Mit diesem Schema haben Sie nicht erst mit der Übernahme der Abteilung begon-nen. Die Gitterstäbe waren schon vorher da.
R. (nachdenklich): Stimmt... aber als Abteilungsleiter muss ich entscheiden, wer entlas-sen wird. Das hat mich ins Burnout gebracht.
Th.: An Burnout sind Sie nach einem jahrelangen Prozess hinter Ihren Gitterstäben er-krankt. Was gibt es für Möglichkeiten, mit dieser für Sie zu großen Verantwortung umzu-gehen?
R.: Ja, sie ist zu groß, das gestehe ich mir jetzt zu. Also muss ich sie zurücklegen.
Th.: Müssen Sie die Verantwortung, über die Entlassungen zu entscheiden, tatsächlich übernehmen?
R.: Ich will die Leute ja gar nicht entlassen. Das hat der Vorstand entschieden, und der Bereichsleiter hat es an mich weitergegeben. Genau gesagt: dass entlassen wird, ist Fakt. Ich soll sagen, wer. Aber wieso eigentlich ich? Ich habe ja genug damit zu tun, dann mit weniger Mitarbeitern die gleiche Arbeit zu tun – oder immer mehr.
Th.: Das heißt?
R.: Ich könnte es dem Bereichsleiter zurückgeben. 
Th.: Sie könnten die an Sie delegierte Aufgabe rückdelegieren.
R.: Und erst wenn er das nicht annimmt, gebe ich die Abteilungsleitung ab.
Th.: Eine wichtige Alternative. Wie sieht es jetzt mit den Gitterstäben aus?
R.: Die sind nicht da. Ich kann mich bewegen.

Herr R. wertet nicht mehr ab: er ist fähig, das Problem zu lösen, sieht tragfähige Alterna-tiven (Ebene 5 der Abwertungsmatrix) und nimmt seine persönliche Fähigkeit, anders zu handeln (Ebene 6), deutlich wahr.
Insgesamt bleibt Herr R. noch eineinhalb Jahre in psychotherapeutischer Behandlung. Dabei geht es einerseits um die Stabilisierung seiner sozialen Situation (v.a. die Bezie-hung zu seiner Tochter und eine beginnende neue Beziehung), andererseits um seine traumatische Lebensgeschichte und dem Skript, das er entwickelt hat.
„Das Herzstück transaktionsanalytischer Arbeit (...) besteht darin, die Skripts von Men-schen aufzudröseln, ihnen zu helfen, sie zu verändern und konstruktiv zu gestalten. Mit anderen Worten: (...) sich ihrer Vergangenheit bewusst zu werden und ihre Gegenwart und ihre Zukunft anders zu gestalten“ (Sejkora 2012).

Wie oben erwähnt, geht es dabei um emotionales Erleben und regressive Arbeit. Eine ausführliche Beschreibung der Psychotherapie von Herrn R. würde deutlich über den Rahmen dieses Artikels hinausgehen. Daher soll hier exemplarisch nur ein kurzer Ab-schnitt aus der 31. Stunde dargestellt werden.
R.: Wir haben so viel an meinem Vater – eigentlich meinem Stiefvater – gearbeitet. Aber in den letzten Wochen denke ich immer mehr über die Rolle nach, die meine Mutter in der ganzen Geschichte gespielt. Immer wieder lese ich diesen Brief in ihrer unbeholfenen Schrift, über dem steht: Nach meinem Tode zu lesen. Mein lieber Sohn, steht da, ich will mein Geheimnis nicht ins Grab mitnehmen. Dein Vater ist nicht dein Vater, in Wirklichkeit ist es ist der Onkel Franz. Heinrich – das ist der Stiefvater, also der, den ich immer für meinen Vater gehalten habe – hat es gewusst, aber wir haben es dir nie gesagt. Wir ha-ben geglaubt, es ist besser für dich. Und ich glaube, dass Heinrich sich ja immer bemüht hat, dir ein guter Vater zu sein. (er stockt, seine Stimme ist zittrig)
Th.: Was fühlen Sie, wenn Sie diesen eigenartigen Brief zitieren?
R.: Ich bin so traurig. Ein guter Vater! Wie konnte sie nur die Augen vor all seiner Grau-samkeit verschließen? Warum hat sie mir das verschwiegen? Ich hätte wenigstens ver-standen, warum er so war, wie er war!
Th.: Weil Sie nicht sein leibliches Kind waren?
R.: Weil seine Frau ihn betrogen hat. Und weil ich dabei entstanden bin.
Th.: Das ist ein Grund, ein Kind so grausam zu behandeln?
R. (schweigt lange): So habe ich es mir seither erklärt, seit ich den Brief gelesen habe. Wissen Sie, ich will nicht zornig auf meine Mutter sein. Sie ist ja tot.
Th.: Einerseits kann ich das verstehen, Herr R. Andererseits waren Sie ja in jedem Fall ihr leibliches Kind. Und sie hat sie nicht geschützt vor dem grausamen Heinrich.
R.: Sie hat ja selbst Angst vor ihm gehabt. Sie hat sich doch genauso bemüht, es ihm recht zu machen. Sie hatte ja einen Fehltritt gut zu machen.
Th.: Ihre Mutter hat sie nicht geschützt – aber sie schützen Ihre Mutter. Sogar über den Tod hinaus.
R.: Das habe ich. Ich bin sogar dazwischen gegangen, wenn er sie schlagen wollte.
Th.: Was für ein tapferer Junge Sie waren!
R.: Ja, das war ich.
Th.: Merken Sie die Tränen in Ihren Augen?
R.: Ja. Ich bin so traurig um diesen kleinen Jungen. Er war so einsam.
Th.: War?
R.: Ja, heute kann ich sagen: war. Bis vor kurzem hätte ich gesagt: ist es immer noch, das ganze Leben. Heute bin ich glücklich mit meiner Tochter, und ich weiß, ich mache es mit ihr besser, als es mit mir gemacht worden ist. Sie ist für mich der wichtigste Mensch in meinem Leben. Und dann komme ich selbst. Seit ich mich selbst habe, fühle ich mich nicht mehr alleine. So lange war ich ein Fremder für mich, so wie ich ein Fremder für meine Mutter und meinen Vater war. Aber seit ich mich kennen gelernt habe, weiß ich, dass ich ein Mensch bin, der es verdient, geliebt zu werden.

3.  Ausblick
Die Arbeit mit und an dem Burnout-Syndrom in und um Organisationen herum muss so-wohl den psychodynamischen als auch den arbeits- und sozialpsychologischen Ge-sichtspunkt sowie das zugrundeliegende Wertesystem berücksichtigen. Singulär ausge-richtete Arbeit greift zu kurz. Ohne Veränderung der Bedingungen im System werden Persönlichkeitsveränderungen entweder nicht nachhaltig sein oder zum Ausschluss des Menschen aus dem System führen. Ohne Veränderung der persönlichen Psychodynamik werden Anstöße zur Veränderung des Systems weiterhin aus dem beschriebenen skript-gebundenen Kontext erfolgen und mit hoher Wahrscheinlichkeit ohne Folgen bleiben.

Abstract
Diagnostic criteria for the process of burn out are described in TA terms. These are:
• Injunction: don’t be!
• Life position: I am not okay – you are ok
• Stroke pattern: high need of conditional positive strokes; conditional negative strokes redefined as unconditional negative ones; unconditional positive strokes re-defined as conditional positive ones
• Three equally important drivers: please me/ try hard/ be perfect
According psychodynamic patterns are explained as:
• lack of ability to energize Parent and Adult Ego State sufficiently
• search for symbiotic substitution of these Ego States
Treatment strategies for coaching and supervision using the Rotated Discount Matrix are described, illustrated by a case example. The need for a bilateral approach including changes within personal psychodynamics as well as changes of systemic conditions is mentioned.

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