23 TRANSAKTIONSANALYTISCHE PAARTHERAPIE: WERDEN WIR BLEIBEN? JA, WIR WERDEN UNS VERÄNDERN

Workshop auf der Paartagung 2014 des VPA 
Wien, Oktober 2014

Woke up this morning my house was cold
Checked out the furnace she wasn't burnin'
Went out and hopped in my old Ford
Hit the engine but she ain't turnin'
We've given each other some hard lessons lately
But we ain't learnin'
We're the same sad story that's a fact
One step up and two steps back
(...)
It's the same thing night on night
Who's wrong baby who's right
Another fight and I slam the door on
Another battle in our dirty little war
When I look at myself I don't see
The man I wanted to be
Somewhere along the line I slipped off track
I'm caught movin' one step up and two steps back
(Bruce Springsteen, One Step Up)

Heute morgen aufgewacht, das Haus war kalt
Kein Feuer mehr im Ofen
Raus aus dem Haus, in meinen alten Ford
Doch der Motor springt nicht an
Harte Lehren, das, in letzter Zeit
Doch wir lernen nichts daraus
Gleiche Geschichte, Tag für Tag:
Ein Schritt vor und zwei zurück
(...)
Jede Nacht das gleiche Spiel:
Wer ist im Recht, wer ist es nicht
Noch ein Kampf in unserm miesen Krieg
Noch ein Gefecht, und ich knall’ die Tür
Wenn ich mich so anseh, keine Ahnung mehr
Wo der Mann ist, der ich so gerne wär
Irgendwo vom Weg gerutscht
Und ich steck fest – ein Schritt vor und zwei zurück.

Hans und Marlene sind seit fast 30 Jahren ein Paar, verheiratet sind sie seit 28 Jahren. Viel haben sie erlebt in dieser Zeit, drei Kinder großgezogen, beruflichen Aufstieg und Niedergang, Krankheiten, Seitensprünge, Affären, Außenbeziehungen, Verletzungen und Entschuldigungen, Verzeihen und Unverzeihlichkeit. ‚Krieg und Frieden’, so meint Hans, könnte man ihre Geschichte nennen, und sie wäre wohl ebenso umfangreich wie Tolstois berühmter Roman.
Marlene sagt bei unserem Erstgespräch: „So kann es nicht weitergehen!“ Und Hans antwortet prompt: „Ja, aber wie dann? Wir haben schon alles probiert – aber wir kommen nicht auseinander, und wir kommen nicht zusammen.“ Ein Schritt vorwärts, zwei zurück, und keiner von beiden ist der Mensch, der er oder sie sein möchte. Sie stecken fest. Irgendwo unterwegs sind sie vom Weg abgekommen.

Menschen, die Rat in schweren Beziehungskrisen suchen, befinden sich sehr häufig (ob sie es wahrhaben wollen oder nicht) in einer Situation der Entscheidungsunfähigkeit zwischen Trennung und einem Neubeginn der Partnerschaft. Dieser Zustand zieht sich oft über Jahre, manchmal Jahrzehnte dahin und führt zu einer Beeinträchtigung des gesamten Lebens, auch zu einer Traumatisierung betroffener Kinder. Spätere Bindungsschwierigkeiten von erwachsen gewordenen Kindern aus schwierigen Partnerschaften resultieren meiner Erfahrung nach überwiegend nicht aus Trennungssituationen, sondern aus der Unfähigkeit der Eltern, eine klare Entscheidung zu treffen.

Es gibt eine Unzahl von Ratgebern für Paare in der Krise (über 1.000.000 Google-Einträge unter ‚Paar – Krise – Buch’, davon natürlich zahlreiche Mehrfachnennungen). Die überwältigende Mehrzahl davon beschäftigt sich damit, wie die Beziehung zu retten sei (‚Was glückliche Paare richtig machen’, ‚Was die Liebe stark macht’, ‚Wie Partnerschaft gelingt’, ‚12 Schritte zu einer starken Partnerschaft u.v.m.). Und die meisten anderen Veröffentlichungen wollen helfen, Scheidung oder Trennung zu bewältigen.

Weder an der einen noch an der anderen Stelle aber sind Marlene und Hans angelangt (ebenso wie fast alle anderen Paare, die meine Hilfe suchen). Sie können keine Entscheidung treffen. Als sie ein Paar wurden, haben sie geglaubt, sie würden da bleiben, wo sie waren: in einer Welt der Liebe und des Glücks. Doch sie haben sich verändert. Das Leben hat sie verändert. Am liebsten würden sie dorthin zurückkehren, wo sie waren. An einer Stelle in der Therapie sagt Hans:
„Warum bist du nicht mehr das bezaubernde junge Mädchen, in das ich mich damals so verliebt habe?“
Und Marlenes Antwort ist trocken und präzise:
„Weil ich 49 bin.“

Jetzt sind sie an einem toten Punkt angelangt: ein Schritt vorwärts, zwei zurück. Sie können sich nicht mehr weiter entwickeln, nicht als Paar und auch nicht als Einzelpersonen.

Hier ist der Punkt, an dem ich mit meinem Angebot zur Paartherapie einsteige: der Zielvorschlag, den ich den meisten Paaren mache, ist, zu einer gemeinsamen Entscheidung über die Frage ‚Neubeginn’ oder ‚Trennung’ zu kommen. In der Sprache der Transaktionsanalyse nennt man das einen ‚Vertrag’ – ein zentrales Axiom der TA, deren oberstes Ziel es ist, Menschen auf dem Weg zur persönlichen Autonomie zu helfen.

Aber was ist das überhaupt, Transaktionsanalyse? Und wie setze ich sie in der Arbeit mit Paaren ein?

Die Transaktionsanalyse – entwickelt in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts von Eric Berne und seinen Schülern – ist
- ein Persönlichkeitskonzept, mit dessen Hilfe innere Prozesse und lebensgeschichtliche Entwicklungen verständlich gemacht werden können;
- ein Kommunikationskonzept, auf dessen Basis wir die Möglichkeit haben, die Art und Weise zwischenmenschlicher Interaktion zu beschreiben und zu erklären;
- ein Therapiekonzept zur Behandlung psychischer Erkrankungen;
- und ein Beratungskonzept zur Förderung individuellen und  sozialen Wachstums.
TA ist ein integratives Theoriegebäude. Sie kombiniert Klarheit und Verständnis verhaltenstheoretischer Konzepte mit tiefenpsychologischen Denkweisen im Rahmen der Werte humanistischer Psychologien und Psychotherapien. Die Entwicklung des Individuums wird in ihrer Bezogenheit auf Partner, Familie, soziale  Gruppen, berufliche und gesellschaftliche Zusammenhänge (im Rahmen der Analyse sozialer Systeme) verstanden. Die TA verbindet das Denken mit dem emotionalen Erleben und dem Verhalten in sozialen Zusammenhängen.

Im Fokus meiner transaktionsanalytischen Arbeit mit Paaren steht die gemeinsame Verantwortung für die Prozesse in der Beziehung, für die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft statt Schuld zuzuweisen (und/oder, alternativ, zu übernehmen). Nicht der eine oder andere Mensch steht im Vordergrund, sondern das Beziehungsgeschehen und seine Entwirrung. Es geht nicht nur darum, Autonomie für zwei Einzelpersonen anzustreben. Es geht um mehr: um die gemeinsame Autonomie des Paares, seine gegenwärtige Situation zu lösen und die Zukunft im Einvernehmen zu gestalten, in welche Richtung sie sich auch entwickeln wird. Die Strategie dabei ist es, Schritt für Schritt ‚common ground’ zwischen den Beiden herzustellen, die Gemeinsamkeiten zu finden, die es (immer noch) gibt und neue herzustellen - damit gemeinsame Entscheidungen, in welcher Richtung auch immer, getroffen werden können.

Dabei gehe ich in drei Etappen vor: zuerst geht es darum, das „Karussell“ (wie Marlene es in der ersten Sitzung treffend benennt) zu stoppen,. Statt einem Schritt vorwärts („Wo soll denn das um alles in der Welt hinführen?“) oder zweien zurück („Wie konnte das alles so kommen?“) bleiben wir in der Gegenwart. Wir analysieren die Muster des Paares, die funktionalen wie die dysfunktionalen. Und wir sprechen über ihre Gefühle über die Situation, über die, mit denen sie umgehen können, und über die, mit denen sie das nicht können.

In der zweiten Etappe unserer Reise geht es dann wirklich um die Schritte zurück: wir untersuchen die Geschichte des Paares und die Lebensgeschichten der beiden Einzelmenschen, um herauszufinden, wie die Verstrickungen entstanden sind und wie sie gelöst werden können.
Erst dann geht es um die wirklichen Schritte vorwärts: wie könnte die Zukunft aussehen, sowohl eine gemeinsame als auch eine getrennte. Dann, erst dann, kann das Paar (oder Ex-Paar in spe) seine Entscheidung treffen. Die Umsetzung dieser Entscheidung kann dann von mir weiterbegleitet werden oder auch nicht.

Bevor ich fortfahre, möchte ich Sie zu einer ganz persönlichen Standortbestimmung ihrer eigenen Beziehung einladen (wenn Sie zur Zeit in keiner Partnerschaft leben, dann können Sie, wenn Sie wollen, an das Endstadium Ihrer letzten Beziehung denken).

Übung 1: Ist meine/ unsere Beziehung in der Krise?
Beantworten Sie bitte diese Fragen:

• Ich ziehe mich vom Partner/ von der Partnerin zurück – ich erlebe ihn/ sie im Rückzug von mir
• Ich erlebe meinen Partner/ meine Partnerin immer häufiger als einen mir fremden Menschen
• Wir sprechen immer weniger miteinander, vor allem nicht mehr und wenn, dann nur sinnlos über unsere Schwierigkeiten
• Die Sexualität in der Partnerschaft wird immer seltener und/ oder nur mechanisch
• Ich habe nur mehr wenig positive Gefühle für den Partner/ die Partnerin, und wenn, dann eher in seiner/ ihrer Abwesenheit
• Ich sehne mich häufig danach zurück, wie es früher war
• Ich stelle mir öfter vor, wie es allein und/ oder mit einem anderen Menschen wäre
• Wir streiten häufig, und die Konflikte werden immer aggressionsgeladener und immer erschöpfender und auslaugender
• Ein oder beide Partner ist/ sind häufig krank
• Ich fühle mich in der Partnerschaft resigniert, verzweifelt, traurig oder abgestumpft

Wenn Sie fünf oder mehr Fragen deutlich mit ‚Ja’ beantwortet haben – dann erlebt Ihre Beziehung eine Krise. Dann ist es sinnvoll, sich bewusst zu machen, dass Sie – ob Sie es wollen oder nicht – auf eine Entscheidung zusteuern. Sie können natürlich so weitermachen wie bisher, in der Hoffnung, dass alles wieder gut werden wird. Dann wird Sie die Entscheidung früher oder später überrumpeln, und sie wird vermutlich eher in Richtung ‚Trennung’ gehen.

Meist bitte ich die Paare, die zu mir kommen, in der zweiten oder dritten Sitzung, diese Standortbestimmung durchzuführen (wenn sie das nicht schon auf meiner Homepage getan haben). Dadurch stelle ich den Bezug zur Gegenwart her, zu der Situation, wie sie ist (oder vielmehr: wie die beiden sie erleben). So auch Marlene und Hans, die übereinstimmend alle zehn Fragen mit ‚Ja’ beantworten. Jede einzelne davon erlaubt einen unmittelbaren Einstieg in das aktuelle Beziehungsgeschehen.

Hier ein Auszug dazu aus den Therapieprotokollen:

Th: Und wie ist das so für Sie, wenn das Ergebnis so klar vor sich sehen?
H: Ich frag’ mich, gibt’s da überhaupt noch eine Chance für uns – 10 Punkte von 10 möglichen...
Th: Und es gibt immerhin eine Gemeinsamkeit: die Einschätzung der Situation Ihrer Beziehung.

Und das ist nicht ironisch gemeint: abgesehen von der Entscheidung, sich Hilfe zu holen, ist das tatsächlich ein erstes Stückchen ‚common ground’ zwischen den beiden.

M: Am meisten betroffen gemacht hat mich der Punkt ‚Wir streiten häufig’. Ich glaube, es gibt wirklich keinen Tag und vor allem keine Nacht mehr, in der wir nicht streiten. Mittlerweile auch vor anderen Leuten. Das ist so kräfteraubend.
Th: Und worum geht’s da?
M: Um alles. Um nichts. Ums Rechthaben. Er hält dann stundenlange Monologe, in denen er mir Gott und die Welt erklärt und vor allem, wie fehlerhaft und an allem schuld ich bin.
H: Moment, da muss man dazu sagen, dass es immer damit anfängt, dass sie etwas Kränkendes sagt. Irgendetwas fällt ihr immer ein, das sie an mir stört.
M: Du benimmst dich aber auch ständig daneben!
H: Da! Da ist es wieder! ‚Ständig’ – was soll denn das heißen? Das heißt doch, dass alles, alles an mir verkehrt ist! Merkst du denn nicht, dass du mich total bloßstellst? Dass das weh tut?
M: Und glaubst du nicht, dass dein unmögliches Verhalten auch weh tut? Dass du einfach peinlich bist und ich mich schämen muss? Ich will keinen Mann, für den ich mich schämen muss!
H (bemüht beherrscht): Schon klar, ich hab ja nie behauptet, dass ich fehlerfrei bin. Aber dass du dich dafür schämst, dafür kann ich nichts. Sag doch nicht ‚immer’ und ‚ständig’, sag doch, was genau dich stört! Vielleicht finden wir dann einen Weg!
M: Ach, das ist doch sinnlos, das hab ich doch so viele Jahre lang versucht. Du versprichst, dich zu ändern, aber es funktioniert nicht. Deine Wutanfälle, deine Ungeduld, deine Intoleranz - da, jetzt sag’ ich es dir genau, was mich stört! Aber du wirst es ja doch nicht hören wollen! Ich hab’ so lange versucht, an dich zu glauben und an uns, das Gute in uns zu sehen, ich kann einfach nicht mehr (fängt an zu weinen).
H (beugt sich zu ihr und versucht, ihre Hand zu nehmen): Wein doch nicht, Schatz, ich versprech’ dir...
M (zieht die Hand ruckartig weg): Lass mich! Du willst mich doch nur wieder besänftigen!

Nicht oft bekommt man in der Paartherapie so schnell und so unverstellt einen Einblick in die Streitmuster und in den emotionalen Austausch eines Paares. Dort ist auch der erste Ansatzpunkt der therapeutischen Arbeit: in der Gegenwart des Paares, dort, wo und wie sie sich in ihrer Beziehung hier und jetzt erleben und austauschen.

Natürlich kann und werde ich Ihnen im Rahmen dieses Workshops nicht alle Konzepte der TA vorstellen, die ich in der Paartherapie anwende. Ich konzentriere mich auf eines der zentralen Modelle, das einen sehr eleganten Zugang von der Gegenwart über die Vergangenheit zur Zukunft ermöglicht: das Stroke-Konzept.

Über Kommunikation und wie man sie und das, was in ihr schiefläuft, erklären und benennen kann, muss ich Ihnen wahrscheinlich nichts erzählen. Das Konzept der Strokes aber ist mehr: es erfasst die Energie, die dabei ausgetauscht wird.

‚Strokes’ nennt Eric Berne, der Vater der Transaktionsanalyse ‚Einheiten der Wiedererkennung’ zwischen Menschen. Das Wort ist im Grunde unübersetzbar (obwohl es mit ‚Zuwendung’ oder, eher unbeholfen, ‚Streicheleinheiten’ versucht wurde), denn im Englischen bedeutet es sowohl ‚Streicheln’ als auch ‚Schlagen’. Berne meint, dass Menschen einen ihnen biologisch innewohnenden ‚Hunger’ danach haben, wahrgenommen zu werden und diese Wahrnehmung in der Kommunikation auszudrücken. Er unterscheidet Strokes nach vier Typen: zum einen positive und negative, zum anderen bedingte und bedingungslose.

Bedingungslos positive Strokes beziehen sich auf die Person als Ganzes: „Ich liebe dich“ oder „Schön, dass du da bist“.
Bedingt positive (einfach gesagt Lob) erfassen die Leistung oder das Verhalten eines Menschen: „Toll, wie du das hingekriegt hast!“ oder „Gut, dass du dich darum kümmerst.“
Bedingt negative Strokes bedeuten Kritik; auch sie beziehen sich auf Leistung und Verhalten: „Ich bin nicht zufrieden damit, wie du deine Hausaufgaben erledigt hast.“ oder „Ich finde es nicht gut, wenn Sie zu spät kommen.“
Bedingungslos negative Strokes schließlich beziehen sich (wie die positiven) auf den ganzen Menschen: „Ich mag dich nicht.“ oder, in der schlimmsten Form, „Ich wünschte, du wärst nie geboren worden.“

Und Strokes können natürlich verbal und nonverbal ausgetauscht werden.

 

Was hat dieses Modell mit der Arbeit mit Paaren und ihren kommunikativen Mustern zu tun?

Wir alle brauchen Strokes, wenn wir keine erhalten, erleben wir das als Mangel. Wir lernen, uns welche zu organisieren – so, wie wir sie eben kriegen können, nach den Prinzipien:
- Negative Strokes sind besser als gar keine
- bedingt negative sind immer noch besser als bedingungslos negative
- wenn bedingungslos positive nicht zu kriegen sind, dann sind bedingt positive immer noch besser als negative.

Wir entwickeln unsere persönliche Muster zum Geben und Nehmen von Strokes zu. Nach diesen Mustern gestalten wir unsere Beziehungen. Strokes sind gewissermaßen der Schmierstoff menschlicher Beziehung; mit ihnen gestalten wir den sozialen Energieaustausch. Darüber entwickeln wir ein Bild von uns, von anderen Menschen und vom Leben insgesamt. Wenn dieses Bild einmal gefestigt ist, wenn die entsprechenden Glaubenssätze daraus entwickelt sind, dann filtern wir Strokes aus, die nicht in unser Lebenskonzept passen, oder wir definieren sie um.

Kennen Sie Menschen, die auf Lob gar nicht reagieren und einfach weiterreden, als ob Sie nichts gesagt hätten? Sie filtern positiv bedingte Strokes aus.
Eine Kollegin erzählte mir unlängst, ihr Freund sei sehr großzügig und mache ihr gerne Geschenke. Sie aber tue sich sehr schwer damit, sie anzunehmen, weil sie fürchte, dass heimliche Bedingungen dahinter stecken könnten. Sie definiert bedingungslos positive Strokes um – in bedingt positive, „Ich schenke dir das, weil ich eine Leistung von dir erwarte“ statt „Ich schenke dir das, weil ich dich liebe.“

Strokes und Stroke-Muster sind ein sehr effektives Konzept, um zu analysieren, was in der Kommunikation eines Paares dysfunktional ist (und natürlich auch, um das zu verändern). Gleichzeitig bieten sie – die Strokes – uns aber auch einen Zugang zu der Persönlichkeit und der Geschichte der beiden Menschen; doch davon später.

Sehen wir uns den vorher geschilderten Austausch zwischen Hans und Marlene an.
Sie sagt: Er hält stundenlange Monologe (...) wie fehlerhaft und an allem schuld ich bin. Ein bedingt negativer Stroke für Hans – und Marlene erlebt ihn als sie bedingungslos negativ strokend.
Hans: Irgendetwas fällt ihr immer ein, das sie an mir stört. Das ist ein bedingungslos negativer Stroke (durch die Verallgemeinerung ‚immer’).
Marlene: Du benimmst dich aber auch ständig daneben! Ebenfalls eine Verallgemeinerung, ebenfalls bedingungslos negativ. Dementsprechend antwortet Hans:
Das heißt doch, dass alles, alles an mir verkehrt ist! Und er zahlt mit gleicher Münze zurück: Merkst du denn nicht, dass du mich total bloßstellst?
Dann wieder Marlene: Du bist einfach peinlich bist und ich muss mich schämen muss? Ich will keinen Mann, für den ich mich schämen muss! Auch hier bedingunslos negativ: Ich will dich nicht als Mann!
Dann versucht es Hans mit einem bedingt negativen Stroke:
Sag doch nicht ‚immer’ und ‚ständig’, sag doch, was genau dich stört!
Und Marlene nimmt tatsächlich an (wenn auch ziemlich vehement) und geht auch zu bedingt negativen Strokes über: Deine Wutanfälle, deine Ungeduld, deine Intoleranz da, jetzt sag’ ich es dir genau, was mich stört!  Als sie zu weinen beginnt – damit wechselt sie zu einem bedingt negativen Stroke -, probiert Hans es mit einem positiven Stroke: er versucht, ihre Hand zu nehmen:
Wein doch nicht, Schatz, ich versprech’ dir...
Doch Marlene bleibt bei negativen Strokes – sie zieht ihre Hand zurück, und zwar heftig: wieder bedingungslos negativ. Ein Schritt vorwärts, zwei zurück.

„Du versprichst, dich zu ändern, aber es funktioniert nie“, sagt Marlene. Nein, das kann auch nicht funktionieren, denn bei Beziehungsproblemen geht es nicht darum, dass er sich ändert oder dass sie sich ändert. Es ist ein gemeinsames Muster, das die beiden da entwickelt haben. Wann immer eine/r versucht, auszusteigen, holt ihn (sie) der (die) Andere zurück. Der Grundansatz meiner Arbeit mit Paaren ist: es geht darum, die Beziehung zu verändern, nicht spezifisch die Einzelpersonen. Die verändern sich dann mehr oder weniger zwangsläufig mit. Daher gehe ich in dieser frühen Phase einer Paartherapie auch nicht den individuellen Hintergründen für das spezifische Stroke-Muster nach, sondern dem Muster selbst.

Hans und Marlene tauschen weitgehend begingungslos negative Strokes aus. Das ist natürlich ein emotionell schreckliches Muster – wer kann so etwas schon auf die Dauer ertragen? Hier liegt auch ein Grund dafür, dass sie nicht voneinander lassen können: wir ertragen es kaum, bedingungslose Ablehnung einfach so stehen zu lassen. Wir legen sehr viel Energie in den Versuch, das zu verändern oder zumindest abzumildern. Was Hans und Marlene natürlich haben (und auch geben) wollen – wie alle Menschen – sind positive Strokes. Hans’ gescheiterter Versuch dazu zeigt aber, dass diese im momentanen Stroke-Muster des Paares keinen Platz haben: Marlene kann sie nicht annehmen. Der Wechsel wäre zu rasch und zu abrupt. Wenn wir Menschen helfen wollen, ihr Strokemuster zu verändern, dann geht das nur Schritt für Schritt. Zu ungewohnte Strokes können den persönlichen Stroke-Filter nicht passieren und werden umdefiniert: in der gemeinsamen Analyse sagt Marlene, sie habe Hans’ Geste – ihre Hand zu nehmen – als Versuch erlebt, so zu tun, als ob nichts wäre.

Wenn wir genau auf die Gesprächssequenz sehen, entdecken wir gegen Schluss einen Punkt, an dem ein klein wenig Bewegung in den Dialog kommt: die beiden gehen kurz von bedingungslos negativen zu bedingt negativen Strokes über: Hans fordert Marlene auf, nicht ‚immer’ und ‚ständig’ zu sagen, und sie präzisiert dann, was genau sie stört. Dieser kurze Strokeaustausch bezieht sich nicht mehr auf die Personen, sondern auf ihr Verhalten.

Die beiden jetzt aufzufordern, sich statt der vielen bösen Dinge etwas Nettes zu sagen, würde Strokes von ihnen fordern, die sie nicht geben wollten und nicht nehmen könnten. Zu groß ist das durch gefühlte Millionen an Verletzungen entstandene Misstrauen.

Th: Ich möchte Sie bitten, noch einmal an den Punkt zurückgehen, an dem Sie, Marlene, begonnen haben zu weinen. Vorher haben Sie, Hans, Ihre Frau aufgefordert, die Kritik an Ihnen zu präszisieren und nicht zu verallgemeinern. Das haben Sie, Marlene, dann auch sehr deutlich getan und dann zu weinen begonnen haben. Wenn wir – bildlich gesprochen - unser Video von der Szene an diesen Punkt zurücklaufen lassen: Hans, was ist in Ihnen vorgegangen, bevor Sie versucht haben, die Hand Ihrer Frau zu nehmen?
H: Sie hat mir leid getan. Ich habe mich schuldig gefühlt an ihren Tränen.
Th: Sie haben sich schuldig gefühlt.
H: Ja, und das hat mich eigentlich geärgert. Diese Krokodilstränen, habe ich mir gedacht. Aber natürlich hat sie mir auch leid getan.
Th: Wollen Sie das Ihrer Frau direkt sagen, in aller Widersprüchlichkeit? Ganz spezfisch auf die Situation bezogen, ohne Verallgemeinerungen.
H: Wenn du in so einer Situation zu weinen beginnst, tut mir das leid. Andererseits ärgert es mich, weil es mir ja Schuldgefühle machen soll.
Th: Marlene?
M: Hmm... irgendwas stimmt schon an dem, was er sagt. Er soll sehen, wie ich mich kränke. Aber ich kränke mich ja wirklich!
Th: Ich kränke mich, weil...?
M: Weil ich ihn nicht erreiche! Ich kann sagen, was ich will, er schießt immer zurück!
Th: Immer?
M: Nein, immer nicht. In Streitsituationen. Da hört er... (zu Hans) da hörst du nicht zu.
H: Ja, weil das so pauschal kommt. Da muss ich mich einfach wehren.
M (nach einer Pause): Das will ich nicht, dass du dich so wehren musst.
H (nickt): Ich will das ja auch nicht.

Der Unterschied ist emotional spürbar und kognitiv erfassbar: die beiden setzen sich mit dem, was sie sagen und hören, auseinander, und sie hören einander (natürlich in Grenzen) zu.

Wir überspringen jetzt einige Sitzungen mit Hans und Marlene, in denen es um die Veränderung des Stroke-Musters und um das Zulassen der Gefühle geht, die sie in ihrer schwierigen Situation haben.

Allmählich werden in dieser Arbeit zwei Aspekte deutlich:
- die Geschichte, die die beiden miteinander haben, im Guten wie im Bösen
- und die Menschen, die sie beide sind – im Kontext ihrer Lebensgeschichte, mit dem, was sie schon in die Beziehung mitgebracht haben.
-
In der Sprache des Stroke-Konzepts: die Geschichte davon, wie sie ihr gemeinsames Stroke-Muster entfaltet und ausgebaut haben, und die Geschichte davon, wie sie einzeln ihre persönlichen Stroke-Muster entwickelt haben.

Ich lerne Hans als sehr leistungsbezogenen, hart arbeitenden Menschen kennen, der sich selbst als „wahrscheinlich burnout-gefährdet“ einstuft. Probleme jeder Art sind für ihn etwas, das schnell gelöst werden muss. Wenn das nicht möglich ist, wird er rasch wütend und sucht die Schuld dafür bei anderen. Er fühlt sich im Grund sehr einsam und unverstanden, nicht nur von Marlene, auch von den Kindern. Aus diesem Gefühl heraus hat er auch wiederholt Außenbeziehungen aufgenommen, diese aber zugunsten der Familie aufgegeben.

Sein Stroke-Muster lässt sich so beschreiben:
- die besten Strokes, die für ihn zu bekommen sind, sind bedingt positive – nämlich für Leistung; davon kann er nicht genug kriegen
- nach bedingungslos positiven Strokes (so geliebt zu werden, wie er als Mensch ist) sehnt er sich wie wir alle, kann sie aber, wenn er sie bekommt, nicht annehmen, sondern definiert sie zu bedingten um: als Marlene sagt, sie sei trotz aller Schwierigkeiten immer noch bei ihm, weil sie ihn einfach liebe, antwortet er: „Na ja, das Haus und mein Geld sind schon auch schwerwiegende Argumente.“
- bedingt negative Strokes (also Kritik) kann er fast nicht annehmen. Klar, denn das Ausbleiben von Lob nimmt ihm ja die einzigen positiven Strokes, die er gelten lässt. Er definiert bedingt negative zu bedingungslos negativen um: Marlene zeigt sich an Sexualität desinteressiert („Wenn er mich vorher anbrüllt, kann ich mir das einfach nicht vorstellen!“). Dazu sagt er: „Wenn du keinen Sex mit mir willst, dann heisst das ganz klar, dass du mich nicht mehr liebst!“
- seine Grundüberzeugung ist, das letztlich alles im Leben auf bedingungslos negative Strokes für ihn hinausläuft („Wissen Sie, schlussendlich liebt mich ja doch keiner!“)

Die Art und Weise, wie wir Strokes annehmen, nicht annehmen und redefinieren, sind natürlich wiederum Strokes an die Adresse des/der Anderen. Wenn ich jemanden lobe und seine Freude darüber erlebe, ist das wiederum ein bedingt positiver Stroke für mich. Hans Redefinitionen von Marlenes Strokes – nicht zuletzt die Zurückweisung ihrer Liebe –emfpindet Marlene bedingungslos negativ an. Dementsprechend reagiert sie mehr und mehr ebenso.

Wenn wir Menschen dabei erleben, wie sie Strokes austauschen, dann erzählt uns das verschiedene Arten von Geschichten: die Geschichte davon, wie die beiden sich miteinander dorthin entwickelt haben, wo sie jetzt sind, und die Geschichte davon, wie sie es als Kinder gelernt haben, ihr Leben und ihre Beziehungen so zu gestalten,wie sie es jetzt tun. Die Stroke-Muster von Menschen erzählen uns Geschichten von Liebe und Nicht-Liebe, von Geliebtwerden und von Nicht-Geliebtwerden.

Dafür verwenden wir in der TA den Begriff ‚Skript’: damit ist der unbewusste Lebensplan gemeint, der in der Kindheit unter dem Einfluss der Eltern und anderer Beziehungspersonen entwickelt wird. Dieser Lebensplan ist ein ursprünglich lebenserleichterndes, manchmal lebensrettendes, heute aber an vielen Punkten dysfunktionales Konzept darüber, wie wir uns, Andere und das Leben sehen, erleben und gestalten. Strokes und ihr Austausch sind die Art und Weise, wie wir uns skriptgebunden verhalten – und wie wir das Skript aber auch hinter uns lassen können.

Hans ist als drittes von sieben Kindern auf einer Nebenerwerbs-Landwirtschaft aufgewachsen. Sein Vater war unter der Woche in der Stadt, um in der Fabrik zu arbeiten, während die Mutter – schwer überfordert – den Bauernhof führte. Hans sagt, er hat seine Mutter „mehr als Maschine als als Menschen“ kennengelernt. Sie arbeitete ununterbrochen bis zur Erschöpfung, und Hans – als ältester Sohn nach zwei Töchtern – sah sich bald als ‚Mann am Hof’, der die Mutter in der körperlichen Schwerstarbeit zu unterstützen hatte.

Hans: Sie werden das vielleicht nicht glauben, aber eigentlich war das schön, zumindest manchmal. Es ist zwar weit über meine Kräfte hinausgegangen, aber wenn die Mutter und ich am Abend beisammen gesessen sind und besprochen haben, was am nächsten Tag geschehen muss, dann habe ich mich schon sehr erwachsen gefühlt. Und je älter und kräftiger ich geworden bin, umso weniger Fehler habe ich gemacht.
Th: Fehler?
H: Na ja, wenn ich nicht aus dem Bett gekommen bin, zum Beispiel, weil ich einfach todmüde war. Wenn dann vor der Schule keine Zeit mehr war, die Kühe zu melken. Das musste ja alles noch mit der Hand geschehen, damals.
Th: Und was ist dann passiert?
H: Zuerst einmal, dass die Mutter nicht mehr gesprochen hat. Ich meine, gar nichts mehr. Viel geredet hat sie ja nie, aber dann hat sie getan, als ob ich überhaupt nicht da wäre. Die Besprechungen am Abend haben dann nicht stattgefunden oder, noch ärger, mit einer von den Schwestern und ich bin ins Bett geschickt worden. (Pause, er atmet tief)
Th: Aber da war noch Schlimmeres.
H: Ja. Am Freitag, wenn der Vater heimgekommen ist aus der Fabrik, dann hat sie es ihm erzählt. Heimlich. Ich hab’ mich früher immer so gefreut, wenn er heimgekommen ist, ich bin ihm entgegengelaufen, und er hat schon von weitem gerufen „Hansl!“ Und manchmal, wenn ein bisschen Zeit war am Wochenende, dann hat er zu mir gesagt: „Komm, setz dich her zu mir, Hansl.“ Einfach hersetzen. (Pause)
Th: Aber wenn Sie ‚Fehler’ gemacht haben?“
H: Ja. Dann hat sie es ihm erzählt. Aber das habe ich anfangs ja gar nicht gewusst. Er hat auch so getan, als ob nichts wäre. Aber irgendwann war dann dieses ‚Setz dich her zu mir.“ So wie immer. Und dann hat er mch auf einmal angeschaut und hat gesagt: „Ich hab da was für dich, Hansl.“ Und ich hab’ gehofft, er hat mir etwas aus der Stadt mitgebracht, das war früher manchmal so. Aber er hat dann den Gürtel aus der Hose gezogen.
Marlene (betroffen): Mein Gott, das hast du mir ja nie erzählt...
H (leise): Scheiterknieen, mit dem Gürtel auspeitschen, das volle Gewaltprogramm. Praktisch jedes Wochenende. Ich hab’ aufgehört, mich auf ihn zu freuen. Ich hab’ mich gefürchtet. Irgendein Fehler ist mir unter der Woche immer passiert.
M: Jetzt versteh’ ich, warum du nie Fehler machen darfst!
Th (zu M): Und warum es für ihn so unerträglich ist, wenn er sich im Streit wieder so erlebt, als ob alles an ihm falsch wäre. Denn für falsch sein, für Fehler, gibt es furchtbare Strafen. Dann wird das, was er einmal als Liebe erlebt hat, zu Gewalt und Ablehnung.

Hier wird deutlich, wie das TA-Konzept der Strokes nicht nur hilft, gegenwärtige Muster des Paares zu verändern, sondern wie es auch der Schlüssel zu den Skripts der Partner ist. Dadurch wird verstehbar, was den Anderen unbewusst antreibt: frühe Beziehungs- (also Stroke-) Muster werden in die Gegenwart übertragen. An bestimmten Punkten ihrer Interaktion hat Hans (in seinem Erleben) nicht mehr Marlene vor sich, sondern eine Kombination aus seiner Mutter und seinem Vater: Anerkennung (die für Liebe gehalten wird) gibt es nur für Leistung, wirklicher Liebe kann man nicht trauen. Kritik an Fehlern führt zu vollständiger Ablehnung (denn Gewalt wird natürlich als bedingungslos negativer Stroke erlebt). Indem Marlene das in der Paartherapie betroffen miterlebt, wird ihr klar, wie Hans so geworden ist, wie er ist.

Und Hans helfen diese Erkenntnisse, Verantwortung für sein gegenwärtiges Handeln, Denken und Fühlen zu übernehmen, indem er seine Vergangenheit von der Gegenwart trennt. Genauer gesagt: indem er lernt, Marlene als eine andere Person als seine Eltern zu sehen und zu erleben.

Parallel dazu und damit verflochten arbeite ich an Marlenes Stroke-Muster und ihrer Lebensgeschichte (auf die ich hier aus Zeitgründen nicht so ausführlich eingehen möchte).

In Kürze: sie ist ein Einzelkind. Als sie drei war, haben ihre Eltern sich getrennt. Sie hat ihren Vater erst wieder gesehen, als sie sechzehn war und sich selbst um den Kontakt bemühte. Die Mutter war eine in sich zurückgezogene, vermutlich depressive Frau. Marlenes Welt war dementprechend Stroke-arm; am ehesten gab es spärliche bedingt positive und bedingt negative Strokes („Ein Kopfnicken oder ein Kopfschütteln, wenn ich es richtig oder falsch gemacht hatte, das war so ziemlich alles.“) Dieses Defizit versuchte sie auszugleichen, indem sie sich eine Fantasie-Vater kreierte. Ab dem Alter von 8 schrieb sie ihm Briefe (die nie abgeschickt wurden), in denen sie sich ihn als liebevoll und zugewandt vorstellte und dokumentierte, was er in ihrer Vorstellung alles mit ihr unternommen hatte. So erfand sie bedingungslos positive Strokes für sich – tatsächlich aber erlebte sie massiv bedingungslos negative: vom Vater, dem sie offensichtlich gleichgültig war, und von der Mutter durch ihre Zurückgezogenheit und Lieblosigkeit.

Hans erlebt sie auf doppelte Weise als Wiederholung ihrer ‚Geschichte von Liebe und Nicht-Liebe’: durch seine häufige Abwesenheit wie ihren fantasierten Vater („Immer, wenn er nicht da ist, stelle ich mir vor, wie schön es sein wird, wenn er heimkommt“) und durch seine Zurückgezogenheit zu Hause wie ihre Mutter („Dann sitzt er am Computer und nickt nur geistesabwesend, wenn ich etwas zu ihm sage.“)

Ein Schritt vorwärts, zwei zurück: wenn Marlene und Hans miteinander wirklich in Kontakt sind als die Menschen, die sie sind, dann haben sie den Eindruck, es könnte noch einmal gutgehen. Wenn sie in ihre Kindheits-Stroke-Muster rutschen, wenn sie ihre frühen Beziehungserfahrungen auf einander übertragen, dann verheddern sie sich in ihrem gemeinsam gestrickten Paar-Stroke-Muster. Dann kommen sie vom Weg ab – ‚somewhere along the line I slipped off the track’ hat Bruce Springsteen vorhin gesungen.

Im ersten Schritt haben Hans und Marlene also Veränderungen ihrer gegenwärtigen Stroke-Muster erarbeitet. In Schritt eineinhalb setzen sie sich damit auseinander, wie es aus ihrer Kindheit her kam, dass es so gekommen ist.

Die Arbeit mit dem Skript ist komplex, schon in der Einzeltherapie und erst recht mit den beiden Personen eines Paares. Destruktive Antreiber und Skripteinschärfungen, Glaubenssätze und abgewehrte Gefühle werden auseinandergeklaubt und bearbeitet. Immer wieder verwickelt die Vergangenheit sich mit der Gegenwart – wie ein Gummiband zieht das Skript Menschen in ihre Geschichte zurück. Manchmal zieht man selbst daran, dann tut das der/ die Andere.

Je klarer diese Verwicklung den beiden wird, desto besser sind sie gerüstet für den zweiten Teilschritt der Arbeit mit der Vergangenheit: mit ihrer Vergangenheit als Paar, ihrer gemeinsamen Geschichte von Liebe und Nicht-Liebe. Natürlich spielt dieser Aspekt von Anfang an immer eine Rolle. Wirklich substantiell ist es erst jetzt möglich, sich damit auseinanderzusetzen – jetzt, wo die aktuellen alltäglich zugefügten Verletzungen weniger geworden sind und wo die Schatten der Kindheit nicht mehr alles andere (unbewusst) überdecken.

In der zwölften gemeinsamen Sitzungen (wir haben in Doppelsitzungen gearbeitet, was das vorteilhafteste Setting für Paare ist) spreche ich das Thema an.

Th: Unsere Vereinbarung ist ja, zu einer gemeinsamen Entscheidung über Trennung oder Neubeginn zu kommen. Was fehlt Ihnen jetzt, nach allem, was wir erarbeitet haben, noch dazu?
M: Na ja, die ganze Sache mit den Affären von Hans ist für mich immer noch als ständige Bedrohung im Raum. Wer sagt mir, dass das nicht wieder passieren wird?
H: Aber du weißt doch jetzt, was mir gefehlt hat und warum ich das getan habe. Es wird nicht wieder vorkommen, das verspreche ich dir.
M: Aber kann ich das glauben?
H: ich muss ja auch glauben, dass du mich nicht wieder vor allen Leuten zur Sau machst!
Th: Offensichtlich sind da bei Ihnen noch entscheidende Wunden offen. Und es ist sehr heikel, darüber zu sprechen, ohne in die alten Muster zu rutschen. Heikel, aber notwendig. Denn Ihre Entscheidung – Trennung oder Neubeginn – wird davon abhängen, wie sehr sie sich diese Verletzungen verzeihen können.
H: Verzeihen... das sagt sich leicht. Aber können Sie sich vorstellen, wie das ist, wenn Sie ganz arglos in einer geselligen Runde plaudern, und dann kriegen Sie plötzlich einen Tritt ans Scheinbein und diesen bösen, funkelnden Blick. Und das Herz klopft, und man weiß genau, irgendetwas war wieder falsch. Die Unbefangenheit ist weg, man krampft sich ein, man weiß genau, der Abend ist gelaufen, im Auto gibt’s beim Heimfahren wieder einen wüsten Streit, und am Ende wird man wieder hören: du bist so unfähig! Du bist ein Versager! Ich will keinen solchen Mann wie dich!
Th: ich kann es mir vorstellen. Aber vielleicht stellen Sie diese Frage Ihrer Frau.
H: Ja, Marlene. Kannst du dir das vorstellen?
M: Ich möchte mich nicht rechtfertigen. Aber ich möchte auch nicht darauf antworten. Wozu soll ich da schon wieder gezwungen werden?
Th: Zu gar nichts. Sie müssen überhaupt nichts antworten. Es genügt, wenn sie es einfach hören.
M: Ich möchte auch etwas fragen: kannst du dir vorstellen, wie das ist, wenn man abends wartet und wartet und die Decke fällt einem auf den Kopf? Und man kann nicht raus, was man am liebsten möchte, aber da sind ja die Kinder, und eins hustet die ganze Zeit und wird wach, und man muss die ganze Unruhe, den ganzen Groll wegstecken, um zu trösten und zu beruhigen. Und man weiß genau – „die Besprechung wird heute länger dauern“ heißt, er vergnügt sich mit einer Anderen. Einmal habe ihm das Bettzeug vor die Schlafzimmertüre geworfen und die Türe von innen versperrt. Dann hat er sie eingetreten.
H: Weil ich wirklich bei einer Besprechung war! Immer glaubst du gleich, eine andere Frau ist im Spiel!
Th: Wollen Sie die Frage Ihrer Frau – ob sie sich das vorstellen können – beantworten?
H: Am liebsten würde ich auch nein sagen. Aber dann wird wieder so ein blödes Psychospiel draus. Ja, ich kann es mir vorstellen. Aber das ist nicht angenehm.
Th: Auf die Verletztheit Ihrer Frau hinzuschauen?
H: Ja. Das ist sehr... ich... ich schäme mich dafür. Ich habe mich wirklich blöd benommen. Nein, nicht blöd: ich wollte es einfach nicht sehen. Ich war nur mit meiner eigenen Verletztheit beschäftigt. Und wollte mich dafür rächen. Ach Mist, das alles...
M (hat ihm schweigend zugehört): Ja. Das ist es. Mist. (sie hat Tränen in den Augen)
Th: Sind Sie traurig, Marlene?
M: Ja. Sehr. Und wütend. Auch auf mich selbst, dass ich das alles mit mir machen lassen habe.
Th: Und Sie waren nicht nur Opfer.
H: Stimmt.
M: Ja, stimmt. Ich möchte dir auf deine Frage von vorher antworten, Hans. Ja, ich kann es verstehen. Ich finde mich selbst unerträglich, wenn ich das höre, wie ich mich da manchmal benommen habe. Ich will nicht so eine Frau sein. Aber ich war so sehr verletzt.
Th: Das sind Sie immer noch. Lassen Sie sich Zeit, beide.

Neben der Gefahr, dass das Aufarbeiten der gemeinsamen Verletzungsgeschichte wieder in Vorwürfe und Verbitterung mündet, wäre es auch heikel, wenn beide allzu schnell in eine falsche Versöhnung verfallen würden. Das haben Sie schon öfter versucht. So einfach ist die Sache nicht. Es ist wichtig, dass sie genügend Raum haben, das auszusprechen, was geschehen ist, und dass sie einander zuhören. Das ist oft schwer auszuhalten, auch für den Therapeuten, weil es mit viel Scham verbunden ist, die jede/r sich, dem Anderen und auch ich den beiden am liebsten ersparen würde. All das, was hier zur Sprache kommt, wurde nie so ausgesprochen und nie so gehört.

Das Entscheidende beim Verzeihen der Verletzungen ist, dass beide Teile einander helfen müssen: der Verletzende, indem er immer wieder bereit ist, sich die Verletzungen anzuhören (ohne zu sagen, es müsse endlich genug sein) und sich seinem eigenen Schuldgefühl darüber zu auszusetzen; der Verletzte, indem er dem anderen beim Aushalten eben dieses Schuldgefühls hilft und es versteht.

Die wirkliche Entscheidung kann erst getroffen werden, wenn Hans und Marlene herausfinden können, ob sie tatsächlich bereit sind, einander zu verzeihen. Das ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich, und das muss auch nicht sein. Aber dann ist kein Neubeginn möglich, dann geht es um Trennung.

Damit sind wir bei der letzten Etappe unserer gemeinsamen Reise angelangt: dem Blick in die Zukunft.

Es gibt für jede Richtung, für die das Paar sich entscheidet – Trennung oder Neubeginn – gefährliche Stolpersteine. Für die Trennung ist das
- eine Entscheidung, die für eine/n der beiden nicht wirklich stimmig ist. Natürlich gibt es auch Trennungen, die eine/r will und der/die andere nicht. Häufig passiert das dann, wenn es bereits eine neue Beziehung zu jemand anderem gibt. Das – eine einseitige Trennung - bedeutet aber meistens, dass offene Rechnungen mitgenommen werden, die dann in aller Regel über das Scheidungsverfahren, die Gütertrennung oder Obsorgefragen ausgetragen werden und so auch in eine nächste Beziehung mitgenommen werden.
- eine übereilte Entscheidung, um ‚endliche Ruhe’ zu haben. Die Gefahr dafür ist besonders am vorher besprochenen Punkt der Auseinandersetzung mit den in der Beziehung entstandenen Verletzungen groß.
-
Das größte Hindernis für einen Neubeginn, einen wirklichen Neubeginn, ist Misstrauen und die Angst, „es wird ja doch wieder passieren“. In aller Regel brauchen Paare zumindest nach dieser Entscheidung noch weitere therapeutische Begleitung.

Hans beginnt die 18. Sitzung.

H: Wir möchten Ihnen sagen, dass wir eine Entscheidung getroffen haben. Wir möchten zusammen bleiben und einen wirklichen Neubeginn probieren.
M: Nein, ‚probieren’ darf es nicht sein. Probiert haben wir es schon so oft. Diesmal müssen wir es wirklich tun.
Th: Ich freue mich über Ihre Entscheidung, und für mich ist sie auch stimmig, gerade nach den letzten beiden Sitzungen. Ich hatte bereits vor, heute danach zu fragen.
M: Wir haben gemerkt, wie sehr wir doch immer noch miteinander verbunden sind, nach all den Jahren.

Dieses ‚wir’, das beide verwenden, ist nicht untypisch an diesem Punkt. Es ist aber zwiespältig: einerseits kann es tatsächlich die entstandene Verbundheit ausdrücken, andererseits aber auch ein Verwischen der weiterhin bleibenden Unterschiede. Gerade diese Unterschiede sind aber wichtig, denn der Konflikt eines Paares hat seinen Anfang oft genau dort, wo nach anfänglich großer Verliebtheit sichtbar wird, wie verschieden die beiden Menschen tatsächlich sind.

Th: Ich möchte Sie gerne zu einer Reise in die Zukunft einladen. Stellen Sie sich vor, unsere Therapie ist erfolgreich beendet. Wir sehen uns nicht mehr wieder, aber nach fünf Jahren laufen wir einander über den Weg. Ich begegne Ihnen, Marlene, und Ihnen, Hans, zufällig auf der Straße. Einzeln. Wir kommen ins Plaudern, und sie erzählen mir, wie es Ihnen denn in Ihrer Beziehung so geht. Was werden Sie mir erzählen?
M: Ich werde sagen: im Prinzip geht es uns gut miteinander. Die Kinder sind endgültig aus dem Haus, wir haben ein oder zwei Enkelkinder. Wir reisen viel, und Hans arbeitet deutlich weniger. Manchmal streiten wir, über die alten Themen und auch über neue. Aber wir versöhnen uns auch immer wieder.
H (zögert): Ja, ich würde auch so antworten.
Th: Das klingt, als ob Sie zuerst einen anderen Einfall gehabt hätten.
H: Ja, wenn ich ehrlich bin, war da zuerst ein anderes Bild, das ich aber wieder verworfen habe.
Th: Wollen Sie es erzählen?
H: Na ja, es hat mit Angst zu tun. Es könnte sein, dass ich Ihnen in fünf Jahren erzähle, dass wir es doch nicht geschafft haben. Marlene hat mir nicht geglaubt, dass ich nichts mehr mit anderen Frauen habe. Sie hat immer wieder mein Handy und meine Mails kontrolliert, obwohl da gar nichts war.
Th: Also Marlene hat ihre Angst nicht ablegen können. Und Sie?
H: Ich auch nicht. Bei mir ist auch immer wieder die Unsicherheit dagewesen, ich könnte wieder diesen bösen Blick und diesen Tritt ins Schienbein bekommen.
M: Nein, das wird nicht wieder vorkommen!
Th: Worüber Sie da sprechen, ist wirklich der schwierigste Teil beim Neubeginn: sich von der Angst zu lösen, dass der Andere ‚es’ wieder tun wird – dieses Es, das Ihnen jeweils die schlimmsten Verletzungen zugefügt hat. Und Sie können davon ausgehen, dass diese Ängste wiederkommen werden, nach einer anfänglichen Phase großer Harmonie und großer Behutsamkeit. Was können Sie dann tun?
H: Mir selber sagen, dass das Blödsinn ist, sie hat ja versprochen, dass wir neu anfangen.
M: Darüber miteinander sprechen. Und ich brauche dann, dass du meine Angst ernst nimmst und mir glaubst, dass ich sie nicht will, aber dass sie halt immer wieder kommt.
Th: Genau das. Und vielleicht kommt sie – seltener, schwächer, aber doch – den Rest ihres Lebens wieder.
M: Vielleicht ist das der Preis, den wir zahlen müssen. Wir sind kein unschuldiges junges Liebespaar mehr, das glaubt, alles würde sicher gut gehen. Wir haben unsere Unschuld verloren.

Seit diesem Gespräch sind etwa fünf Monate vergangen. Marlene und Hans kommen weiter zu mir, in größer werdenden Abständen. Manchmal sind sie wieder ratlos und erleben Ausläufer des alten Musters, und manchmal bewältigen sie ihre Konflikte selbst auf konstruktive Art und Weise. Zum Abschluss möchte ich die beiden noch einmal, am Ende der bisher letzten Sitzung, zu Wort kommen lassen.

H: Als wir damals zu Ihnen gekommen sind, habe ich geglaubt, mit zwei, drei Sitzungen wäre das erledigt. Sie würden uns ein paar Tipps und Tricks verraten, und das Wunder wäre geschehen. Sie wissen ja, ich bin Techniker. Wenn ich damals geahnt hätte, was für eine Arbeit das wird, hätte ich mir das sehr überlegt. Aber ich kann sagen, es hat sich gelohnt. Und es wäre sehr, sehr schade gewesen, wenn ich Marlene verloren hätte.
M (lächelnd): Wenn wir uns verloren hätten!

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