3. FRESSEN ODER GEFRESSEN WERDEN ODER: SOZIALE KOMPETENZ

Vortrag für die
Kepler Society Linz
Linz, April 2006

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„Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen manche Menschen Mauern – andere bauen Windmühlen.“ (chinesisches Sprichwort)
In seinem großen Roman ‚Professor Unrat’ beschreibt Heinrich Mann unter dem Untertitel ‚Das Ende eines Tyrannen’ einen Menschen, der gegen den Wind der Veränderung Mauern baut. Er schildert uns den langsamen Verfall eines kleinstadtbekannten Sonderlings – des Gymnasialprofessors Dr. Raat, allgemein nur ‚Unrat’ genannt.

„Unrat, der sich von den Schülern hinterrücks angefeindet, betrogen und gehasst wusste, behandelte sie seinerseits als Erbfeinde, von denen man nicht genug „hineinlegen“ (...) konnte. Da er sein Leben ganz in Schulen verbracht hatte, war es ihm versagt geblieben, die Knaben und ihre Dinge in die Perspektive des Erfahrenen zu schieben. Er sah sie so nah, wie einer aus ihrer Mitte, der unversehens mit Machtbefugnissen ausgestattet und aufs Katheder erhoben wäre. Er redete und dachte in ihrer Sprache (...). Er hielt seine Ansprachen in dem Stil, den auch sie in solchen Fällen angewendet haben würden (...). Da er selber steife Gliedmaßen bekommen hatte, verlangte er das gleiche von den anderen Insassen der Anstalt (...). Was in der Schule vorging, hatte für Unrat Ernst und Wirklichkeit des Lebens, Trägheit kam der Verderblichkeit eines unnützen Bürgers gleich, Unachtsamkeit und Lachen waren Widerstand gegen die Staatsgewalt, eine Knallerbse leitete Revolution ein (...). (S. 13/14)

Bei der Verfolgung seiner Schüler gerät Unrat in ein billiges Varietétheater und lernt dort die leichtlebige Sängerin Rosa Fröhlich, für ihn eine ‚Künstlerin’, kennen und verliebt sich in sie (in der Verfilmung des Romans unter dem Titel ‚Der blaue Engel’ wurde sie von Marlene Dietrich gespielt).

Die Szenen, in denen Unrat mit seiner sozialen Unbeholfenheit, seiner mangelnden Flexibilität, seiner Unfähigkeit, veränderte Umgebungen und andere Menschen wahrzunehmen, auf die ‚Künstlerin’ Fröhlich trifft, gehören zu den Höhepunkten des Romans.

Sie drehte sich leicht in den Hüften hin und her.

„Ich bin mit jedem höflich, der anständig zu mir ist.“

„Ei freilich. Da würde denn wohl. Und die Schüler vom Gymnasium haben im  allgemeinen  traun recht zierliche Sitten?“

„Ja glauben Sie denn, ich sitz hier täglich mit Ihrer ganzen Schulstube? Ich bin doch keine Kindergärtnerin!“

„Das hinwiederum zwar nicht.“

(...)

„Haben Sie ‚ne Ahnung von dem Dasein. Jeder der hier reinkommt, meint, man hat bloß auf ihn gewartet. (...)“

Und sie berührte mit der Fingerspitze sein Knie.

„Die einer Dame geschuldete Ehrerbietung wollte ich dadurch keineswegs verletzen“, erklärte er.

Ihm war nicht heimlich. Diese bunte Frauensperson sprach von Dingen, in die er nicht mit seiner gewohnten Klarheit eindrang. Überdies befanden sich ihre Knie nun schon zwischen seinen eigenen.

Mehr und mehr verfällt Unrat der Sängerin, verliert Stück für Stück seine bürgerliche Existenz und wird schließlich mehr oder weniger zu Rosas Zuhälter.

Wie viele Schriftsteller der letzten Jahrzehnte des 19. und der ersten des 20. Jahrhunderts – Arthur Schnitzler, Joseph Roth, Heimito von Doderer, Henrik Ibsen, Gerhart Hauptmann – beschäftigt sich Heinrich Mann damit, was geschieht, wenn starr und unflexibel gewordene Menschen in politisch, sozial, kulturell und ökonomisch veränderten Welten nicht mehr zurechtkommen und daran scheitern. Sie sind nicht imstande, geänderte Realitäten wahrzunehmen und anzuerkennen (wie Schnitzlers und Roths Figuren, die mit dem Ende des Zeitalters der Habsburgermonarchie und der in ihr gültigen Werte nicht zurechtkommen), sie akzeptieren nicht, dass Menschen in ihrer Umgebung sich verändert haben (wie Noras Mann in Ibsens gleichnamigem Stück, der ihren Wunsch nach Eigenständigkeit nicht sehen kann und will), sie sind zu wenig bereit, ihre Persönlichkeit lernend zu verändern, um neue Situationen zu erkennen und mit ihnen flexibel umzugehen (wie die zahllosen handelnden Personen in Doderers Monumentalromen ‚Die Strudelhofstiege’ und ‚Die Dämonen’).

Heute würde man sagen, es fehlt ihnen allen, die da in ihrer kleinen bürgerlichen oder in der großen politischen Welt scheitern, an sozialer Kompetenz. Unrat kann sich selbst und seine Rolle nicht relativieren, er kann die jeweiligen Aufgaben der sozialen Situation nicht differenzieren (er benimmt sich im Nachtclub genau so wie in der Schule), und er kann sich auf sein Gegenüber nicht einstellen – und daher scheitert er.

 

„Soziale Kompetenz“ ist in der aktuellen Diskussion ein häufig verwendeter, gleichzeitig aber meist unscharf definierter Begriff. Vom sozial sinnvollen Einsetzen der eigenen Gefühle bis zum Umgang mit sich selbst, vom einfühlsamen Umgang mit Anderen bis zum Vertrauen auf die eigene Intuition, dem viel zitierten ‚Bauchgefühl’, von der Kommunikation bis zur Teamfähigkeit scheint der Begriff alles zu umfassen, was so im soft-skill-Bereich des Menschlich-Zwischenmenschlichen angesiedelt sein kann.

In meiner Arbeit als Coach und Trainer zur Unterstützung und Entwicklung der professionellen Effektivität und Effizienz von Menschen und Unternehmen stelle ich einerseits viel Bedarf an diesem weiten Feld der social skills fest, andererseits auch Unsicherheit und Scheu, was denn das überhaupt sein kann. Geht’s um Seelen-Striptease? Muss ich mich erst auf die legendäre Couch des Psychoanalytikers legen, bevor ich überhaupt mit Mitarbeiter/innen, Kunden/innen, Kollegen/innen kommunizieren kann? Werde ich dann in ständiger Gefahr leben, von Gefühlen jeder Art überflutet zu werden? Werde ich dunkle Punkte meiner Seele, persönliche Leichen im Keller entdecken müssen? Und, noch schlimmer, muss ich die auch Anderen offenbaren?

Nichts von alledem, schon gar nicht in dieser an den Kern der Persönlichkeit reichenden Intensität. Das sind Vorgänge, die der psychotherapeutischen Behandlung von schweren persönlichen und zwischenmenschlichen Problemen und Krisen vorbehalten sind.

Ich bin Mitglied in einem Trainings- und Beratungsnetzwerk, der Gesellschaft für Personalentwicklung (GfP). Wir vernetzen uns in Kompetenzteams, die sich mit der Entwicklung unserer inhaltlichen Positionen, unserer Produkte, unserer professionellen Standards und unserer Kundenbetreuung befassen. Im Team ‚Soziale Kompetenz und Persönlichkeitsentwicklung’, das ich leite, haben wir eine klare und leicht umsetzbare Definition für Soziale Kompetenz entwickelt:

Berufliche Sozialkompetenz ist die Summe der Fähigkeiten und Fertigkeiten, die es der/dem Einzelnen ermöglichen,

  • als der Mensch, der er/sie ist
  • in der Organisation, für die sie/er tätig ist
  • die seinen/ ihren Aufgaben entsprechende professionelle Rolle einzunehmen.

 

Was bedeutet das genau? Ich möchte es Ihnen zunächst allgemein erklären und dann an einem Beispiel aus der Praxis verdeutlichen.

Jede/r von uns übt – als der Mensch, der er/sie ist - seinen/ ihren Beruf im Rahmen einer bestimmten Unternehmensorganisation (einem Industriebetrieb, einem Handelsunternehmen, einer Einzelfirma, einem gemeinnützigen Verein, einem Bereich der öffentlichen Verwaltung...) mit einer bestimmten Struktur, bestimmten Zielsetzungen, bestimmten Aufträgen, bestimmten ökonomischen, gesellschaftlichen, gesetzlichen Rahmenbedingungen aus. In diesem Unternehmen hat sie/er eine oder mehrere mehr oder minder definierte Aufgaben zu erfüllen (einen bestimmten Nutzen zu stiften): als Führungskraft, als Assistent/in, als Kundendienstmitarbeiter/in, als PR-Experte/in, als Facharbeiter/in oder was auch immer.

Diese drei Aspekte – Mensch, Organisation, Aufgabe – stehen in einem Wechselverhältnis und beeinflussen sich gegenseitig:

mein Mensch-Sein, meine Persönlichkeit beeinflusst, in unterschiedlichem Ausmaß, die Organisation und wird von ihr beeinflusst: wir verändern uns in den Jahren als Mitarbeiter/in einer Firma.

Das Wesen der Organisation bedingt die Art der Aufgabe, die zu erfüllen ist: Vertrieb, Produktion, Forschung, Controlling, Kundenbetreuung, Logistik, Personalentwicklung, Verwaltung, IT-Dienste und so weiter. Der Erfolg bei der Aufgabenerfüllung beeinflusst die Organisation – ihren Unternehmenserfolg, ihr Kundenimage, ihr innovatives Potenzial, ihr Unternehmensklima.

Ich als Mensch wiederum erfülle meine beruflichen Aufgabe, stifte meinen Nutzen für das Unternehmen, auf meine ganz spezifische Art und Weise - und die Aufgabenerfüllung, mein Erfolg oder Nicht-Erfolg, beeinflusst wiederum mich als Person, mein Handeln, mein Denken, mein Fühlen, meine Lebenszufriedenheit, meine berufliche Identität.

Ein Aspekt schließlich lässt dieses Dreieck zur Pyramide oder genauer zum Tetraeder werden: soziale Kompetenz, sagt die Definition, ist die Fähigkeit, als Person in der Organisation die entsprechenden Aufgaben kompetent zu erfüllen, indem ich die diesen Aufgaben entsprechende Rolle einnehme.

Wir alle nehmen in unserem Leben verschiedene Rollen ein: ob als Partner/in, als Mutter/ Vater, als Kunde/in, als Führungsperson, als Mitarbeiter/in und viele andere mehr. Das hat nichts mit Theater zu tun – wir spielen da nicht jeweils jemand Anderen, sondern sind immer wir selbst, in derselben Identität. Wir begreifen uns immer als ein und denselben Menschen, aber wir stellen verschiedene Aspekte unserer Person, unseres Mensch-Seins in den Vordergrund und andere in den Hintergrund.

Beispielsweise sagen mir manchmal Trainingsteilnehmer/innen, dass sie meine Geduld und Genauigkeit beim Zuhören schätzten und scheinen mich bisweilen für einen der geduldigsten Menschen der Welt zu halten. Wenn meine mittlerweile erwachsenen Kinder sich an manche Auseinandersetzungen vor einigen Jahren über den Zeitpunkt ihrer nächtlichen Heimkehr oder die Verwendung meines Autos erinnern, würden sie das mit der Geduld wahrscheinlich etwas differenzierter sehen.

Das heißt aber nicht, dass ich ein strenger und unduldsamer Mensch wäre und im Training etwas vorspielen würde. In meiner Person gibt es Aspekte, die mich geduldig und aufmerksam zuhören und Verständnis empfinden lassen können – und andere, mit denen ich auch auf etwas ungemütliche Art und Weise Grenzen ziehen kann. In unterschiedlichen Situationen, gegenüber unterschiedlichen Menschen, in unterschiedlichen Zusammenhängen kommen die eine oder andere Seite (und natürlich noch mehr) unterschiedlich zum Ausdruck, indem ich unterschiedliche Rollen einnehme.

 

Denn entgegen einem weitverbreiteten Irrtum sind wir Menschen keineswegs eindeutig strukturiert, sondern vielschichtig, vielseitig und komplex. Das fällt uns meist nur im negativen Zusammenhang auf – „Und ich habe geglaubt, ich kenne diesen Menschen, dabei ist er ganz anders, ich kenne ihn nicht wieder. Das ist nicht der Mann, den ich geheiratet habe“, sagen wir dann. Oder: „Ich müsste doch wissen, was ich will. Ich fühle mich völlig zerrissen, weil es einfach so viel gibt, was dafür und was dagegen spricht.“

Jede/r von uns hat eine große Menge an Persönlichkeitsanteilen, viele davon sind uns überhaupt nicht bewusst oder werden es erst in entsprechenden Situationen. Das hört sich dann so an: „Ich hätte nie geglaubt, dass mich das so kränken könnte“ oder „Wenn du mich vor einem Jahr gefragt hättest, ob ich so eine Aufgabe bewältigen kann, hätte ich mir das nicht vorstellen können“. Wir sind ständig – zum Großteil außerhalb unseres Bewusstseins – damit beschäftigt, diese Anteile in uns so zu gruppieren und zum Einsatz zu bringen, wie es der Situation angemessen ist (etwas, das Professor Unrat eben nicht kann: er verhält sich in allen Situationen stereotyp in der selben Rolle – nicht einmal, als die mittlerweile mit ihm verheiratete Rosa Fröhlich ihn nach Strich und Faden betrügt, verlässt er sein verstaubtes Vokabular aus ‚traun fürwahr’, ‚hinwiederum nun freilich’ und ‚aufgemerkt nun also!’). Meist gelingt uns das auch durchaus, und wir verhalten uns in etwa so, wie wir das von uns selbst erwarten und auch so, wie es die Umwelt von uns erwartet (oder finden zumindest einen Kompromiss zwischen diesen beiden Aspekten).

Soziale Kompetenz bedeutet nichts anderes, als dass wir unsere Persönlichkeit so gut kennen und so mit ihr umgehen können, dass wir in spezifischen Situationen die Stärken und Schwächen, die wir haben, möglichst konstruktiv einsetzen.

Im beruflichen Kontext heißt das: ich stehe als Person in einem bestimmten organisatorischen Zusammenhang und habe dort eine oder mehrere Aufgaben zu erfüllen. Um das möglichst effektiv zu tun, überlege ich mir, welche Rolle ich dafür einnehmen will – und wie ich das unter Berücksichtigung meiner Persönlichkeitsanteile tun kann.

Wir setzen uns in der Gesellschaft für Personalentwicklung intensiv damit auseinander, welche Rollen wir als Trainerinnen und Trainer einnehmen müssen; je nach Trainingsinhalt, Trainingsteilnehmer/innen, Zielen des Trainings und vielen anderen Parametern können das sehr unterschiedliche Rollen sein.

 

In einem Führungskräftetraining für junge Nachwuchsführungskräfte aus unterschiedlichen Firmen beispielsweise, wie ich es kurz vor Ostern durchgeführt habe, tritt ein Trainer meines Alters und Erfahrungshintergrunds eher nicht zu kumpelhaft auf, sondern wird mehr die Rolle eines Lehrers und eines Experten einnehmen, um den Teilnehmer/innen behutsam Schritte in ihrer Entwicklung zu ermöglichen. Bei einer über mehrerer Workshops dauernden Entwicklungsmaßnahme für die Führungskräfte eines Industrieunternehmens im letzten Jahr waren es die Rollen des Impulsgebers und des Analytikers, oft auch die des Kritikers und des Reibebaums, die uns allen geholfen haben, durch eine für das Unternehmen schwierige Phase durch zu steuern.

Im Intensiv-Workshop ‚Sozialkompetenz compact’, in dem alle die hier besprochenen Dinge intensiv mit den Teilnehmer/innen erarbeitet werden, nehmen mein Trainerkollege und ich zu einem guten Teil die Rollen von Coaches (wenn es darum geht, persönliche Stärken und Schwächen zu erarbeiten), von Gruppendynamikern (wenn es um Teams und Teamentwicklung geht) und von Experten ein.

Vermutlich sind Sie alle schon eifrig beim Nachdenken, was denn die Rolle oder die Rollen sein könnten, die für Sie beruflich effektiv und effizient sind.

Lassen Sie mich Ihnen noch ein Beispiel aus einem Coaching-Prozess schildern, das Ihnen für Ihre Überlegungen zusätzliche Impulse geben soll. Vorausschickend ist zu erwähnen, dass natürlich alle Daten und Fakten der Fallgeschichte verändert und anonymisiert wurden.

 

Frau Mag.a G. ist 42 und leitet ein Dienstleistungsunternehmen mit 16 Mitarbeitern/innen im Großraum Linz. Sie ist alleinige Eigentümerin der Firma und hat sie nach dem Tod ihres Vaters vor 7 Jahren von diesem übernommen.

Sie kommt in einer für das Unternehmen schwierigen Situation zum Coaching: in ihrem weiteren Einzugsgebiet war die Firma bisher nahezu konkurrenzlos. Das wird sich im Lauf des nächsten Jahres ändern: in unmittelbarer geographischer Nähe wird sich ein Mitbewerber auf dem Markt ansiedeln, der bereits offensiv begonnen hat, zu akquirieren - unter anderem auch bei Frau G.s Stammkunden.

Dadurch hat sich die Situation auch im Team dramatisch verändert: bisher lief – nach ihrer Aussage – „der Laden praktisch von selbst“. Ihre Mitarbeiter/innen sind Menschen mit hoher Fachkompetenz, sehr individualistisch und nicht gewohnt, mit Konkurrenzdruck umzugehen. Bisher war es nicht notwendig, sich um Kunden wirklich intensiv zu bemühen; die Quasi-Monopolsituation und die Fachkompetenz reichten aus. Frau G. konnte sich darauf beschränken, zu koordinieren und den Personaleinsatz zu steuern – viel mehr an Führung brauchte es bisher nicht.

Ihr ist klar, dass das so nicht länger funktionieren wird – ab sofort ist von ihren Mitarbeiter/innen strategisches Denken, pro-aktives Handeln und intensive Vernetzung untereinander gefordert. Frau G.s Wunsch an mich ist ursprünglich auch, einen Teamentwicklungs-Workshop durchzuführen, um den Umdenkprozess bei den Teammitgliedern in Gang zu bringen. Allerdings stellt sich bei einer ersten Vorbesprechung heraus, dass das Team von dieser Idee wenig begeistert ist. Eine Mitarbeitern sagt bei diesem Treffen ganz deutlich: „Wieso sollen wir uns was überlegen, Susanne (das ist Frau G.)? Du bist schließlich die Chefin!“

Das ist der Punkt: Frau G. ist zuerst in ihrer Führungsrolle gefragt, bevor etwaige Teamentwicklungsprozesse anzudenken sind. Und es geht für sie auch nicht in erster Linie darum, auf einem Führungskräftetraining Tools und Instrumente des Führens und Steuerns kennen zu lernen (das hat sie alles schon längst getan), sondern um die zentrale Fragestellung der Sozialkompetenz:

Wie kann ich

  • als der Mensch, der ich bin
  • in der Organisation, für die ich tätig bin
  • die meinen Aufgaben entsprechende professionelle Rolle einnehmen?

 

Beginnen wir mit der Organisation:

Die aktuelle spezifische Aufgabenstellung des Unternehmens muss der veränderten Marktsituation Rechnung tragen; höhere Kundennähe als bisher und pro-aktives schnelles Agieren und Reagieren der fachkompetenten, aber individualistischen Mitarbeiter/innen sind unmittelbar überlebensnotwendig.

Die zentrale Aufgabe, die sich für Frau G. als Inhaberin und Geschäftsführerin daher stellt, ist: das Unternehmen veränderungsfit zu machen, das heißt, sowohl im Management als auch in der Menschenführung alle für die neue Konkurrenzsituation notwendigen Maßnahmen und Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Im Detail bedeutet das, aus den Einzelgänger/innen ein wirkliches Team zu formen und Schritte zur Kompensation des zu erwartenden Umsatzrückganges zu überlegen (z.B. neue Kunden zu akquirieren, neue Marktfelder zu erschließen, zu investieren oder zu sparen) und durchzuführen.

 

An diesem Punkt unserer Überlegungen im Coaching stelle ich Frau G. die Frage:

C.: Wie muss denn Ihrer Meinung nach eine Führungskraft auftreten, die sich in einem solchen Unternehmen solchen Aufgaben stellen will – einmal ganz unabhängig von Ihrer Person?

In der allgemeinen Form kann Frau G. diese Frage leicht beantworten:

G.: Also, ganz allgemein, wenn jetzt nicht speziell ich gemeint bin – Führungsqualität muss so ein Mensch zeigen, Entscheidungen treffen, vielleicht auch unpopuläre. Strategisch handeln, wahrscheinlich, und die Mitarbeiter mitreißen, mit einer Vision oder so.

C.: Das seh’ ich genau so, Frau G.. Eine klare Führungsrolle müsste ein Mensch in so einer Situation einnehmen, sich auch den notwendigen Konflikten stellen, Entscheidungsgrundlagen vorbereiten, Entscheidungen treffen und eine klare Vorstellung davon haben, was zu geschehen hat.

G.: O je, aber könnte nicht wer anderer dieser Mensch sein als ich? (lacht)

C.: Wieso nicht Sie?

G.: Weil ich viel zu harmoniebedürftig und zu konfliktscheu bin. Am liebsten ist es mir, wenn ich einfach als Kollegin gesehen werde und nicht als Führungskraft.

C.: Würden Sie sich als Mensch als harmoniebedürftig und als konfliktscheu beschreiben?

G.: Sie kennen mich doch schon ganz gut – sehen Sie das anders?

C.: Nein, anders nicht, aber nur als ein Teil der Wirklichkeit. Ich denke, Sie haben auch andere Eigenschaften als Chefin Ihrer Firma.

G.: Na ja, ehrgeizig bin ich schon! Das war seit dem Tode meines Vaters mein Ziel – aus diesem verstaubten Laden aus den Siebzigern ein modernes Unternehmen zu machen! Und ich glaube, bis jetzt ist mir das auch gelungen!

C.: Und haben Sie auch den Ehrgeiz, die Firma auch durch die neue Situation hindurch erfolgreich zu führen?

G.: Doch, den hab’ ich schon – hinschmeißen kommt vorerst sicher nicht in Frage! (Pause) Na ja, und sicher ist eine Stärke von mir, dass ich mir keine Illusionen mache, dass ich – im Unterschied zu den andern in der Firma – die Wirklichkeit so sehen kann, wie sie ist, und dass einiges anders werden muss, dass es so wie bisher nicht mehr weiter gehen wird.

C.: Dass Sie realitätsbewusst sind also?

G.: Ja, das könnte man so sagen.

 

Wenn wir also betrachten, wie Frau G. als Person für ihre Aufgaben gerüstet ist, was sie für Potenziale hat, die Rolle einzunehmen, die die aktuelle Situation von ihr verlangt, dann sehen wir das Eigenschaftenbündel „Ehrgeiz – Realitätsbewusstsein – Harmoniebedürfnis – Konfliktscheue“.

 

Abb. 3 zeigt, wie Frau G. die Intensität dieser Eigenschaften und ihr Verhältnis zueinander sieht (wenn es um die Führung ihres Unternehmens geht).

Ich zeichne Frau G. auf der Flipchart genau dieses Diagramm auf: Ziel ist es, dass sie, als der Mensch, der sie ist, mit ihren Eigenschaften, klar ihre Führungsrolle einnimmt und visionär, strategisch und entscheidungsorientiert vorgeht.

Sie denken, das ist schwierig? Nun, Frau G. hat ziemlich rasch konstruktive Ideen.

C.: Wie könnten Ihnen diese Eigenschaften helfen, Ihr Ziel zu erreichen?

G.: Hmm – wie ich gesagt habe, da steht mir die Konfliktscheue und das Harmoniebedürfnis im Weg.

C.: Orientieren Sie sich nicht nur an diesen beiden großen Blöcken. Da stehen noch zwei andere wichtige Persönlichkeitsmerkmale: Sie sind ehrgeizig, und Sie haben ein gut entwickeltes Realitätsbewusstsein.

G.: Stimmt! Vielleicht könnten wir da was draus machen? Der Ehrgeiz müsste größer werden als das Harmoniebedürfnis. Ich muss den Ehrgeiz stärker entwickeln, diese Situation erfolgreich zu bewältigen! (Pause) Aber da besteht die Gefahr, dass ich über meine Leute drüber fahre... die sind oft so langsam darin, zu begreifen, um was es geht... und für sie ist es ja auch nicht leicht! Ich kann schlimmstenfalls die Firma verkaufen und mir mit dem Geld ein schönes Leben machen, aber für die sind das ziemlich unersetzbare Arbeitsplätze, die verdienen recht gut bei mir... Sie merken schon, da kommt jetzt die Konfliktscheue ins Spiel! Da würd’ ich’s dann am liebsten jedem recht machen und nur lieb und nett sein!

C.: Diese Konfliktscheue hat ja auch deutlich positive Aspekte.

G.: Ja klar, ich kann mich gut in andere Menschen hinein denken und ihre Ängste und Sorgen verstehen.

C.: Verständnis?

G.: Ja, Sie haben recht, eigentlich geht es da um Verständnis, eigentlich um soziales Bewusstsein. Und das halte ich schon für wichtig für eine Unternehmerin!

C.: Ich auch! So gesehen, könnte Ihnen das ja zusammen mit dem Ehrgeiz zu einer guten Ausgewogenheit beim Führen verhelfen.

G.: Ja – das soziale Verständnis bremst den Ehrgeiz auf ein gesundes Maß ein, und der Ehrgeiz hilft, dass das Verständnis nicht zu groß wird.

C.: Trauen Sie sich so zu, die nötigen Konflikte auszutragen?

G.: Ja, einfach wird’s immer noch nicht werden, aber schließlich kann ich nur mit Verständnis allein nicht die Arbeitsplätze halten.

C.: Und an dieser Stelle kommt Ihr Realitätsbewusstsein ins Spiel – und auch das braucht wahrscheinlich eine gewisse Aufwertung.

G.: Sicher – aber haben wir da nicht auch wieder eine gesunde Bremse? Ich möchte ja nicht nur mit dem Rechenstift in der Hand herumrennen! Und ich möchte auch nicht so gesehen werden.

C.: Wie möchten Sie denn gesehen werden?

G.: Als Teil eines Teams, mit einer bestimmten Verantwortung für das Ganze.

C.: Mit welcher?

G.: Eigentlich dafür, dass bei allen ein Bewusstsein dafür entsteht, dass wir das nur gemeinsam schaffen werden, wenn jeder Verantwortung übernimmt. Aber das versuch’ ich ja schon die ganze Zeit, ihnen klar zu machen!

C.: Vielleicht ohne die nötige Portion Realismus: wenn wir das nicht schaffen, wird es uns möglicherweise eines Tages nicht mehr geben.

G.: Ja, und dann wär’s nämlich aus mit der Harmonie.

C.: Bestimmt – man würde Sie dann mit Recht dafür verantwortlich machen, dass Sie Ihre Verantwortung nicht rechtzeitig wahrgenommen haben.

G.: Also ‚Harmoniebedürfnis’, das gefällt mit jetzt nicht mehr so, das ist mir zu abgehoben, zu illusionär.

C.: Was passt besser, um die konstruktive Seite dieser Eigenschaft ins Spiel zu bringen?

G.: Na ja, entwickelt hab’ ich das ja, weil ich nicht so ein autoritärer Patriarch wie mein Vater sein wollte in der Firma, sondern ein Team haben. Teambewusstsein?

C.: Teambewusstsein?

G.: Ja, Teambewusstsein, das gefällt mir gut. Und das gibt auch ein gutes Paar ab mit dem Realitätsbewusstsein: ein Team können wir nur sein, wenn es die Firma noch gibt. Und ohne Team wird die Firma nicht überleben.

 

 

Ich zeichne die Veränderungen im Diagramm ein. Frau G. betrachtet es lange.

 

G.: Ja, das schaut gut aus. Sagen Sie, könnten wir nicht noch eine Verknüpfung zwischen ‚Ehrgeiz’ und ‚Realitätsbewusstsein’ zeichnen? Die müssen sich doch auch gegenseitig beeinflussen! Damit ich einerseits realistische Ziele und Maßnahmen setze, und andererseits mich auch nicht zu schnell zufrieden gebe. Das könnte nämlich eine Gefahr sein – da könnte sich das Harmoniebedürfnis wieder einschleichen.

 

In den nächsten Coachingsitzungen bildet dieses Diagramm immer wieder den Hintergrund unserer Arbeit; wir besprechen die Erfahrungen, Erfolge und Rückschläge, die Frau G. in der Umsetzung ihrer Rolle erlebt.

Die Markteinführung des Konkurrenten ist vor mittlerweile fast einem Jahr erfolgt, und bis jetzt schlägt sich Frau G.’s Firma sehr gut: sie hat ihren Kundenstock im Wesentlichen halten können und einige vielversprechende Neukunden dazu akquirieren können. Sie musste einige Preisanpassungen durchführen (das heißt, sie musste billiger werden); durch den Abgang von zwei Mitarbeiter/innen, die sich durch den Veränderungsprozess und die erforderliche Mehrarbeit überfordert fühlten, wurde das im Wesentlichen ausgeglichen.

Mittlerweile gibt es in der Firma interessante Pläne: wir haben vor kurzem den seinerzeit geplanten Workshop zur Teamentwicklung unter dem Titel ‚Vision 2015’ durchgeführt. Dabei wurden einige Ideen zur Expansion der Firma diskutiert; schließlich wurde Kurs auf eine Erweiterung des Dienstleistungsangebotes genommen. Dieses Projekt läuft derzeit mit ermutigenden Ergebnissen als Pilotprojekt; eine von Frau G.’s Mitarbeiterinnen hat sich zu einer Schlüsselarbeitskraft entwickelt und soll diesen neuen Geschäftsbereich weitgehend eigenständig leiten.

So weit der Prozess von Frau G. und ihrem Unternehmen. Sie erinnern sich an die Wechselwirkung der 4 Parameter – Mensch, Organisation, Aufgabe und Rolle – in unserer ‚Pyramide’ der Sozialen Kompetenz. In diesem Fall habe ich mit Frau G. hauptsächlich an der Achse Mensch – Rolle angesetzt, und die Veränderung dort hat sich auf die anderen beiden Faktoren ebenfalls ausgewirkt: ihre Aufgabe als Leiterin des Unternehmens wandelt sich mit der wachsenden Eigenverantwortung des Teams, und auch die Organisation ist dabei, sich zu verändern.

Dieses Konzept der Sozialkompetenz lässt sich flexibel immer genau auf der Ebene oder auf dem Ansatzpunkt anwenden, wo Bedarf besteht:

Nehmen wir an, dass sich die Aufgabenstellung einer Person im Unternehmen verändert: jemand, die/der bisher Backoffice gearbeitet hat, soll jetzt Kundenkontakte haben, eine Person, die klassisch in der Hierarchie geführt hat, soll jetzt ein abteilungsübergreifendes Projekt koordinieren; durch Zusammenführung von Teams entsteht Konfliktpotenzial. Hier könnte es darum gehen, die skills der Person für die Erfüllung der Aufgabe zu verbessern, weil andere kommunikative Fähigkeiten als bisher gefordert sind. Diese neuen Fertigkeiten könnte der Mitarbeiter/ die Mitarbeiterin beispielsweise durch ein Verkaufstraining, durch ein Moderationstraining, durch Techniken des Konfliktmanagements, durch ein personal coaching lernen. Mit dieser Maßnahme setzen wir dann an der Achse Aufgabe – Mensch an, um von dort aus ein Wachsen der Sozialkompetenz zu ermöglichen.

Letztes Beispiel: von Seiten der Geschäftsführung besteht Unzufriedenheit mit der Tätigkeit einer Stabsstelle, beispielsweise der Personalentwicklung oder des Controllings. Nähere Analysen zeigen, dass das nicht an mangelnder fachlicher Kompetenz der Personalentwicklerin oder des Controllers liegt, sondern daran, dass ihre Arbeit nicht in die Organisation eingebunden ist und daher keine entsprechende Unterstützung findet. Durch organisatorische Veränderungen – z.B. Teilnahme an strategischen Meetings, Ausstattung der Stabsstellen mit Befugnissen und Kompetenzen, klare Aufgabendefinitionen – wird der Mitarbeiterin/ dem Mitarbeiter ermöglicht, ihre Rollen entsprechend ihrer Fachkompetenz einzunehmen: hier erfolgt die Intervention also auf der Ebene Organisation - Aufgabe.

Sie sehen also, dass ‚soziale Kompetenz’ ein sehr pragmatischer und den jeweiligen Erfordernissen gut angepasster Ansatz ist, der darauf hinausläuft, größtmögliche Wirkung mit sparsamen und der Situation angemessenen Mitteln zu erzielen.

 

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Zitate aus:

  • Mann, Heinrich: Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. Claassen Verlag Düsseldorf 1976

 

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