38 DIE KUNST DER STARKEN FÜHRUNG

 

Vortrag auf der Tagung „Forum Personalführung“ der Justizakademie des Landes Nordrhein-Westfalen

Recklinghausen, Mai 2019

Frau T. kommt auf Empfehlung ihres Vorgesetzten in meine Praxis zum Führungskräftecoaching. Sie arbeitet für die Finanzverwaltung und leitet seit kurzem ein Referat mit acht Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Sie erzählt:
T: Es hat einen ganz speziellen Grund, warum ich zu Ihnen komme. Ich habe das Referat vor drei Monaten übernommen, ich war vorher in einem anderen Amt tätig. Wenn ich gewusst hätte, was da auf mich zukommt! Ich hatte ja schon vorher Führungserfahrung, darum wurde ich auch nach W. versetzt. Mein Vorgänger wurde in den vorzeitigen Ruhestand geschickt, viel mehr hatte ich nicht an Vorinformation. Bald hörte ich die ersten Gerüchte: er sei hinausgemobbt worden, nicht von den Mitarbeitern, sondern von Kollegen auf der gleichen und auch auf höherer Ebene. Man hätte ihm vorgeworfen, er sei eine schlechte Führungskraft und hätte die Konflikte im Team nicht in den Griff bekommen.
Coach: Diese Gerüchte – wo haben Sie die gehört?
T: Von allen möglichen Seiten, aus dem Team, von anderen Kollegen in anderen Teams. Die offizielle Version war, dass er krank gewesen ist. Von Führungskräften im Haus und außerhalb hörte ich dann Dinge wie: wir sind gespannt, wie lange du das machen wirst. Dieses Team hat in den letzten fünf Jahren drei Referatsleiter verschlissen.
Coach: Verschlissen?
T: Ja, das war der Ausdruck, der verwendet wurde. Auf mein Nachfragen ist mir gesagt worden, das Team sei wohl unführbar.
Coach: Was haben denn diese Formulierungen in Ihnen ausgelöst? Verschlissen, unführbar, wie lange Sie das machen werden, hinausgemobbt, Konflikte nicht in den Griff bekommen?
T: Zuerst habe ich mir gedacht, nur die Ruhe, Sylvia, so schlimm wird das nicht sein. Du wirst das schon schaffen.
Coach: Und dann?
T: Dann bin ich allmählich unruhig geworden. Das ist ja schon eine ziemliche Hypothek, habe ich mir gedacht. Und habe weiter nachgefragt: warum denn das Team unführbar sein soll, was das für Konflikte seien? Aber ich habe weiter keine genauen Informationen bekommen. Zwischen den Zeilen war zu lesen, dass die Leute im Team nur mit ihren Konflikten untereinander beschäftigt seien und die laufende Arbeit ständig liegenbleiben würde.
Coach: Wie ist es Ihnen denn mit dem Team selbst ergangen?
T: Unterschiedlich. Manche waren mir gegenüber skeptisch, andere relativ wohlwollend, wieder andere eher neutral. In den Besprechungen war soweit alles okay, da ist mir nichts Besonderes aufgefallen. Mein Eindruck war, die halten sich eher bedeckt und wollen mich erst austesten.
Coach: Sie haben gesagt, Sie kommen aus einem ganz speziellen Grund zu mir. Was ist dieser Grund?
T: Ich fühle mich verunsichert. Mein Abteilungsleiter fragt ständig nach, wie es mir denn geht und wie es mit den Schwierigkeiten im Team aussieht. Ich kann aber keine sonderlichen Schwierigkeiten entdecken. Sie machen ihre Arbeit. Allerdings redet keiner über die Arbeit hinaus mit mir. Sie sind korrekt, höflich, aber wenn ich zum Kaffeeautomaten komme, verstummen die Gespräche. Ich koordiniere und organisiere, ich lasse mir berichten, aber ich habe nicht den Eindruck, dass ich da wirklich Menschen führe, mit all den Themen, die Menschen halt am Arbeitsplatz bewegen. Ich komme nicht in Kontakt mit ihnen.
Coach: Erleben Sie sich angefeindet?
T: Angefeindet wäre zu viel gesagt. Oder vielleicht doch, eher subtil. Ich komme mir als Außenseiterin vor.
Coach: Und wie fühlt sich das an?
T: Wie gesagt, ich bin verunsichert.
Coach: Angst?
T: Wenn Sie mich so direkt fragen – irgendwie schon. Angst, dass ich so meine Aufgabe nicht erfüllen können werde. Ich befürchte, dass noch mehr Widerstände kommen werden, dass die Arbeitsaufträge nicht so erledigt werden, wie das sein soll. Dass die angekündigten Konflikte im Team aufpoppen. Und dass ich keine Möglichkeit haben werde, das alles zu hinterfragen, geschweige denn, die Mitarbeiter zu motivieren.
Coach: Angst, dass die gemunkelten Prophezeiungen in Erfüllung gehen könnten? Dass das Team für Sie auch unführbar werden könnte und Sie eine weitere verschlissene Führungskraft werden könnten?
T: Ja, genau so.

Verlassen wir für den Moment das Coaching mit Frau T. und stellen wir einige Überlegungen dazu an. Zuerst: Was ist das überhaupt – Führen?

Im ersten unserer zwei Bücher über Führung, „Positive Führung“, geben Henning Schulze und ich dafür folgende Definition:
Führen bedeutet

• Ziele zu definieren oder vorgegebene Ziele umzulegen,
• entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen oder bereitzustellen und
• auf Menschen einzuwirken, um sie zu Haltungen und Handlungen zu bewegen, die zur Erreichung der Ziele notwendig sind

Führen ist eine Dienstleistung, und sie bewegt sich gleichzeitig in fünf Dimensionen:

Die Persönlichkeit der Führungskraft: Das ist das, was ich als Mensch in meinen Ressourcen und meinen Grenzen, mit meinen Stärken und Schwächen, mit meiner Vorerfahrung, meiner Fähigkeit zur Selbststeuerung, meiner Motivation, meiner Konfliktfähigkeit einbringe. Was wissen wir darüber bereits von Frau T.? Sie scheint sich als Führungskraft bewährt zu haben und sie bringt eine Portion Selbstvertrauen und Gelassenheit mit. Es gibt allerdings eine Seite in ihr, in der sie sich verunsichern lässt. Das scheint zum einen mit den unklaren und gerüchteartigen „Informationen“ zu tun zu haben, andererseits mit der subtil ablehnenden Haltung des Teams. Und möglicherweise auch mit ihrer Persönlichkeit, doch da wissen wir noch nichts Näheres. Das könnte nach dem, was Frau T. erzählt und wie sie es erzählt, ein erster wichtiger Ansatzpunkt sein: sich mit sich selbst und ihrem subjektiven Umgang mit der Situation auseinanderzusetzen, bevor sie sich mit der zweiten Dimension beschäftigt:

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: Hier geht es um die Persönlichkeiten der Menschen, die geführt werden – mit deren Ressourcen und Grenzen, mit ihren Stärken und Schwächen, mit ihrer Vorerfahrung, ihrer Fähigkeit zur Selbststeuerung, ihrer Motivation und ihrer Konfliktfähigkeit.

Die dritte Dimension ist das Medium, mittels dessen sich die Beziehung zwischen Führungskraft und Mitarbeitern, aber auch innerhalb der Organisation und mit Kunden ereignet: Die Kommunikation. Das wiederum geschieht auf dem Hintergrund der vierten Dimension:

Der Führungsauftrag: was sind die Ziele und die Arbeitsaufträge, die ich anstrebe und erreichen will? Stimmen die Rahmenbedingungen dafür? Und wie kann ich die mir anvertrauten Menschen dazu bewegen, mit mir das Angestrebte zu erreichen?

Die fünfte Dimension schließlich ist die Organisation, in deren Rahmen und für die Führung ausgeübt wird.

Diese Dimensionen sind nicht hierarchisch, sondern parallel zu sehen: Frau T. setzt ihre Persönlichkeit als Instrument des Führens ein, muss dabei die Persönlichkeiten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter berücksichtigen und mit ihnen kommunizieren, um so führen zu können, wie es unter den Besonderheiten ihrer Organisation (der Finanzverwaltung als Organ der öffentlichen Verwaltung) möglich und notwendig ist. Je nach gegebener Situation gibt es Prioritäten im Umgang mit den Dimensionen: welche steht oder stehen gerade im Vordergrund?

Gehen wir wieder zur ersten Coachingsitzung mit Frau T. zurück. Nach der ausführlichen Schilderung ihrer Sichtweise und einer kurzen Erklärung der fünf Dimensionen des Führens fasse ich zusammen:

Coach: Ich denke, der Rahmen und die Strukturen Ihrer Organisation – der Finanzverwaltung als Ganzes und Ihres Amtes und Ihres Referates im Besonderen – sind Ihnen klar, mit all den Möglichkeiten und den Grenzen, die es in der öffentlichen Verwaltung gibt. Auch Ihr Auftrag scheint Ihnen bewusst zu sein: dafür zu sorgen, dass Ihr Referat die entsprechenden Sachverhalte dokumentiert, in Abstimmungen mit den Kunden entsprechende Akte erstellt und Bescheide erteilt. Das sollte möglichst zeitnah und für die Kunden verständlich geschehen. Sehe ich das bisher richtig?
T: Ja, genau, so ist es. Aber das ist die Theorie – in der Praxis…
Coach: Dazu komme ich jetzt. Die anderen drei Dimensionen sind nicht so eindeutig. Sie erleben es als schwierig, mit Ihrem Team entsprechend zu kommunizieren und kommen nicht so recht an die Personen heran. Sie fühlen sich verunsichert und auch etwas ängstlich.
T: Ja, das trifft es gut. Und was kann ich da tun?
Coach: Was sind denn Ihre Ideen dazu?
T: Ich habe mir schon überlegt, mit den Mitarbeitern einzeln ausführlich zu sprechen. Bei uns gibt es zwar keine formalen Mitarbeitergespräche, aber ich könnte ja so etwas machen. Feedback geben, Feedback einholen, Entwicklungsziele und Maßnahmen besprechen. Aber wenn sie nicht mit mir kommunizieren wollen, fürchte ich, da wird nicht viel dabei herauskommen.
Coach: Wenn Sie davon ausgehen, dass nicht viel herauskommt, wird wahrscheinlich auch nicht viel dabei herauskommen. Es wäre das, was man eine sich selbst erfüllende Prophezeiung nennt.
T: Ja, den Ausdruck kenne ich aus meinen Führungskräftetrainings.
Coach: Da könnte es Sinn machen, als erstes auf Ihre Persönlichkeit hinzuschauen.
T: Auf meine Persönlichkeit?
Coach: Auf die Haltung, die Sie mittlerweile zu der Situation eingenommen haben. Auf Ihre Unsicherheiten und Ihre Befürchtungen. Auf die Rolle, die Sie einnehmen können und wollen. Auf Ihre subjektiven Möglichkeiten und Grenzen.
T: Das halte ich für eine gute Idee. Und danach nehmen wir uns dann die Kommunikation und die Persönlichkeiten der Mitarbeiter vor.
Coach: Einverstanden.

Führung lässt sich mit dem Navigieren eines Schiffes vergleichen, wobei dieses „Schiff“ nicht unbedingt ein großer hochtechnologisch ausgerüsteter Tanker oder ein turmhohes Kreuzfahrtschiff sein muss.  Es kann auch ein kleines Fährboot oder sogar ein Floß sein. Geführt wird nicht nur an der Spitze großer Organisationen, sondern auch in Teams mit zwei oder drei Personen. Auch eine Grundschullehrerin führt ihre Klasse. Für alle diese Schiffe aber gilt: der Kapitän oder die Kapitänin, der Fährmann oder Steuermann, die Fährfrau oder Steuerfrau muss Tiefen und Untiefen, Strömungsgeschwindigkeit, meteorologische Bedingungen, die Geschwindigkeit des Schiffes, seine Wendigkeit und andere Faktoren im Auge behalten. Diese Parameter entsprechen den Dimensionen des Führens: die eigene Persönlichkeit und die Persönlichkeiten der Mitarbeiter, die Kommunikation, der Führungsauftrag und die Organisation. Gesteuert wird das Schiff mithilfe verschiedener beeinflussbarer Größen: Tempo, Kurs und Lage des Schiffes im Wasser.
Diese vom Seefahrer beeinflussbaren Größen können wir – auf das Führen umgemünzt – Stellschrauben nennen, die laufend justiert werden müssen. Diese sind

• die persönliche Autonomie,
• die Klarheit über die eigene Rolle (oder Rollen) und über die der anderen handelnden Personen,
• die Klarheit über die Grenzen der Organisation, der eigenen Einheit, der Ziele, der handelnden Personen und über die eigenen Grenzen,
• Motivation und Selbstmotivation der handelnden Personen und die
• Persönliche Resilienz und die der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen

Die Stellschrauben können dann auf die jeweilige Dimension hin angewandt werden.

Sehen wir uns das wieder am Beispiel von Frau T. an, mit der ich vereinbart habe, sich als erstes mit der Dimension der eigenen Persönlichkeit im Zusammenhang mit ihrer Führungstätigkeit zu befassen. Dabei werde ich mich auf verschiedene psychologische Modelle oder besser „Landkarten“ zur Orientierung in der Landschaft menschlichen Fühlens, Denkens und Handelns beziehen. Wir, mein Kollege Henning Schulze, mit dem ich ein Institut leite und gemeinsam schreibe veröffentliche und lehre, und ich reden nicht gerne von „Theorie“, von „Modellen“ oder von „Konzepten“. Das ist uns zu hochgestochen und zu abstrakt und klingt uns zu sehr, als ob es hier um so etwas wie „Wahrheiten“ ginge. Doch alle psychologischen Ansätze sind keine Wahrheiten, sondern Versuche, vereinfachende Annäherungen an etwas sehr Komplexes und sehr Kompliziertes vorzunehmen: menschliches Fühlen, Denken und Verhalten, menschliches Interagieren und Kommunizieren in sozialen Systemen. So, wie wir verschiedene Landkarten verwenden, um uns in der geografischen und topografischen Landschaft zurechtzufinden, Straßenkarten, Wanderkarten und so weiter, so helfen psychologische Landkarten, sich in den menschlichen Landschaften zurechtzufinden. Sie sind Landkarten, nicht die Landschaft selbst. Die meisten, die wir verwenden, kommen aus der psychologischen Methode, in der wir beide seit Jahrzehnten zu Hause sind: der Transaktionsanalyse.

Zurück zur ersten Stellschraube: Autonomie bedeutet „Eigenständigkeit“, also in diesem Zusammenhang die der Führungskraft als der Person, die sie ist und als die sie in der Organisation für die Erfüllung ihres Führungsauftrages auftritt. Im Menschenbild der Transaktionsanalyse kommt der persönlichen Autonomie ein zentraler Wert zu. Gemeint ist damit die Fähigkeit, in vollem Umfang der Mensch zu sein, der ich bin und sein kann, also die persönlichen Potenziale ausschöpfen zu können. Sie ist der Gegenpol zu Abhängigkeit. Autonomie setzt sich aus drei Bestandteilen zusammen:
- Bewusstheit: ich bin mir dessen, was ich fühle, denke und tue, bewusst und kann andere Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit und in ihrer Ähnlichkeit zu mir wahrnehmen.
- Spontaneität: ich kann frei wählen, wie ich meine Gefühle und Gedanken ausdrücke und wie ich handle. Ich bin frei in der Wahl meines Fühlens, Denkens und Handelns und habe dadurch viele Möglichkeiten in der Gestaltung von Beziehungsprozessen.
- Intimität: ich kann Nähe herstellen, indem ich mich verstehend in andere Menschen hineinversetze und meine Gefühle und Bedürfnisse offen mitteilen.

Nachdem ich Frau T. diese erste Stellschraube erläutert habe, stelle ich ihr die Frage:
Coach: Wie autonom beziehungsweise wie abhängig erleben Sie sich denn in Ihrer momentanen Führungssituation?
T: Ich denke, ich bin da schon relativ autonom in die Situation hineingegangen. Aber mit all diesen ungenauen Informationen und meiner wachsenden Verunsicherung bin ich abhängiger und abhängiger geworden.
Coach: Sind Sie das geworden – oder haben Sie selbst sich abhängiger und abhängiger gemacht?

Dieser sprachliche Unterschied ist wichtig: mit der Formulierung „ich bin abhängig geworden“ definiert sich Frau T. als jemand, mit dem etwas geschieht, nicht als eine Person, die Einfluss auf ihr eigenes Fühlen, Denken und Handeln hat. Sie nimmt damit eine passive und erst recht abhängige Position ein.

T: Sie meinen, das ist etwas, was ich selbst mache? Die Abhängigkeit? Aber bin ich nicht immer in Beziehungen von anderen abhängig? Von dem, was die tun und sagen?
Coach: Abhängig oder darauf bezogen?
T: Stimmt, das ist ein Unterschied. Wenn ich mich abhängig mache, warte ich ab, was von den anderen kommt. Wenn ich mich darauf beziehe, kann ich mir überlegen, was ich selbst für Optionen habe. Aber welche habe ich denn?
Coach: Lassen Sie uns mit dieser Ihrer autonomen Haltung – ich habe Optionen – auf die nächsten beiden Stellschrauben schauen.

Zur nächsten Stellschraube, der Rollenklarheit, können wir eine weitere Landkarte aus der Transaktionsanalyse verwenden: das 3-Welten-Modell. Als die Persönlichkeit, die wir als Menschen sind, bewegen wir uns in verschiedenen Rollen und leben damit im Wesentlichen in drei Welten: in der Privatwelt, der Professionswelt und der Organisationswelt.
Wenn wir mich selbst als Beispiel nehmen: in meiner Privatwelt bin ich Partner, Vater, Stiefvater, Schwiegervater, Großvater, Freund und noch einiges mehr. In der Welt meiner Profession als Psychologe nehme ich auch mehrere Rollen ein. Hier zum Beispiel stehe ich vor Ihnen als Vortragender. In meiner Praxis in Linz bin ich Psychotherapeut, Paartherapeut, Coach und Supervisor. Dann bin ich Lehrbeauftragter an einer Hochschule, Autor, Aus- und Weiterbilder, psychologischer Berater eines Theaters und so weiter. In der Welt der Organisationen, in denen und für die ich tätig bin, habe ich Rollen im Rahmen der Hochschule, als Co-Leiter eines Weiterbildungsinstituts, über Verträge mit Organisationen aus dem Profit- und Non-Profit-Bereich, für die ich tätig bin, wie zum Beispiel jetzt gerade für die Justizakademie NRW. Dann kommen noch Mitgliedschaften in Berufsverbänden dazu. Natürlich bin ich immer derselbe Mensch, der aber ganz unterschiedlich in Erscheinung tritt. Meine Enkeltöchter kennen und erleben mich als Opa Klaus und damit ganz anders, als Sie mich hier erleben, und das ist wieder ganz anders, als mich ein Paar in einer schwierigen Beziehungskrise erlebt. Der Wechsel zwischen diesen Rollen geht oft ganz selbstverständlich, immer wieder aber ist es wichtig, mir der jeweiligen Rolle in der jeweiligen Welt deutlich bewusst zu sein. Vielleicht haben Sie sich jetzt, während ich spreche, Gedanken über Ihre verschiedenen Rollen in Ihren Welten gemacht. Heben Sie sich das auf, wir werden am Nachmittag in den Workshops noch darauf zu sprechen kommen.

In der dritten Coachingsitzung mit Frau T. kommen wir auf das Thema ihrer Rollen und ihrer Rollenklarheit zu sprechen. Nachdem ich ihr die Landkarte erklärt habe, erkundige ich mich nach ihren Gedanken dazu.

T: Als erstes fällt mir auf, dass da in meiner vorherigen Führungstätigkeit einiges an Vermischung zwischen Privat- und Organisationswelt war. Ich bin aus dem Team zur Führungskraft geworden und hatte da mit mehreren Kolleginnen ein oft sehr freundschaftliches Verhältnis gehabt. Wir haben auch viel privat unternommen, und als ich dann Leiterin war, habe ich auch wenn wir abends fortgegangen sind, viel über die Arbeit und die nicht anwesenden Leute aus dem Team und überhaupt aus der Finanz erfahren.
Coach: Und wie ist das heute, in ihrer neuen Position?
T: Das könnte Teil meiner Ratlosigkeit sein. Ich kenne niemanden aus dem Team privat und weiß oft nicht so recht, wie ich da in Kontakt kommen kann. Hier bin ich von vorneherein in der – ja, welche Welt ist das? Organisation oder Profession?
Coach: Wahrscheinlich beides. Was ist denn ihre Rolle in der Organisation?
T: Da bin ich Leiterin meines Referats am Finanzamt in W. Ich bin damit Teil der Finanzverwaltung des Landes und des Bundes.
Coach: Und in der Professionswelt?
T: Was ist da der Unterschied zur Organisationswelt?
Coach: Das, was Sie am Amt neben der Führungstätigkeit professionell tun.
T: Aha. Da bin ich Sachbearbeiterin, genauso wie die anderen im Referat, ausgenommen die Assistentin.
Coach: Und die Rolle, in der Sie hier beim Coaching sitzen?
T: Ist die der Führungskraft. Für die Sachbearbeitung brauche ich kein Coaching.
Coach: Wenn wir jetzt wieder auf die autonomen Optionen zurückkommen, von denen wir beim letzten Mal gesprochen haben – wie sieht es dann mit Ihren Rollen aus?
T: Da geht es dann darum, wie ich in meiner Rolle als Führungskraft auftrete, nicht als Privatmensch Sylvia.
Coach: Und das heißt für Sie?
T: Dass ich die Idee eher verwerfe, mich privat mit den Mitarbeitern zu treffen. Oder sie zu mir – das habe ich auch schon überlegt – nach Hause zu einer Grillparty einzuladen. Optionen in der Rolle als Führungskraft wären beispielsweise Mitarbeitergespräche, Teambesprechungen oder auch eine Art Klausurtagung.

Was ist der Grund, dass es Frau T. so wichtig wäre, privat mit den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen in Kontakt zu kommen? Mehr darüber werden wir gleich bei der dritten Stellschraube des Führens erfahren: den objektiven und den subjektiven Grenzen, die der Führungsperson, den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, der Kommunikation, die hinsichtlich des Führungsauftrages und der Organisation gesetzt sind. Die objektiven Grenzen für Frau T. in ihrem Führen sind klar definiert und sie sind ihr auch bewusst: sie hat keine dienstrechtlichen und keine finanziellen Befugnisse, kann also zum Beispiel niemanden entlassen und auch keine Gehaltserhöhungen vornehmen. Sie kann auch die Kompetenzen der Mitarbeiter nicht verändern, was die Dienstaufträge betrifft. Das alles ist durch die Rahmenbedingungen der Organisation bestimmt und ist Teil des Führungsauftrages. Was die subjektiven Grenzen betrifft, ist Frau T. aber einiges unklar.

T: Da werden mir schon einige Grenzen gesetzt: wenn die Mitarbeiter nicht mit mir kommunizieren wollen, dann kann ich noch so geschult sein, da ist Ende der Fahnenstange für mich. Da haben die Leute ihre Grenzen, warum auch immer.
Coach: Wie autonom erleben Sie sich denn, wenn Sie das so formulieren?
T: Ups… nicht so besonders. Da bin ich abhängig.
Coach: Sind Sie das, oder machen Sie sich abhängig?
T: Ach, Sie immer mit ihren pingeligen Fragen! Es gibt doch Situationen im Leben, da müsste man andere Menschen verändern können, und das geht halt nicht.
Coach: Nein, Andere können wir nicht verändern, nur uns selbst. Wenn wir das tun, dann verändern sich andere oder zumindest die Beziehungen zwischen ihnen und uns manchmal mit.
T: Ja, das ist die Theorie. Aber darf ich nicht auch mal hilflos sein?
Coach: Die Frage ist ja nicht, ob Sie dürfen. Erleben Sie mich so, dass ich es Ihnen verbieten will?
T: Wissen Sie, an was mich das erinnert? Vielleicht hat es ja nicht mit unserem Coachingthema zu tun, aber das erinnert mich an meine Grundschulzeit.

Das ist jetzt ein interessanter Punkt. Ich hatte schon länger die Vermutung, dass Frau T.s Unsicherheiten und Ängste, ihre Hilflosigkeit nicht nur mit der aktuellen Situation zu tun haben, sondern mit früheren Erfahrungen. Das lässt sich mit einer zentralen Landkarte der Transaktionsanalyse erklären: dem Skript, dem unbewussten Lebensplan. Das bedeutet, dass vieles von dem, was wir als Kinder erleben, auch unser erwachsenes Leben beeinflusst. An einem Beispiel verdeutlicht, das nichts mit Führen zu tun hat: ich arbeite in meiner Praxis sehr häufig mit Paaren, die in einer Krise stecken, und nicht selten geht es dabei natürlich auch um das Thema Trennung. Diese Möglichkeit löst bei manchen Menschen Ängste aus, die weit über die reale erwachsene Situation hinausgehen. Da fallen dann Äußerungen wie „Was soll ich denn tun, so ganz alleine?“ oder „Bitte verlass‘ mich nicht, ohne dich bin ich doch verloren!“ Dahinter steht dann nicht selten die Erfahrung, als Kind alleine gelassen worden zu sein. Meist unbewusst werden in einer kritischen Situation dann alte Ängste wieder wach – wir fühlen, denken und handeln dann ähnlich wie damals vor vielen, vielen Jahren. Diese Übertragung von früheren Beziehungserfahrungen auf gegenwärtige Beziehungen geschieht unbewusst. Wie an einem unsichtbaren Gummiband werden wir in Stresssituationen wieder zurückgezogen in unsere Kindheit und schränken unsere Autonomie, unsere Selbstbestimmtheit ein. Wir setzen uns damit subjektive Grenzen: ohne ihren Partner wäre die Frau, die ich vorhin zitiert habe, vielleicht in einer schwierigen Situation, aber „verloren“ wäre sie nicht. Sie ist ja erwachsen mit allen dementsprechenden Potenzialen und Ressourcen.

Solche aus dem unbewussten Lebensplan rührenden Übertragungen gibt es natürlich nicht nur im Privatleben, sondern auch im Beruf. Da wird der Chef als strenge Vaterfigur erlebt oder an die Vorgesetzte die Erwartung gerichtet, sie möge doch mütterlich und fürsorglich sein und ein offenes Ohr für alle Probleme und Problemchen haben. Coaching ist keine Psychotherapie, sie ist nicht der Ort für das ausführliche Aufarbeiten der Lebensgeschichte. Wichtig ist aber auch in diesem berufsbezogenen Prozess, die Verknüpfungen von gegenwärtigem mit früherem Erleben herzustellen, um Unbewusstes ins Bewusstsein zu heben und so die subjektiven Grenzen und Optionen zu erweitern. Sehen wir uns das weiter im Prozess mit Frau T. an. Sie hat gerade gemeint, die Situation erinnere sie an ihre Grundschulzeit.

Coach: Wollen Sie von diesen Erinnerungen erzählen?
T: Als ich acht war, vor der dritten Klasse, da sind wir umgezogen in eine andere Stadt, weil mein Vater seine Arbeitsstelle gewechselt hat. Und ich bin natürlich in eine andere Schule gekommen, in eine Klasse, wo ich kein Kind gekannt habe. Ganz anders als vorher: wir haben in einem Hochhaus gelebt, und viele Kinder, die mit mir die Schule begonnen haben, habe ich schon vorher gekannt.
Coach: Das muss schwierig für Sie gewesen sein.
T: Schrecklich schwierig. Die waren alle eine Klassengemeinschaft, und ich bin alleine in einer Bank gesessen. In der Pause hat keiner mit mir gesprochen, sie haben immer nur die Köpfe zusammengesteckt und getuschelt und über mich gelacht. Sie haben mich ausgespottet, sich über meine Kleidung lustig gemacht oder über mein Pausenbrot. Wenn die Lehrerin mich aufgerufen hat, dann habe ich einen roten Kopf gekriegt und zu stottern begonnen.
Coach: Und wie hat sich diese kleine Sylvia damals gefühlt?
T: Ganz schlimm. Ich hab jeden Tag größere Angst bekommen, einmal sogar in die Hose gemacht. Die anderen haben das natürlich gemerkt. Ich habe mich so geschämt!
Coach: Angst und Scham. Waren Sie auch verletzt über das, was die Kinder Ihnen angetan haben – und traurig über das, was Sie verloren haben?
T: Sehr! Aber wenn ich geweint habe, dann haben die noch mehr gelacht!
Coach: Haben Sie mit Ihren Eltern darüber gesprochen?
T: Lange nicht. Und als ich es doch meiner Mutter erzählt habe, hat die nur gesagt: kümmere dich nicht um das, was die anderen sagen. Je mehr die merken, dass dich das kränkt, umso lustiger finden sie es.
Coach: Und wie war das für Sie, diese Aussage Ihrer Mutter?
T: Das hat alles noch schlimmer gemacht. Ich war total hilflos und überfordert. Und geärgert habe ich mich über meine Mama, dass sie so dumme Sachen sagt.
Coach: Weil sie ihnen Ihre Gefühle verboten hat. Ihre Angst, Ihre Beschämung, Ihren Schmerz und Ihre Traurigkeit. Ziemlich viele Gefühle, und ziemlich schwer zu ertragen, wenn sie verboten sind.
T: Genau!
Coach: Jetzt verstehe ich Ihre Frage von vorhin: darf ich nicht auch mal hilflos sein? Das hört sich an wie: darf ich die Gefühle haben, die ich habe?
T: Aber jetzt bin ich doch erwachsen, und Sie sind nicht meine Mama!
Coach: Und ihre Mitarbeiter sind nicht die anderen Kinder in der Klasse. Und doch taucht da die kleine Sylvia von vor mehr als dreißig Jahren auf, ohne dass die große Sylvia das bewusst mitbekommt. Sie fühlt sich wieder so wie damals: ängstlich, unsicher, hilflos, verletzt, traurig. Und sie stellt die Frage, die sie damals nicht stellen konnte: darf ich denn nicht mal hilflos sein?
T: Darf ich denn?
Coach: Erlauben Sie es sich selbst?
T: Nein, natürlich nicht. Das geht doch nicht, als Führungskraft hilflos sein!
Coach: Was würde es denn ändern, wenn Sie es sich erlauben würden? Und auch die anderen Gefühle?
T: Ich glaube, das wäre erleichternd. Es ist halt so.
Coach: Was dürften Sie denn dann darüber fühlen, dass Sie die Situation jetzt so erleben, wie Sie sie erleben?
T (nachdenklich): Ich würde, glaube ich, zwei Sachen fühlen: dass es schade ist, dass es so schwierig ist. Und nicht mehr so einfach wie vorher.
Coach: Traurig?
T: Ja, schon, irgendwie. Weil ich es mir anders vorgestellt habe.
Coach: Ja. Und die zweite Sache?
T: Eigentlich ärgerlich. Wie kommen die dazu, mich so außen vor zu lassen?
Coach: Was ist denn heute anders als damals für die kleine Sylvia, die sich so nach ihren alten Freunden gesehnt hat und sich so als Außenseiterin in der neuen Klasse erlebt hat? Und die keiner verstanden hat?
T: Vieles. Ich bin nicht einsam. Ich habe Freunde, ich habe meinen Mann, ich habe meine zwei Kinder. Ich muss nicht im Team Freunde haben. Und ich bin nicht unverstanden. Und meine Freunde aus dem alten Amt sind ja nicht verschwunden, wir sehen uns ja regelmäßig.
Coach: Sich im Team Freunde zu suchen könnte ja auch problematisch sein und möglicherweise zu Konflikten im Team führen.
T: Stimmt. (Pause) Ich bin im Moment ziemlich betroffen davon, dass diese alte Geschichte mich so eingeholt hat. Ich habe geglaubt, dass das doch lange vorbei ist.
Coach: Zeitlich gesehen ja. Und manch Dinge können uns wieder einholen und erinnern uns daran, dass wir sie nicht ganz bewältigt haben.
T: Ich glaube, über die Geschichte damals muss ich noch länger nachdenken. Vielleicht rede ich mit meiner Freundin darüber, oder auch mit meinem Mann.
Coach: Gute Idee! Und wie denken und fühlen Sie jetzt in Bezug auf Ihre Arbeitssituation?
T: Da ist mir einiges klar geworden über die Grenzen, die ich mir mit meinen Ängsten selbst setze. Ich bin mir gar nicht so sicher, ob die mich wirklich links liegen lassen oder ob ich mir da nicht manches einbilde, eben mit dieser unbewussten Parallele zu meiner Kindheit.
Coach: Ihrer bisher unbewussten Parallele.
T: Es könnte ja sein, dass die auch verunsichert sind, weil ich mich durch meine Ängste so reserviert zeige.
Coach: Und wie werden Sie jetzt mit der Situation umgehen?
T: Ich denke, ich werde ganz normal und freundlich auf die Leute zugehen. Sie zum Beispiel fragen, wie das Wochenende war oder ob sie mit dem fälligen Bericht klarkommen oder ob sie was von mir brauchen. Oder ob sie Lust auf einen Kaffee haben.

Ich habe vorhin von den fünf Stellschrauben des Führens gesprochen: Autonomie, klare Rollen und klare Grenzen, Motivation und Selbstmotivation sowie Resilienz. Aus zeitlichen Gründen werde ich in diesem Rahmen die Punkte 4 und 5 weglassen, um noch die Dimensionen „Persönlichkeit der Mitarbeiter“ und „Kommunikation“ darzustellen. Lassen Sie uns ansehen, was Sylvia T. da in ihrem konkreten Handeln für Lernschritte erarbeitet und was für Erfahrungen sie dabei gemacht hat. Wir hatten vereinbart, zuerst auf ihre Persönlichkeit unter dem Gesichtspunkt der Stellschrauben zu schauen. Danach wollten wir die Mitarbeiter und Sylvias Kommunikation mit ihnen ins Auge fassen. Einen ersten Schritt dazu ist sie im geschilderten Gespräch von vorhin schon gegangen: als sie ihren eigenen inneren Unsicherheitsknoten gelöst hat, hat sie begonnen, auch die Menschen in ihrer Abteilung mit anderen Augen zu sehen: „Es könnte ja sein, dass die auch verunsichert sind, weil ich mich durch meine Ängste so reserviert zeige.“

Da Frau T. nicht mehr so sehr mit sich selbst und ihrer Unsicherheit und daher auch nicht mehr so mit Überlegungen über die kursierenden Gerüchte beschäftig ist, nimmt sie die acht Personen in ihrem Team auch bewusster wahr. Sie erzählt in der nächsten Sitzung:

T: Es ist erstaunlich. Mir kommt vor, dass ich die acht Leute bisher gar nicht wirklich als unterschiedliche Individuen wahrgenommen habe. Natürlich kannte ich ihre Namen und ihre Gesichter, aber es war wirklich wie damals in der dritten Klasse: da waren das eigentlich keine einzelnen Kinder, sondern so etwas wie eine zusammenhängende feindliche Masse. Kann das sein, dass Angst so etwas macht?
Coach: Ja, das ist nicht ungewöhnlich. Beide, Angst und Scham, sind ganz schmal fokussierte Gefühle, die instinktiv nur drei Reaktionsformen kennen: zuschlagen, fliehen oder totstellen. Da gibt es dann keine Differenzierungen mehr.
T: Und mein Reflex war mich quasi tot zu stellen. So unscheinbar sein wie möglich. Ich glaube, irgendwie war das auch in den letzten Monaten so.
Coach: Gut kombiniert, Frau T. Und wie ist es jetzt, wenn sie da acht unterschiedliche Individuen wahrnehmen?
T: Spannend. Sehr spannend. Ich kann zum Beispiel erkennen, dass da die Kerstin ist, eine junge Mitarbeiterin, die sucht, glaube ich, meine Anerkennung. Sie will mir oft erzählen, was sie gerade tut und vor allem was sie gut macht. Dann fragt sie: ist das so richtig? Was meinst du? Oder soll ich es anders machen?
Coach: Und was antworten Sie ihr dann?
T: Je nachdem, manchmal lobe ich sie, dann sage ich ihr wieder, dass es besser wäre, dies oder jenes anders zu machen.
Coach: Kann man sagen, dass Kerstin versucht, es Ihnen recht zu machen? Und dass sie herausfinden möchte, wie das am besten gehen könnte.
T: Ja, so wirkt es jedenfalls…. Das fühlt sich ja ganz nett an, wie die Kerstin da freundlich und zuvorkommend mit mir umgeht. Aber ich habe ein wenig die Befürchtung, dass sie zu wenig selbständig denkt.
Coach: Und was könnten Sie da tun?
T: Sie fragen, was sie denn über das Problem und mögliche Lösungen denkt.
Coach: Genau.
T: Das ist interessant, so über die Leute im Einzelnen zu reden und Ihren Input dazu zu kriegen. Könnten wir das nicht bei allen machen?
Coach: Das können wir gerne. Ich möchte Ihnen dazu ein Modell vorschlagen, so etwas wie eine Landkarte, mit der wir die Landschaften der Persönlichkeiten Ihrer Mitarbeiter erkunden können.

Die Landkarte, um die es jetzt geht und die ich häufig in Coachings vorschlage, um sich selbst und andere näher kennen zu lernen, ist die der Antreiber.

Menschen entwickeln sich in Beziehungen zu anderen Menschen. Am wichtigsten, das haben wir bei Sylvia T. schon ein Stück weit gesehen, ist das in der Kindheit, in der wir ganz und gar darauf angewiesen sind, Liebe und Zuwendung zu bekommen. Wir erfahren, manche mehr, manche weniger, dass wir als die Menschen, die wir sind, nicht immer selbstverständlich geliebt, sondern manchmal oder auch häufig zurückgewiesen werden. Kinder bilden daher unbewusst Muster des Fühlens, Denkens und Verhaltens aus, die ihnen besonders nützlich dafür erscheinen, Anerkennung zu bekommen. Diese Muster verfestigen sich und werden zu wesentlichen Motivatoren, mit denen wir in Beziehungen hineingehen und mit denen wir unseren eigenen Leistungsanspruch definieren, um mit dieser Leitung Anerkennung oder sogar Liebe zu bekommen. Diese Muster werden zu inneren Befehlen, für die die Bezeichnung „Antreiber“ verwendet wird. Wir können insgesamt fünf von ihnen unterscheiden werden. Sie heißen:
• Ich muss immer stark sein und alles ertragen!
• Ich muss mich ständig anstrengen!
• Ich muss mich ständig beeilen!
• Ich muss immer perfekt sein!
• Ich muss es allen anderen ständig recht machen!

Grundsätzlich können diese Antreiber konstruktive Motivatoren sein. Es ist im Leben in bestimmten Situationen wichtig, Durchhaltevermögen zu haben, sich anstrengen zu können, zeitgerecht zu sein, Dinge mit hoher Korrektheit zu erledigen und auf die Bedürfnisse anderer eingehen zu können. Problematisch werden die Antreiber dann, wenn wir sie „immer“ und „ständig“ glauben einsetzen zu müssen, also wenn wir sie unbewusst stereotyp immer dann aktivieren, wenn wir uns in schwierigen oder herausfordernden Situationen erleben. Dann halten wir sie für die einzig mögliche Strategie zur Lösung von Problemen. Nehmen wir Frau T.: sie ist in einer komplizierten und für sie schwierigen Situation. Sie geht davon aus, dass sie das meistern kann, weil sie von sich weiß, dass sie Ausdauer und Durchhaltevermögen hat. Grundsätzlich eine konstruktive und motivierende Herausforderung, aber dann erlebt sie mehr und mehr Verunsicherungen. Mit Durchhalten allein kann sie die Situation nicht lösen, denn dieser Modus ist tendenziell ein Vorgang des Rückzuges, getragen von der Idee, das Problem alleine bewältigen zu müssen, weil ohnehin keine Hilfe und kein Verständnis zu erwarten sind. Wir können uns denken, wo das in Sylvias Leben herkommt: es hat vermutlich mit der Situation nach dem Orts- und Schulwechsel als Achtjährige zu tun. Sie erlebt sich einsam, heute würde man sagen, sie wird gemobbt. Auch bei ihren Eltern findet sie keine Unterstützung. Sie versucht es mit Freundlichkeit und damit, es den anderen recht zu machen. Das funktioniert nicht. Also zieht sie sich in selbst zurück, „totstellen“ hat sie es genannt. Sie lernt, durchzuhalten – „ich muss immer stark sein und alles ertragen“ wird ihr Antreiber. Er wird ihr einerseits sehr hilfreich: sie steht diese schwierigen Jahre mit hohem schulischem Erfolg durch. Sie führt, von ihrem Antreiber motiviert, ein beruflich und auch privat erfolgreiches Leben. Sie meistert Rückschläge und Lebenskrisen, beispielsweise eine Problemschwangerschaft. Der Nachteil ist, dass sie, wenn es schwierig wird, automatisch auf Durchhaltemodus schaltet und so oft weniger Hilfe erhält als möglich wäre. Von dem Risiko, ihr werdendes Kind zu verlieren, erzählt sie ihrem Mann erst, als sie die letzten Wochen der Schwangerschaft im Liegen verbringen muss. Vorher hat sie ihre Ängste und Sorgen mit sich selbst ausgemacht. So sehr es eine hohe Qualität sein kann, Schwieriges mit Selbstdisziplin durchzustehen, so sehr kann es auch in die Einsamkeit führen. In ihrer neuen Führungsfunktion kommt Frau T. gar nicht auf die Idee, sich zu vernetzen, sich Unterstützung zu holen, um Rat zu fragen. Auch zum Coaching ist sie nicht aus eigenem Antrieb gekommen. Wie kann es für sie hilfreich sein, ihren Hauptantreiber zu kennen? Einerseits ist er etwas, auf dass sie sich verlassen kann. Ihr Durchhaltevermögen ist ihre Stärke. Andererseits kann sie ihn hinterfragen: ist die Stärke jetzt gerade gefragt? Muss sie unbedingt mit Rückzug und Einsamkeit verbunden sein? Oder darf es sein, dass es Situationen gibt, in denen ich alleine nicht weiterweiß? Darf ich mir dann Rat und Unterstützung holen und mich mit anderen Menschen vernetzen? Und – auf Sylvias Situation spezifisch gedacht – wie könnte sie sich auch und gerade mit ihren Mitarbeitern vernetzen und von ihnen Unterstützung erhalten?

Die Hauptantreiber der Mitarbeiter zu kennen oder zumindest Ideen und Hypothesen darüber zu haben kann für eine Führungskraft sehr wichtig und hilfreich dabei sein, diese Menschen kommunikativ zu erreichen. Bei Kerstin, von der Frau T. vorher erzählt hat, können wir annehmen, dass ihr Antreiber „Ich muss es anderen ständig recht machen!“ ist. Vermutlich ist sie also ein Mensch, der gerne hilft und gut auf andere eingehen kann. Es könnte also sinnvoll sein, sie bei verschiedenen Themen um ihre Ideen oder ihre Eindrücke zu bitten, natürlich ohne sie zum Spitzel oder zur Klassenstreberin zu machen. Zum Beispiel: „Kerstin, was waren denn aus deiner Sicht die Stärken und die Schwächen meines Vorgängers? Was war für euch hilfreich, und was hat euch gefehlt?“

Hermann ist ein weiterer Mitarbeiter in Frau T.s Team. Er hat einen Hang dazu, sich bei der Erledigung von Aufgaben und auch in Besprechungen zu verzetteln.

Coach: Was vermuten Sie da für einen Antreiber hinter Hermanns Verhalten?
T: Dass er immer perfekt sein muss.
Coach: So hört sich das auch für mich an.
T: Das ist manchmal ziemlich mühsam. Wie kann man ihm das abgewöhnen?
Coach: Gar nicht. Erstens ist es Teil seiner Persönlichkeit, so wie das Starksein bei Ihnen. Zweitens wäre das eine bevormundende Haltung: gewöhn‘ dir das ab! Da wären Sie nicht mehr seine Führungskraft, sondern in der Rolle einer strengen Mutter. Ich möchte die Frage anders stellen: wie können Sie Hermann dabei unterstützen, diese Fähigkeit, Dinge sehr gut und genau zu erledigen, in den Dienst des Teams zu stellen?
T: Mal überlegen… wenn er alles so gut wie möglich haben will, dann müsste es doch in seinem Interesse sein, dass wir gut kooperieren und dass ich meine Führungsaufgabe effektiv erfüllen kann!
Coach: Guter Gedanke!

Einen nach der anderen diskutieren wir ihre Mitarbeiter und entwickeln Hypothesen zu ihren Antreibern und Ideen, wie Frau T. diese Potenziale konstruktiv nutzen kann. Sie spricht mit ihnen, und nach ihren Erzählungen kommen ihre Vorschläge auch gut an. Sie macht dabei eine Beobachtung, die sie in der nächsten, mittlerweile der sechsten Sitzung, erzählt:

T: Das funktioniert durchaus recht gut, ich merke, dass der Kontakt zwischen mir und den Leuten besser wird. Auch die Stimmung in den Teambesprechung ist lebhafter geworden. Aber eine Sache beschäftigt mich: das sind ja letztlich alles Einzelgespräche, ich mit Kerstin, ich mit Hermann und so weiter. Wäre es nicht sinnvoll, wenn die anderen das auch mitkriegen würden? Das würde doch nicht nur das Verständnis füreinander erhöhen, wenn jeder die Antreiber der anderen kennt. Sie könnten sich gegenseitig dabei unterstützen, diese konstruktiven Seiten ihrer Antreiber zu nutzen.

Diese Überlegung, die Sylvia da anstellt, bedeutet einen markanten Punkt in ihrer Entwicklung als Führungskraft: sie denkt nicht mehr in Einzelbeziehungen zwischen ihr und den Mitarbeitern, sondern sie denkt in einem und für ein vernetztes System. Aus dieser Idee entwickeln wir dann gemeinsam mit einer Kollegin unseres Instituts ein Konzept für einen Teamentwicklungs-Workshop. Frau T.s ersten Vorschlag, ich möge diesen Workshop leiten, habe ich aus verschiedenen Gründen abgelehnt: es wäre ein Ungleichgewicht dem Team gegenüber, wenn ich die Leiterin und die Leiterin mich schon aus der intensiven Zusammenarbeit kennt. Die Person, die diese Aufgabe übernimmt, sollte keine Vorinformationen über die Mitglieder des Teams haben, so wie ich sie schon aus Sylvias Sicht habe. Weiters könnte das Team Vermutung darüber anstellen, dass ich als Coach der Verbündete der Leiterin sein könnte. Und schließlich ist die Kollegin auf Teamentwicklungen spezialisiert.

Der Workshop soll den Namen „Persönliche Potenziale für das Team nutzen“ tragen. Darüber, wie dieser Vorschlag im Team implementiert wurde – als Führungsinput von oben würde so etwas kaum funktionieren – und darüber, wie er verlaufen ist, könnte ich jetzt noch eine weitere Stunde referieren. Er, der Teamworkshop, wurde zum Startpunkt für einen kontinuierlichen und regelmäßig überprüften Prozess im Team. Gemeinsam wurden Regeln und Maßnahmen der Zusammenarbeit entwickelt. Zum Abschluss meines Vortrags möchte ich noch ein Zitat von Frau T. aus unserer Sitzung von vor vier Wochen vorlesen:

T: Unser Teamworkshop ist jetzt genau ein Vierteljahr her, und ich habe jetzt mit den Mitarbeitergesprächen gestartet, die wir damals vereinbart haben. Ich kann es gar nicht glauben, wie sehr wir uns alle verändert haben, seit ich das erste Mal zu Ihnen kam. Wenn ich daran denke, mit wieviel Bauchweh ich damals morgens in die Arbeit ging, und jetzt freue ich mich täglich darauf! Eine Kollegin hat in ihrem Feedback für mich gesagt: Sylvia, das ist das erste Mal, dass wir uns wirklich geführt fühlen. Und gleichzeitig stellst du dich nicht über uns.

nach oben