44. WIE DIE ANGST IHR GESICHT VERSTECKT: ERSATZGEFÜHLE, VERSCHIEBUNGEN, COPINGREAKTIONEN

Vortrag auf der Angsttagung des VPA

Linz, Mai 2025

Ever since I was a kid in school
I messed around with all the rules
Apologized, then realized
I'm not different after all

Me and the boys thought we had it sussed
Valentinos all of us
My dad said we looked ridiculous
But, boy, we broke some hearts

In and out of jobs, running free
Waging war with society
Dumb, blank faces stared back at me
But nothing ever changed

Promises made in the heat of night
Creepin' home before it got too light
I wasted all that precious time
And blamed it on the wine

I was only joking, my dear
Looking for a way to hide my fear
What kind of fool was I?
I could never win
Rod Stwart, I was only joking

Ein sehr alter Song von Rod Stewart aus dem Jahr 1977. Was für ein toller Bursche glaubt er zu sein: er lehnt sich gegen alle Regeln auf, ist Mitglied einer (scheinbar) rebellischen Gruppe, begehrt gegen
Autoritäten auf, bricht Mädchenherzen – und weiß doch jetzt, dass er auch nicht anders ist als alle anderen. I was only joking, singt er, ich hab nur Scherze gemacht. Looking for a way to hide my fear, ich hab’ nur einen Weg gesucht, um meine Angst zu verstecken.

Vor zwei Jahren fand unser 50jähriges Maturatreffen statt. Wir waren auch so, damals, in den frühen Siebziger Jahren. Genauer: wir haben uns so gesehen, haben gegen die Generation unserer kriegstraumatisierten Eltern und Lehrer rebelliert, gegen den Vietnamkrieg demonstriert, Rockmusik gehört und lauthals mitgesungen. Wir hatten uns frei und jung gefühlt. Das mit den gebrochenen Herzen passierte wohl eher in unserer Fantasie.

Und da waren wir – 15 Männer (wir waren in einer reinen Knabenschule, wie das damals hieß) an der Schwelle des Alters, waren seither durch Freuden und Leiden eines halben Jahrhunderts gegangen, waren alle durchaus erfolgreich in unseren Leben – und hatten durchaus erfolgreich Wege gefunden, unsere Ängste zu verstecken. Denn in Wirklichkeit waren wir voll davon gewesen. Ganz normale Punbertätsängste vor dem Leben, vor der Liebe, vor dem Tanzkurs, vor der Matura und vor der Verständnislosigkeit der Erwachsenen. Und Ängste, die unserer Zeit als Nachkriegsgeneration entstammten, Ängste, die uns unsere Eltern und Lehrer vorlebten, mit denen wir aufwuchsen. Vor einem neuen Weltkrieg, einem Atomkrieg diesmal. Alle diese traumatisierten Menschen hatten uns transgenerational das mitgegeben, was sie erlebt hatten und mehr oder weniger erfolgreich verdrängen mussten. Wir hatten Lehrer, die bein- oder armamputiert waren, ein Glasauge oder abgefrorene Zehen aus Krieg und Gefangenschaft mitgebracht hatten. Väter, die blutjung im Krieg gewesen waren, Mütter, die um ihre Väter, Brüder und Verlobten gebangt hatten.

Den Menschen, die unser Aufwachsen begleiteten, hat die Angst ihr schrecklichstes Gesicht, nein, schlimmer, eine unerträgliche Fratze gezeigt: es war die Panik vor dem unmittelbar drohenden Tod, viel mehr als die Angst, die wir alle immer wieder spüren. Und es war ein kontinuierliches Trauma Wie hätten sie die ungeschminkte Erinnerung daran ertragen können? Es war überlebensnotwendig für sie, zu lernen, wie sie diese Gesichter ihrer Angst und ihrer Ängste verstecken konnten. Je mehr davon sie aus ihrem Bewusstsein wegdrängten, umso mehr davon gaben sie unbewusst an uns weiter. Wir alle wuchsen in einer Atmosphäre verdrängter Todesangst auf.

Wie die Angst ihr Gesicht versteckt – eigentlich ist der Titel meines Vortrags irreführend. Denn natürlich versteckt Angst ihr metaphorisches Gesicht nicht selbsttätig, sondern wir verstecken es. Genauer gesagt, wir verstecken uns vor unserer Angst. Wir tun das unbewusst, um nicht mit diesem furchterregenden Antlitz konfrontiert zu werden. Wir setzen ihm gewissermaßen eine Maske auf.

Hier ist nicht das bewusste Vermeiden angstauslösender oder phobischer Situationen gemeint, sondern ein Vorgang, der uns ursprünglich nicht bewusst ist. In der Sprache der Tiefenpsychologie sprechen wir von Abwehr. Dieser Terminus impliziert allerdings einen negativen Vorgang für etwas, das an sich konstruktiv als Selbstschutz gemeint ist. Daher spreche ich wertfrei von Coping-Reaktionen – von englisch to cope, also mit etwas umgehen.

Ich möchte nicht weiter bei meiner eigenen Geschichte bleiben. Ich habe davon erzählt, weil es die Geschichte vieler Menschen meiner Generation ist, auch die von Christian. Er ist vor vier Jahren zu mir in die Praxis gekommen. Auf meine übliche Eingangsfrage „ Was führt Sie zu mir?“ im Erstgespräch antwortet er:

Ch: Ich habe nach einem männlichen Therapeuten gesucht, der in meinem Alter ist, weil ich wen brauche, der nachvollziehen kann, wie es ist, als Bub in der 50er, 60er, 70er Jahren aufzuwachsen.
Th: Wie war denn Ihr Aufwachsen in dieser Zeit?
Ch: Kurz gesagt: begleitet von Menschen voller Angst mit der gleichzeitigen Mitteilung, dass man als Mann doch keine Angst haben muss. Nicht darf, genauer gesagt.
Th: Nicht darf.
Ch: Ja. Kennen Sie das auch?
Th: Natürlich. Keine Angst haben, nicht weinen, keine Schwäche zeigen. Hart werden.
Ch: Genau. Aber heute weiß ich: je mehr man mir das einreden wollte, umso mehr Angst habe ich gehabt. Sie quält mich schon meine ganzes Leben lang. Und ich will sie endlich loswerden.
Th: Lassen Sie uns mit der Angst von heute beginnen. Für die aus Ihrer Lebensgeschichte werden wir später noch genügend Zeit haben.

Die Angst endlich loswerden – das habe ich schon oft gehört. Das wollen die meisten Menschen, die unter ihren Ängsten leiden und ihr Gesicht nicht sehen wollen. Es ist ein Weg, wie wir versuchen, dieses Gesicht zu verstecken, und er heißt Verleugnung (oder zumindest der Wunsch danach). Natürlich funktioniert er nicht, denn unser Unbewusstes kennt keine Verneinung. „Ich will keine Angst haben“ ist genauso effektiv wie „Ich darf nicht an einen rosa Elefanten denken.“

Versuchen Sie es – denken Sie unter keinen Umständen an einen rosa Elefanten. Meinetwegen an einen blauen oder grünen, aber nicht in Rosa. Sehen Sie ihn schon rosarot dastehen und seinen Rüssel schwenken? Genau.

Natürlich ist es zu früh, um Christian damit zu konfrontieren. Das Gegenmittel wäre Akzeptanz. Sie ist der erste Schritt im Umgang mit Angst und Ängsten, doch ich möchte erst mehr über Christian und sein Narrativ „Angst quält mich schon mein ganzes Leben lang“ erfahren. Er fährt fort:

Ch: Die Angst von heute – im Moment ist das die Pandemie, seit einem Jahr schon. Soll ich erzählen, was da alles für Ängste die ganze Zeit über da sind?
Th: Gerne.
Ch: Zuerst habe ich mir gedacht, das ist weit weg, in China. Wie die Nachrichten aus Italien gekommen sind, habe ich geglaubt, das ist alles eine Hysterie. Aber dann waren da die Bilder mit den Särgen in Oberitalien, und auf einmal war alles ganz nah. Die erste Angst war: müssen wir alle sterben? Ich will nicht sterben! Aber ich will auch nicht die Angst davor haben. Am liebsten möchte ich in meinem Büro im Gefängnis bleiben, da sind wir sicher.

Christian ist Sozialarbeiter in einer Justizvollzugsanstalt.

Ch: Aber was ist, wenn das Virus eingeschleppt wird? Von Besuchern oder von uns selbst? Dann kam dieses Abstandhalten, niemandem nahekommen, mit nichts in Berührung kommen. Die Türklinken mit dem Ellenbogen aufdrücken. Keine Hände schütteln. Und dann der Lockdown. Irgendwie hat sich das sicher angefühlt, aber gleichzeitig diese Angst, vor Menschen, die sich nicht an die Maßnahmen gehalten haben. Diese Angst vor dem Sterbenmüssen war überall, ich bin ihr nicht entkommen. Und dann die Frage: wie lange kann ich meine Enkelkinder nicht sehen? Werde ich sie überhaupt noch sehen oder muss ich vorher sterben? Oder sie?
Th: Wie alt waren Ihre Enkelkinder damals?
Ch: Da waren es ja erst zwei, die Kinder meiner jüngeren Tochter. Mädchen, die Ältere war vier und die Jüngere knapp ein Jahr. (Pause) Wenn ich so erzähle, packt mich der ganze Schrecken von damals wieder. Es war so furchtbar!
Th: Und Sie waren so hilflos. Wie viele von uns.
Ch: Aber meine Eltern haben ja viel Schrecklicheres und viel größere Hilflosigkeit im Krieg erlebt.
Th: Wollen Sie davon erzählen?
Ch: Was mein Vater im Krieg erlebt und überlebt hat, weiß ich nicht, er hat es nie erzählt. Was wir hörten, waren Anekdoten über Streiche. Was ich weiß, ist dass im Herbst 1945 die Hälfte der Sitzplätze leergeblieben ist, als er mit 18 wieder ins Gymnasium zurückkehrte. Und meine Mutter war mit 14 im Luftschutzkeller und wußte nicht, wer aller tot sein würde, wenn sie wieder herauskam. Wenn sie überhaupt herauskommen würde.

Christian unternimmt hier einen weiteren Versuch, das Gesicht seiner Angst zu verstecken. Er stellt einen Abwärtsvergleich mit seinen Eltern an: die hatten es ja noch viel schlimmer, meine Angst ist doch im Vergleich dazu viel kleiner. Das soll trösten, unterstützt aber die Idee von der Unwichtigkeit der eigenen Ängste.

Th: Ganz sicher haben ihre Eltern für uns unvorstellbar Schreckliches erlebt. Und doch ist Ihre eigene Angst nicht banal. Das ist die Angst vor dem Tod nie. Ich nehme sie ernst. Angst ist ja grundsätzlich ein normales und gesundes Gefühl, das uns schützen soll. Und manchmal kann sie quälend werden. Dann versuchen wir, sie in den Griff zu kriegen, statt uns ihr zu stellen.
Ch: Danke. Das berührt mich. Das hilft mir. (Pause) Ich glaube, meine Eltern haben immer versucht, ihre Ängste in den Griff zu kriegen. Ich habe davon wahrscheinlich viel übernommen.
Th: Wie haben Ihre Eltern das denn versucht - ihre Ängste in den Griff zu bekommen?
Ch: Mein Vater hat nach der Matura beschlossen, Mathematik und Physik zu studieren, weil „Mathematik das einzig Berechenbare auf dieser Welt ist.“

Diese häufige Coping-Reaktion gegen Angst nennen wir Rationalisieren: der Verstand soll helfen, die Angst wegzuerklären, ihre Quelle durch Berechenbarkeit zum Erliegen zu bringen.

Ch: Er hat immer gesagt, die Wahrscheinlichkeit hilft, sich zu beruhigen. Das versuche ich auch: wie wahrscheinlich oder wie unwahrscheinlich ist es, mich anzustecken, wenn ich so vorsichtig bin? Und wenn ja – es stirbt ja nicht jeder an Corona.
Th: Und hilft das?
Ch: Nur begrenzt. Dann überflutet mich die Angst wieder und sagt: was nützt dir denn die Wahrscheinlichkeit, wenn du dich doch ansteckst und auf die Intensivstation kommst? Und vor allem: eines Tages stirbst du ja doch. Das ist keine Wahrscheinlichkeit, das ist sicher.
Th: Ja, das ist es. Wie für uns alle. Was fühlen Sie denn, wenn Sie das aussprechen: eines Tages werde ich sterben?
Ch: Unvorstellbar, dass es mich nicht mehr geben wird. Dass ich nicht mehr erlebe, wie meine Enkelkinder groß werden. Dass einfach alles vorbei ist. Na ja, was soll ich sagen, schließlich gehört das zum Leben dazu.
Th: Versuchen Sie gerade, den Verstand einzuschalten? Wie Ihr Vater?
Ch: Ja, schaut so aus.
Th: Meine Frage war, was Sie fühlen.
Ch: Angst, natürlich. Und da ist noch was. Ich glaube, ich bin traurig.
Th: Wollen Sie die Traurigkeit zulassen?
Ch: Ja. (lange Pause)
Th: Ja, es ist traurig, dass wir alle sterben werden. Und jetzt leben wir.

Ch (lächelt): Stimmt. Das macht ein bisschen Mut. Und die ganze Pandemie ist ja auch traurig. Dass sie unser Leben so verändert. Meinen Sie, das wird vorbeigehen?
Th: Die Pandemie sicher. Was sie mit uns allen macht, wie wir uns verändern werden oder schon verändert haben, darauf können wir jetzt schon Einfluss nehmen, indem wir uns unseren Ängsten und unserer Traurigkeit stellen.

Wie traumatisch das für viele von uns war und was für posttraumatische Belastungen aus dieser Zeit erwachsen sind, erkennen wir mittlerweile immer deutlicher. In der darauffolgenden Stunde, damals mitten in der Pandemie, erzählt Christian weiter von seiner Familie:

Ch: Ich habe viel über meine Eltern nachgedacht und habe noch einige ihrer Strategien entdeckt, wie sie versucht haben, ihre Ängste zu besiegen.
Th: Wollen Sie davon erzählen?
Ch: Mein Vater war ein Meister darin. Er hat viele verschiedene Dinge auf Lager gehabt. Jetzt, schon einige Jahre nach seinem Tod, erkenne ich, wieviel Angst in diesem scheinbar so starken und tatkräftigen Mann gesteckt haben muss. Und das tut mir leid für ihn. Mit niemandem konnte er darüber reden. So vieles verstehe ich erst jetzt. Er konnte zum Beispiel furchtbar zornig werden, wenn irgendetwas nicht so war, wie er es gerne gehabt hätte. Das muss immer sehr schnell bedrohlich für ihn gewesen sein. Dann hat er herumgeschrieen und uns Kinder auch manchmal geschlagen. Und wir haben große Angst vor dieser Gewalt gehabt.
Th: Das ist meistens ein Zeichen von Hilflosigkeit. Die löst Angst und Traurigkeit in uns aus, und um das nicht zu spüren, ersetzen wir sie durch ein anderes Gefühl.
Ch: Ich kenne das auch. Manchmal bin ich so zornig auf das blöde Virus, auf die ganzen Maßnahmen, aber auch auf die Menschen, die sich nicht daran halten wollen.
Th: Und wenn Sie nicht zornig auf all das wären – was würden Sie dann spüren?
Ch (Pause): Angst! Große Angst.

Das ist eine häufige Coping-Reaktion: wir tauschen unbewusst ein von unserer Umwelt nicht erwünschtes Gefühl gegen ein anderes,  erwünschteres aus. Der in der TA gebräuchliche Terminus ist Ersatzgefühle.

Für das Gegenüber wirkt das meist unauthentisch, während die betroffene Person ihr Fühlen durchaus als echt erlebt („ich muss mich einfach ärgern!“) Das betrifft nicht nur die Angst. Manche Menschen können beispielsweise Schmerz und Trauer durch eine Art Pseudo-Freundlichkeit ersetzen, authentischen Ärger durch Traurigkeit oder Depression. Auch das „I was only joking“ von Rod Stewart fällt unter den Begriff der Ersatzgefühle.

Th: Ich finde es beeindruckend, wie kreativ Ihr Unbewusstes in seinen Versuchen ist, mit Ihren Ängsten fertig zu werden. Und wie erfolgreich Sie sich selbst und die Quellen dieser Reaktionen erforschen. Ich denke, Sie haben als Kind intuitiv all die Angst Ihrer Eltern hinter diesem Verhalten gespürt.
Ch: Da gibt es noch mehr zu berichten, und nicht nur von den Eltern, auch von meiner Großmutter.
Th: Ja?
Ch: Ja, die Oma mütterlicherseits. Die war eine wichtige Person für die ganze Familie, vor allem für mich. Sie hat mich zärtlich geliebt. Zuckermäuschen, hat sie mich immer genannt.
Th: Wie war das für Sie?
Ch: Sehr schön. Ich habe sie dann auch so genannt, und das hat sie sehr gefreut. Und zugleich war sie ungeheuer hypochondrisch.
Th: Sie meinen, Sie hat Angst vor Krankheiten gehabt?
Ch: Vor dem Sterben an allem, woran man nur sterben könnte. Krebs, Herzinfarkt, Infektionen. Tatsächlich ist sie 80 Jahre alt geworden und ganz friedlich eingeschlafen. Aber mit all ihrer Liebe hat sie mich auch mit diesen Ängsten angesteckt. Vor jeder ärztlichen Untersuchung habe ich Panik, dass etwas entdeckt werden könnte. Herzrasen, Atemnot, Bluthochdruck, das volle Programm. Die Erleichterung, wenn alles in Ordnung ist, ist ungeheuer – bis dann ein anderer Arzttermin kommt. Und in meinem Alter gibt es mittlerweile ganz schön viel zu kontrollieren. Und dieselben Ängste habe ich auch um meine Kinder, schon immer, seit sie auf der Welt sind. Immer wieder habe ich ihren Hals abgetastet, ob die Lymphknoten geschwollen sind. Ganz besonders schlimm war das damals, als Aids aufgetaucht ist und wir im Gefängnis infizierte Insassen gehabt haben.

Die Symptome, die Christian an seiner Großmutter und sich selbst beschreibt, werden heute nicht mehr Hypochondrie, sondern Krankheitsangststörung oder somatische Belastungsstörung genannt. Psychodynamisch handelt es sich um eine Angstverschiebung. Diffuse, nicht greifbare Ängste werden hinter einer ganz konkreten Angst versteckt. In der Metaphorik unserer Tagung können wir das so beschreiben: eine Angst, die zwar da ist, deren Gesicht wir aber nicht erkennen können oder wollen, verstecken wir hinter einem ganz konkreten Gesicht: dem einer tödlichen Krankheit. Wenn sich herausstellt, dass wir diese Krankheit nicht haben, dass wir zumindest momentan nicht sterben müssen, sind wir erleichtert und freuen uns vorübergehend wieder unseres Lebens. Zugrundeliegend ist bei Christians Großmutter, die zwei Weltkriege er- und überlebt hat, die Angst vor dem Tod, dem Nicht-mehr-Sein. Die hat Christian auch, wie die meisten Menschen. Zusätzlich hat er sie transgenerational verinnerlicht. Wie wir dieser tiefen Angst hinter all den Versteckspielen unserer Seele therapeutisch auf die Spur kommen, dazu werde ich später kommen. Zuerst möchte ich zwei weitere Coping-Reaktionen schildern, von denen Christian in den nächsten Sitzungen erzählt.

Ch: Zu meinem Vater ist mir noch etwas eigefallen. Er musste immer etwas tun. Bergsteigen, eine neue Fremdsprache lernen, ehrenamtliche Tätigkeiten, in seiner Werkstatt basteln, in Haus und Garten werkeln. Meine Schwester hat bei seinem Begräbnis eine Ansprache gehalten, und da hat sie gesagt: er war wie eine Kerze, die von beiden Enden her gebrannt hat. Wenn er nichts zu tun hatte, war er unrund.
Th: Unrund?
Ch: Missmutig. Unruhe hat er ausgestrahlt. Die ganze Familie musste ihn dann mit Samthandschuhen anfassen. Kann das auch eine Form sein, seine Angst in Schach zu halten?
Th: Das kann gut sein. Handeln um des Handelns willen, um nicht mit Gefühlen in Berührung zu kommen, ist eine häufige Form, um sich von Gefühlen, besonders von Ängsten abzulenken. Kennen Sie das auch?
Ch: Aber ja! Im ersten Lockdown habe ich mich in der Wohnung mit allem Möglichen beschäftigt, die Vorhänge gewaschen, die Bücher und die Regale abgestaubt, die Dateien auf meinem Computer sortiert. Das hat mir den Eindruck gegeben, wenigstens irgendwas Sinnvolles zu tun. Und ja: es hat mich von den Sorgen wegen der Pandemie abgelenkt.

Diese Art, Angst, Unruhe, Belastung zu verstecken, nennen wir Agitation. Sie lässt sich auch in kleineren, oft unbewussten Formen beobachten: mit dem Fuss wippen, mit dem Bart oder einem Ring spielen, immer wieder aufs Handy sehen. Die innere Spannung soll durch repetetives Handeln abgeführt werden.

Eine Coping-Reaktion bleibt uns noch in Christians Kaleidoskop.

Ch: Die Rolle meiner Mutter fehlt noch in meiner Geschichte. Sie war ein – wie soll ich sagen, ein sehr braver Mensch.
Th: Brav?
Ch: Ja, sie hat immer versucht, es allen recht zu machen, vor allem unserem Vater. Sie war wahrscheinlich die Ängstlichste von uns allen, über alles hat sie sich Sorgen gemacht. Verstecken konnte sie das nicht, ihr Gesichtsausdruck, ihre ganze Körpersprache, ihre Stimme machte uns Kindern sofort klar: sie macht sich wieder Sorgen. Als ich einmal den Bus nach der Schule versäumt habe und mit dem nächsten gekommen bin – Handy hat’s ja noch keines gegeben – hat mir meine jüngere Schwester erzählt, dass Mutter vor Angst im Kreis gelaufen ist und ernstlich überlegt hat, die Polizei zu verständigen. Und ich war vielleicht fünfzehn, also kein Kind mehr. Hinter allem hat sie eine Katastrophe befürchtet. Sie ist in die Schule zu Lehrern gelaufen und hat sie hängeringend beschworen, mich nicht durchfallen zu lassen. Und ich war ein grottenschlechter Schüler. Wenn ich von Lehrern ungerecht behandelt wurde, hat sie gemeint: du wirst schon was dazu beigetragen haben. Und wenn ich Streit mit anderen Jungs hatte, sagte sie: bitte streite nicht, Freundschaften sind etwas so Kostbares! Als meine Schwester ihren ersten fixen Freund hatte, hat sie ihr doch tatsächlich den Rat gegeben: wenn dein Mann mit dir schlafen will, dann musst du es auf jeden Fall tun, sonst geht er zu einer anderen.

Diese Coping-Reaktion nennen wir Überanpassung: wenn ich es nur allen Menschen rechtmache, allen gefällig bin, dann wird die ganze Welt mich lieben, niemand wird mir ein Leid zufügen, und ich muss keine Angst mehr haben. Gehen wir noch ein Stückchen weiter in der Therapiesitzung mit Christian:

Th: Kennen Sie dieses Rechtmachen-Wollen auch selbst, Christian?
Ch: Natürlich. Ich versuche, mich so genau wie möglich an all diese Corona-Maßnahmen zu halten, auch wenn mir manches übertrieben vorkommt. Und noch etwas. Ehrlich gesagt, überlege ich mir vor jeder Sitzung, was ich Ihnen und wie ich es Ihnen erzählen werden. Wie Sie dann dreinschauen werden und was Sie sagen werden.
Th: Ich danke Ihnen für Ihre Ehrlichkeit. Was befürchten Sie denn von mir?
Ch: Dass Sie all diese Ängste … dass Sie das lächerlich finden werden. Dass ich Ihnen schon auf die Nerven gehe.
Th: Haben Sie Fragen dazu?
Ch: Schon, ja. Was denken Sie denn über mich mit meinen Ängsten?
Th: Ich denke, wie groß muss die Angst gewesen sein, die Sie als kleiner Bub mitten unter all diesen Menschen voller Angst gehabt haben. Da habe ich viel Mitgefühl mit diesem Christian. Er hat sich tapfer durch diese Welt bewegt und gelernt, kreativ damit umzugehen. Und ich finde es sehr mutig, wie Sie sich jetzt all dem stellen. Langweilig ist das nicht, sondern spannend.

Lassen Sie uns noch einmal Revue passieren, was Christian da alles an Coping-Reaktionen zum Umgang mit seiner Angst entwickelt hat, was für ein reiches Instrumentarium er gelernt und entwickelt hat:

Er kann seine Angst verleugnen – und das ist keine Kleinigkeit angesichts ihrer Allgegenwärtigkeit.

Er setzt seinen Verstand und seine Logik ein, um die Angst zu rationalisieren. Da Gefühle ja an sich oft wenig mit Logik zu tun haben, ist das ein beachtliches Unterfangen.

Er hat die Fähigkeit, seine Angst so intensiv durch andere Gefühle, vor allem Zorn, zu ersetzen, dass er sie momentan nicht spürt.

Er kann seine vielen nur schwer greifbaren Ängste, vor allem die vor dem Tod, zu einer ganz konkreten hin verschieben: zur Angst vor lebensbedrohlicher Krankheit. Wenn diese beruhigt ist, darf er eine Zeitlang angstfrei sein.

Er schafft es, sich mit allen möglichen Arten von Handlungen zu beschäftigen und sich so von der Angst abzulenken.

Und schließlich kann er sich an die verschiedensten sozialen Situation anpassen, sich manchmal auch überanpassen, um dadurch die Hoffnung zu nähren, dass schon alles gutgehen wird.

Das ist keine vollständige Aufzählung all der möglichen Gesichter, hinter denen Menschen ihre Angst verstecken. Zwang und Sucht gehören beispielsweise auch dazu, doch das würde unseren Rahmen sprengen. Es geht hier nicht um eine gesamte Liste. Ich möchte von den Möglichkeiten therapeutischen Handelns erzählen, die für Menschen hilfreich dabei sein können, mit ihrer Angst konstruktiv umzugehen.

Sie werden bemerkt haben, dass ich in der vorherigen Aufzählung von Christians zahlreichen Coping-Reaktionen positive Formulierungen wie „Fähigkeit“, „kann“ oder „er schafft es“ verwendet habe, weil ich dieses Coping als einen im Kern hilfreich gemeinten Prozess verstehe. Klassische tiefenpsychologische Begriffe wie „Abwehr“ oder „Widerstand gegen die Behandlung“ (Freud) setzen pathologisierende Akzente. „Strategie“ ist ein militärischer Begriff, „Mechanismus“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet „Maschine“ oder „Gerät.“ Das würde bewusste geplante Prozesse implizieren. In der Positiven Transaktionsanalyse fokussieren wir uns auf den konstruktiven und kreativen Kern psychodynamischer und entwicklungspsychologischer Vorgänge. Mein Freund und Kollege Henning Schulze und ich entwickeln seit zehn Jahren an unserem Institut die Landkarten der Positiven Transaktionsanalyse. Ein zentrales Element sind fünf Paradigmen, die helfen, die Psychodynamik von Menschen allgemein und die des Versteckens der Angst im Besonderen als etwas grundsätzlich Schöpferisches und Produktives zu verstehen.

In den Sitzungen, nachdem wir die Beziehungen zwischen Christian und den wichtigen Personen in seinem jungen Leben analysiert haben, gehen wir über zu seinem inneren, dem psychodynamischen Prozess. Wir erforschen, wie er mit den Beziehung zu seiner engen Umwelt umgegangen ist.

Th: Christian, in all dem, was und wie sie über ihren Vater, ihre Mutter, ihre Großmutter erzählen, wird deutlich, wie genau sie diese Menschen beobachtet haben.
Ch: Da ist mir ja gar nichts anderes übriggeblieben.
Th: Doch, Sie hätten sich auch zum Beispiel von ihnen abwenden können. All das war Ihnen wichtig, weil sie mit ihnen in Beziehung kommen wollten. Und das ist Ihnen ja auch gelungen.

Hier beziehe ich mich auf das erste Paradigma der Positiven Transaktionsanalyse: Wir haben ein lebenslanges Bedürfnis nach Beziehungen mit anderen Menschen. Das entspricht der menschlichen Natur: wir sind Beziehungswesen. In unserer Kindheit sind wir klein und abhängig, umso mehr sind diese Bedürfnisse und seine Erfüllung lebens- und überlebensnotwendig.

Ch: Wie soll ich das verstehen? Was habe ich denn getan für diese Beziehung? Ich habe doch nur Angst gehabt.
Th: Sie haben versucht, die vielen großen Ängste zu verstehen, von denen Sie umgeben waren. Sie haben sich in diese Ängste hineinversetzt, so sehr, dass Sie sie mitempfunden und verstanden haben. Das war ein entscheidender Weg, um Ihren Eltern und Ihrer Großmutter nahe zu sein: ich fühle ähnlich wie du, und so kann ich dich verstehen.
Ch: Ja, genau, ich wollte ja immer verstehen, warum diese Menschen so schrecklich kompliziert sind. Darum hatte ich ursprünglich auch den Plan, Psychologie zu studieren.
Th: Und unbewusst und intuitiv haben Sie die vielen und verwickelten Wege übernommen, mit diesen Ängsten umzugehen.

Zweites Paradigma der Positiven Transaktionsanalyse: Wir entscheiden uns bewusst und unbewusst darüber, wie wir fühlen, denken und handeln, um am besten in Beziehung kommen und bleiben zu können. Wie kann man Teil einer Familie werden, die voller Angst ist, die verleugnet, rationalisiert, ausagitiert, verschoben, durch andere Gefühle ersetzt und durch Überanpassung kompensiert wird?

Die Antwort finden wir im nächsten, dem dritten Paradigma: Durch Coping orientieren wir uns auf der Basis früher Entscheidungen in der Welt und verbinden uns mit ihr.

Christians Coping besteht darin, sich das Coping der anderen anzueignen und aus diesen einzelnen Reaktionen ein komplexes Geflecht zu entwickeln. Die ganz unterschiedlichen Menschen, von denen der kleine Christian umgeben ist, sind vollauf mit sich selbst, ihren Ängsten und damit beschäftigt, diese Ängste zu verstecken. So kann er auf sie alle eingehen und mit ihnen individuell über das Erfassen und Verstehen der Ängst in Beziehung kommen.

Das Ziel dieses Copings, Christians bewusster und vor allem unbewusster Umgang mit dieser verworrenen Lebenssituation, können wir etwa so in Worte fassen: Mama, Papa, Oma sehen mich und die Liebe und das Verständnis, das ich brauche, viel zu wenig. Das macht mir Angst, ich erlebe, dass ich im Stich gelassen werde und einsam bin. Wie sage ich ihnen das am besten? Ich hab’s: wenn ich auch so viel Angst habe wie sie alle, dann gehöre ich dazu. Dann nehmen sie mich in meinen Bedürfnissen wahr, weil sie ja dieselben Bedürfnisse haben. Aber diese Angst ist qualvoll. Also muss ich sie auch verleugnen, rationalisieren, ausagitieren, verschieben, durch andere Gefühle ersetzen und durch Überanpassung kompensieren. So wird Christian tatsächlich wahrgenommen, wenn auch nicht immer auf die Art, die er sich wünschen würde. Das ist ein ungeheuer kreativer Akt, den er da vollbringt, noch dazu für ein Kind.

Das ist das vierte Paradigma: Unsere Wege, um mit schwierigen und schwierigsten Beziehungssituationen umzugehen, verdanken wir einer großen Kreativität im Umgang mit uns selbst und anderen.

Ch: Ich hatte häufig Alpträume, immer wieder davon, dass ein Krieg ausbrechen würde. Dann ging ich zu meinen Eltern ins Schlafzimmer. Manchmal durfte ich mich zu ihnen legen, das war wunderbar. Ich fühlte mich so sicher und geborgen. Manchmal wurde Vater auch sehr zornig und schickte mich wieder zurück ins Bett. Meine Mutter erzählte mir oft am nächsten Tag davon, wie schrecklich ihre Kriegserlebnisse waren und dass sie heute noch manchmal Angst hätte, besonders bei Sirenengeheul, wie bei den Bombenangriffen, die sie erlebt hat.
Th: Wie war das für Sie?
Ch: Na ja. Einerseits bin ich mir richtig groß und erwachsen vorgekommen und habe sie getröstet: das ist ja schon lang vorbei, und sicher kommt kein Krieg mehr.
Th: Das war eine Umdrehung der Rollen: Sie haben sich verhalten, als ob Sie eine Elternfigur wären, und haben Ihre Mutter als das ängstliche Kind, das sie psychologisch gesehen war, getröstet.
Ch: Und sie hat gesagt: ich bin so froh, dass ich dich habe. Das war schön.
Th: Sie haben so zwar nicht den Trost bekommen, den Sie gebraucht hätten, aber immerhin Zuwendung. Das war in der Situation eine kreative Leistung für das Kind, das Sie waren.
Ch: Die Rolle ist mir geblieben. Immer, wenn sie Trost gebraucht hat, hat sie mit mir geredet. Das tut sie heute noch.
Th: Sie haben dabei eine Qualität gelernt, die Sie heute noch haben: Empathie und Verständnis. Das macht einen guten Teil Ihres Berufes aus.
Ch: Stimmt, meine Häftlinge tröste ich auch oft.

Davon spricht das fünfte Paradigma der Positiven Transaktionsanalyse: Aus unseren kreativ entwickelten Copingreaktionen erschaffen wir uns persönliche und Beziehungskompetenzen, die nachhaltig und konstruktiv wirksam sind.

Wir und auch Christian selbst haben mittlerweile eine Menge darüber erfahren, wie er seine Ängste entwickelt und und gelernt hat, sie als konstruktiv gemeinte Copingreaktionen einzusetzen. Diese Sichtweise hilft ihm dabei, diese Ängste zu akzeptieren und als einen wichtigen Teil seiner Persönlichkeit zu sehen. Sie haben ihm geholfen, sich in seinem komplizierten frühen Leben zurecht zu finden. Dass sie als Erwachsener qualvoll und hartnäckig werden sollten – woher hätte der kleine Bub das wissen sollen? Die ausführliche Analyse, die wir in all diesen Sitzungen erarbeitet haben, wird ihm dabei helfen, einen konstruktiven Weg zu finden, mit der Angst und den Ängsten umzugehen. Er kann lernen, das Gesicht der Angst nicht mehr zu verstecken, sich ihm zu stellen und zu erkennen, dass Angst und Hilflosigkeit hilfreich sein können. Dazu habe ich ein Modell entwickelt, das der Hilfreichen Angst und Hilflosigkeit. Es besteht aus zwei Stufen.

Die erste ist der Schlüssel zur Lösung, die zweite hilft, diesen Schlüssel ins Schloss zu stecken und die Tür zur Lebendigkeit aufzusperren. Dabei werden Fühlen, Denken und Handeln im feel-think-act-Zyklus verknüpft.

Die drei Elemente des Schlüssels zur Lösung haben wir bereits erwähnt. Sie bestehen darin, die Angst zu akzeptieren, die Coping-Reaktionen, also das Verstecken der Angst, zu erkennen und deren konstruktiven Kern zu verstehen.

Christian wird wieder von einer seiner wiederkehrenden Ängste eingeholt:

Ch: Im Moment ist es gerade wieder ziemlich schlimm. Nächste Woche habe ich meinen jährlichen Kontrolltermin beim Urologen, und da schlafe ich jetzt schon schlecht, wenn ich daran denke. Es ist jedesmal dasselbe: was ist, wenn er was entdeckt? Etwas Schlimmes, etwas Gefährliches.
Th: Ein Karzinom?
Ch: Ja, genau. Ich weiß schon jetzt, wie nervös ich sein werde, wenn er mich untersucht. Der Ultraschall und dann der Tastbefund. Und dann das Warten auf den PSA-Befund. Ich will diese Angst nicht immer wieder haben! Es ist ja bis jetzt immer gut gegangen.
Th: Sie ist da, diese Angst. Sie lässt sich nicht verleugnen.
Ch: Bis vor ein, zwei Wochen schon. Da habe ich das Ganze einfach weggeschoben.
Th: Und jetzt? Welche Ihrer vielen Wege zum Umgang mit Angst schlagen Sie jetzt ein?
Ch: Ich lenke mich ab, mit Arbeit, mit Fernsehen, mit Lesen. Auch mit Sex. Ich setze meinen Verstand ein: selbst, wenn es wirklich Prostatakrebs ist, dann ist er doch höchstens in einem frühen Stadium. Das ist noch kein Todesurteil. Schlimmstenfalls eine Operation, und da sind die Heilungschancen gut. Aber es könnte ja sein… (Pause)
Th: Es könnte sein?
Ch: Dass ich doch sterben muss. Ich weiß, das müssen wir alle, aber doch nicht so und doch nicht jetzt!
Th: Jetzt sind wir beim Kern Ihrer Angst.
Ch: Ja! Die Angst vor dem Sterben.
Th: Die Angst vor dem Tod. Sie beschäftigt uns alle, immer wieder, das ganze Leben lang. Die Angst vor dieser großen unvorstellbaren Unbekannten: es wird mich nicht mehr geben.
Ch: Das ist ein furchtbarer Gedanke, wenn Sie das so aussprechen. Denn das wird einmal passieren, auch wenn urologisch alles in Ordnung ist.
Th: Ja, das wird es. Und es ist völlig normal und menschlich, davor Angst zu haben.
Ch: Und all meine Versuche, sie zu loszuwerden, funktionieren nicht mehr wirklich.
Th: Das sehe ich anders: Sie brauchen das Loswerden nicht mehr so wie früher, weil Sie begonnen haben, sich Ihrer Angst zu stellen. Und das, was Sie dabei gelernt haben, kann Ihnen dabei hilfreich sein.
Ch: Ja?
Th: Welche Ideen haben Sie dazu?
Ch: (Pause) Mein Denken kann mir helfen, Lösungen zu finden, wenn der worst case eintritt. Und ich kann mich kommunikativ gut auf den Arzt einstellen und mich von ihm beraten lassen.
Th: Genau. Noch Ideen?
Ch: Ich muss nicht passiv abwarten, bis der Tod kommt, sondern kann mein Leben gestalten, solange ich es noch habe.

Das ist er, der Schlüssel zur Lösung, der uns die Tür zum wahren Gesicht der Angst öffnen kann: Akzeptieren der Angst, Wahrnehmen der Coping-Reaktionen und Erkennen des konstruktiven Kerns. Jetzt steht Christian vor dem entscheidenden Schritt: sich seiner Angst vor dem Tod zu stellen. Dabei verknüpfen wir Fühlen, Denken und Handeln, also das, was unsere Person ausmacht, im feel-think-act-Zyklus. Dazu möchte ich Ihnen als Beispiel eine fiktive Geschichte über mich und ein wenig auch über Sie erzählen.

Drehen wir für diese Geschichte die Uhr ein wenig zurück, vielleicht etwa eine Stunde. Ich komme zu diesem Zeitpunkt gerade hier im Tagungshaus an, nur 20 Minuten vor Vortragsbeginn. Es hat ein Problem mit der Straßenbahn gegeben, Taxi war auf die Schnelle keines zu kriegen, also musste ich zu Fuß gehen. Aber jetzt ist alles gut, mit dem Techniker zusammen verkabeln wir mich mit dem Headset und laden die Präsentation vom Stick herunter. Dann will ich die Mappe mit meinem Vortrag aus dem Rucksack holen – oh Schreck, sie ist nicht da. Ich bin den Text morgens noch einmal durchgegangen und habe das Ganze zu Hause auf meinem Schreibtisch liegen gelassen. Adrenalin, Schweißausbruch, Schnappatmung – was tue ich jetzt? Nach Hause fahren, holen und wieder herfahren! Ich laufe die Stiegen hinaus zum Parkplatz – ich bin ja gar nicht mit dem Auto hergekommen. Wir haben ja gar kein Auto mehr. Taxi? Das geht sich nicht aus, alles in allem dauert das fast eine Dreiviertelstunde. Ich rufe meine Frau an, ob sie mir den Text per Taxi hierherbringen kann. Sie hebt nicht ab – nein, sie ist ja mit dem Hund beim Hundefriseur. Ob ich den Text hier ausdrucken kann? Sinnlos, ich habe ja den Laptop nicht mit, und auf dem Stick ist nur die Präsentation.

Wenn wir mit Problemen, Belastungen, Krisen, Traumata konfrontiert sind, aktivieren wir in aller Regel zuerst die Verhaltensebene, das Handeln. Wenn es etwas gibt, was wir tun können, um das Problem sinnvoll zu lösen, können wir die Geschichte ad acta legen. Doch hier funktioniert das nicht: meine Handlungsoptionen sind blockiert, es gibt nichts, was ich tun kann, um den Text in die Finger zu bekommen. Also muss ich darüber nachdenken, was ich für andere Optionen habe. Wenn das Handeln blockiert ist, aktivieren wir das Denken. Also: ich werde den Vortrag aus dem Stegreif halten, das kriege ich schon hin. Wie war das nochmal? Zuerst Rod Stewart, dann das Maturatreffen, Nachkriegsgeneration, und dann kommt Christian und erzählt von Eltern und Großmutter, die verschiedenen Copingreaktionen. Moment, ich muss ja zuerst erklären,was Coping ist. Halt, da war noch die Geschichte mit der Pandemie vorher. Wann kommen die Paradigmen? Ich verwirre mich zusehends. Auch das Denken ist blockiert. Dann geht es ums Fühlen, fällt mir ein, meine eigenen Überlegungen. Was fühle ich? Hilflosigkeit. Und in der mischen sich andere Gefühle. Diese Landkarte haben wir ja selbst entwickelt. Angst, Scham, Traurigkeit. Ja, Angst ist da, Angst, dass ich das versemmeln könnte. Sie als meine Zuhörer:innen könnten enttäuscht sein, den Raum verlassen. Die Kolleginnen vom VPA könnten mich nicht mehr als Vortragenden einladen. Das wäre ziemlich beschämend.

Moment, das sind aber keine authentischen Gefühle von 2025. Die gehören einem viel jüngeren Klaus, der im Gymnasium, im Lateinunterricht nach vorne geholt und beschämt wurde. Dessen TA-Ausbilder gesagt hatte: du kannst viel, aber vortragen kannst du nicht. Und da wird ein anderes Gefühl spürbar: es wäre schade, es wäre traurig, dass ich diesen Vortrag nicht so halten kann, wie ich mir das vorgenommen hatte. Ich hatte so viel Freude beim Schreiben, und ich habe mich so darauf gefreut, mit Ihnen als meinem Publikum in Kontakt zu sein, Sie zu berühren, Sie zum Lachen zu bringen. Ja, das ist traurig. Und wenn ich mit diesem Gefühl in Kontakt komme, bin ich auch wieder in Kontakt mit mir selbst. Ich kann wieder klar denken, und ich entwickle Handlungsoptionen: ich werde damit beginnen, Ihnen die Situation zu schildern und den Vortrag mit Ihrer Hilfe, Ihren Fragen und in der Diskussion zu entwickeln, ohne Anspruch darauf, alles so zu erzählen, wie ich geschrieben habe.

Unsere Emotionen sind dazu da, Probleme zu lösen. Erst wenn wir uns erlauben, zu fühlen, können wir ins lösungsorientierte Denken und von dort zu sinnvollem Handeln kommen.

Sehen wir uns dieses Geschehen bei Christian an. Er hinterlässt eine Nachricht, ich möge ihn so rasch wie möglich anrufen. Seine Stimme klingt gepresst, er sagt, dass er dringend einen Termin braucht, der urologische Befund sei schlecht. Ich kann ihn noch am selben Tag, einem Montag, einschieben.

Ch: Der Arzt macht das immer so, dass er sich meldet, wenn der PSA-Wert nicht gut ist. Er hat bei mir angerufen, aber mich nicht erreicht, weil ich gerade in einem Termin war. Mir ist der Schreck in die Glieder gefahren, als ich die Nummer auf meinem Handy gesehen habe, ich habe zu zittern begonnen und mein Mund war ganz trocken. Unzählige Male habe ich zurückgerufen, aber es war Freitag Nachmittag, und in der Ordination hat niemand mehr abgehoben.
Th: Wie haben Sie dann das Wochenende verbracht?
Ch: Es war die Hölle. Ich habe mich nicht beruhigen können und habe die ganze Zeit das Internet durchforstet. Natürlich habe ich mit den Informationen nichts anfangen können, weil ich ja nicht gewusst habe, wie hoch der Wert ist. Ein Satz, den ich da gelesen habe, ist mir nicht aus dem Kopf gegangen:Je erhöhter der PSA-Wert, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Prostatakarzinom vorliegt. Was mache ich nur, wenn das so ist, habe ich immer wieder gedacht.
Th: Heute ist Montag. Haben Sie jetzt den Wert?
Ch: Ja, deswegen habe ich Sie ja angerufen. Er ist bei 8,3, und in meinem Alter sollte er nicht höher sein als 4,5. Der Arzt meint, das ist noch kein Grund zur Besorgnis, es kann auch eine Entzündung sein. Aber wir sollten sicherheitshalber eine Biopsie machen. Der Termin ist übermorgen, und spätestens heute in einer Woche müsste der Befund da sein.
Th: Das ist zwar schnell, aber Ihnen wird es lang vorkommen.
Ch: Ja! Wie soll ich denn die Zeit herumbringen? Ich kann ja nichts tun, bevor ich Näheres weiß. Ich kann mir gar nicht vorstellen, zu arbeiten. Und meine Freizeit zu gestalten schon gar nicht. Machen Sie sich einmal keine Sorgen, sagt der Arzt. Muss er ja sagen, aber das ist unmöglich.

Christian sucht nach Lösungen auf der Handlungsebene, findet keine und versucht, darüber zu denken.

Th: Wollen Sie mir von Ihren Sorgen erzählen?
Ch: Das sind hauptsächlich Fragen. Was mache ich, wenn tatsächlich ein Tumor gefunden wird? Wie gehe ich damit um? Muss die Prostata entfernt werden? Ist es früh genug? Werde ich impotent sein? Wieviel Zeit bleibt mir dann noch? Ich weiß schon, es ist ja noch gar nicht sicher, dass ich Krebs habe. Vielleicht geht ja alles gut, und ich muss noch nicht sterben.

Auch Christians Denken ist blockiert.

Th: Ich sehe, dass Sie wieder verschiedene Ihrer Reaktionen einsetzen, die Sie ein Leben lang gelernt und eingeübt haben, um mit Ihrer Angst umzugehen. Sie versuchen, den Verstand einzusetzen und sie wollen die Angst wegzuschieben.
Ch: Ist das schlecht?
Th: Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Am Mittwoch ist die Biopsie, und Montag werden Sie den Befund erhalten. Ich kann Ihnen kommenden Freitag einen Termin geben, um Sie in der Zeit des Wartens zu begleiten.

Ich gehe davon aus, dass Christians Angst bis dahin noch steigen wird. Es ist Zeit, ihn mit dem zentralen Element des feel-think-act-Zyklus in Berührung bringen: dem ungeschminkten Gesicht seiner Angst.

Am Freitag schwankt Christian zwischen seinen Ängsten und vorsichtiger Zuversicht.

Ch: Es geht auf und ab. Manchmal denke ich mir, wenn wirklich das Schlimmste eintritt, werde ich auch Wege finden, damit umzugehen. Werden Sie mir dabei helfen?
Th: Ja, das würde ich, wenn es notwendig sein sollte. Und ja, ich bin mir sicher, dass Sie Wege finden würden.
Ch: Danke. Und dann sitze ich manchmal da und könnte heulen. Das Warten ist einfach qualvoll.
Th: Qualvoll sind Ihre Ängste und Ihre Versuche, sie in den Griff zu kriegen.
Ch: Was soll ich denn sonst tun?
Th: Wollen Sie sich gemeinsam mit mir dieser Angst stellen?
Ch: Ja, will ich. Und wie?
Th: Christian, auch wenn Ihr Befund sich harmlos herausstellt, bedeutet das zwar, dass Sie nicht am Prostatakrebs erkrankt sind und auch nicht daran sterben werden. Aber Sie werden eines Tages sterben, so, wie wir alle.
Ch: Ja, das weiß ich.
Th: Alle Menschen wissen, dass sie sterben werden. Aber die meisten wollen es nicht glauben.
Ch: Glauben Sie es denn?
Th: Je älter ich werde, desto eher kann ich es glauben.
Ch: Und wie geht es Ihnen damit?
Th: ich hätte gerne noch einige Jahre Zeit.
Ch: Und wenn es bald wäre?
Th: Dann könnte ich auf ein erfülltes Leben zurückblicken, mit Höhen und Tiefen.
Ch: Das möchte ich auch. Aber ich möchte überhaupt nicht sterben!
Th: Ich weiß, Christian. Da ist diese furchtbare Angst.
Ch: Ja! Oh Gott, ich habe so große Angst! Alles wäre vorbei, und für vieles wäre es dann zu spät. (beginnt zu weinen) Ich würde nicht mehr erleben, wie meine Enkelkinder groß werden. Ich würde meine Frau nie wieder sehen. Ich würde gar nichts mehr sehen, keinen Frühling mehr, kein Weihnachten. Ich würde keinen Geburtstag mehr feiern. Alles, alles wäre vorbei.
Th: Nicht wäre. Alles wird vorbei sein. Und das wird sehr traurig sein.
Ch (unter heftigem Schluchzen): Es ist so ungerecht, dass wir alle sterben müssen.
Th: Und es ist Teil unseres Lebens. Dieses Wissen, dass wir nicht unendlich viel Zeit haben, hilft uns, unserem Leben einen Sinn zu geben.
Ch (lange Pause, sein Weinen lässt nach): Das stimmt. Das ist tröstlich. Ja, mein Leben hat einen Sinn. Meine Frau, meine Kinder, meine Enkel, meine Freunde. Da ist so viel Freude in meinem Leben. Und auch in meinem Beruf. Es gibt so viel, das ich Menschen mitgeben kann, die in einer wirklich schwierigen Lage sind. Die jahrelang im Knast sitzen und sich dann wieder in der Welt draußen zurechtfinden wollen.
Th: Das ist sehr schön, Christian.
Ch: Ich möchte das kommende Wochenende nicht mit Grübeln und Ängsten verbringen. Ich möchte meine Enkeltöchter sehen und mit ihnen Spaß haben, was immer der Montag bringen wird.

Christian ist durch seine tiefen Gefühle von Angst und Trauer gegangen. Sein Denken ist wieder hilfreich, und er plant konstruktive Handlungen.

Er hat Glück: sein Befund ist negativ, sein hoher PSA-Wert wurde durch eine Prostataentzündung verursacht, deren Ursache in einem Harnwegsinfekt liegt. Die antibiotische Behandlung ist erfolgreich, bei der Kontrolluntersuchung sechs Wochen später ist der Wert wieder normal. In den Sitzungen daruf sprechen wir viel über die Erfahrungen der geschilderten Tage, unsere Gespräche und seine Gefühle.

Ch: Ich merke, dass ich mich verändere, und da bin ich sehr dankbar dafür. Ich  beschäftige mich nicht mehr so viel mit meinen Ängsten, manchmal sind sie da, dann lasse ich sie zu, und sie klingen ab. Manchmal sind sie auch ganz weg. Ich nehme sie nicht mehr so wichtig. Viel mehr denke ich über mein Leben nach und darüber, was von mir bleiben wird, wenn ich einmal nicht mehr bin. Vor kurzem ist meine alte Tante mit 92 Jahren verstorben, sie war die Letzte aus der Generation vor mir in der Familie. Das Begräbnis war sehr berührend und stimmig. Wir sind eine große Familie, meine Mutter hatte 4 Geschwister. So viele Cousins und Cousinen mit ihren Kindern und Enkelkindern waren da. Ich kenne sie alle mein ganzes Leben lang, da gibt es viele tiefe Verbindungen. Und allmählich sind wir alle alt geworden. Die Menschen vor uns sind gegangen, und die nächste Generation, die gehen wird, ist unsere. Und das ist in Ordnung so, das ist der Lauf des Lebens. (Pause) Aber noch leben wir alle, und das ist sehr schön. Meine Familie wird mir immer wichtiger. Ich habe ja demnächst einen runden Geburtstag. Ursprünglich wollte ich ihn nicht groß feiern, ich wollte gar nicht an mein Alter denken.
Th: Wollten Sie es verleugnen?
Ch: Vielleicht. Aber jetzt ist das anders. Ich freue mich, dass ich schon so viel erlebt habe und gesund und am Leben bin. Ich möchte eine große Feier veranstalten, mit meiner Familie, Freunden und Freundinnen, Menschen aus allen Abschnitten meines Lebens.
Th: Das ist eine schöne Idee, Christian.

Die Abstände zwischen unseren Sitzungen werden nun größer, Christians Therapie geht allmählich zu Ende. Einige Tage nach seiner Geburtstagsfeier erzählt er darüber.

Ch: Es war eine sehr schöne und sehr bewegende Feier. So viele Menschen, die sich mit mir darüber freuen, dass es mich gibt. Ich bin immer noch so berührt davon. Eine ganz besondere Begebenheit möchte Ihnen erzählen.
Th: Gerne, Christian. Ich bin auch berührt davon, wie berührt sie sind und wieviel Freude Sie ausstrahlen.
Ch: Danke. (Pause) Also meine Töchter und die Schwiegersöhne haben eine Zusammenstellung alter Videos gemacht, die alten Super-8-Filme digitalisiert. Das hat mit Filmen begonnen, auf denen ich und meine Schwestern Teenager waren. Alle waren drauf, meine Großeltern als Alte, meine Eltern in der Mitte des Lebens. Unsere Hochzeit. Dann die Filme, als meine Kinder klein waren und herangewachsen sind, bis herauf zu den Enkeln. Und ich selbst als der Mann, der ich heute bin, an der Schwelle zum Alter. (Pause, er schneuzt sich)
Th: Das klingt wunderschön, und ich bin wieder sehr berührt von Ihrer Erzählung.
Ch: Und dann ist mir ein Liedtext eingefallen, der da genau dazu passt. Kennen Sie es? „Heast es nit, wie die Zeit vergeht?“ Diese Zeile „die Jungen san alt wordn, und die Altn san gstorben.“ Genauso ist es, der Kreislauf des Lebens. So viele auf diesen Filmen sind alt geworden und gestorben, die Großeltern, die Eltern. Meine Kinder sind erwachsen, und jetzt gehöre ich zu den Alten. Ich bin siebzig. Und all das ist ganz in Ordnung und gut so. Es macht mir keine Angst mehr.

Und so, wie ich mit einem Song über das Jungsein begonnen habe, möchte ich meinen Vortrag mit einigen Zeilen aus diesem Lied über das Altwerden abschließen.

Heast as nit
Wia die Zeit vergeht
Gestern no'
Ham d'Leut ganz anders g'redt
Die Jungen san alt wordn
Und die Altn san g'storbn
Und gestern is' heit word'n
Und heit is' bald morg'n
Heast as nit
Heast as nit
Heast as nit, wia die Zeit vergeht
Hubert von Gosiern, Heas

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