Mein psychologisches Corona-Tagebuch: Berufliche Ängste (und andere)

„Ich weiß überhaupt nicht, wie es weitergehen soll.“ (23.03.2020)
Über hunderttausend Menschen sind seit Beginn der Corona-Krise als arbeitslos gemeldet, noch viel mehr in Kurzarbeit, und das ist wahrscheinlich noch lange nicht der Höhepunkt dieser Entwicklung. Zu der stark reduzierten sozialen Situation und der Angst vor einer eigenen Erkrankung und der nahestehender Menschen kommen Ängste um die ökonomische Situation, um die materielle Existenz.
A., männlich, Mitte 30 ist seit einigen Monaten wegen Burnout-Gefahr in Psychotherapie. Seit der vorläufigen Schließung meiner Praxis sind wir auf Skype-Sitzungen umgestiegen.

A.: Was soll ich denn tun, wenn ich meine Arbeit verliere?
Therapeut: Haben Sie diesbezüglich schon Informationen von Ihrem Arbeitgeber?
A.: Nicht viel, aber Kurzarbeit steht uns ziemlich sicher bevor. Momentan bin ich im Home-Office.
Therapeut: Kann man sagen, dass Ihr größtes Problem in diesem Zusammenhang die Unsicherheit ist?
A.: Ja, genau. Ich weiß einfach überhaupt nicht, wie es weitergehen wird.
Therapeut: So geht es zurzeit den meisten Menschen.
A.: Ich weiß. (Schweigen, kratzt sich am Kopf)
Therapeut: Was denken Sie gerade, Herr A.?
A.: Wie gehen denn andere Menschen damit um?
Therapeut: Das beantworte ich Ihnen gerne, aber erlauben Sie mir zuerst eine Frage: wie gehen denn Sie damit um?
A.: Verschieden. Meistens grüble und grüble ich. Oder ich gehe meiner Freundin auf die Nerven (lacht). Manchmal ist mir zum Heulen, und manchmal möchte ich alles kurz und klein schlagen.
Therapeut: Und vielleicht steckt hinter der Traurigkeit und hinter dem Zorn noch ein anderes Gefühl. Eines, das schwerer zugänglich für Sie ist als die beiden anderen. Eines, das in der Situation jetzt sehr passend ist.
A.: Und was könnte das sein?
Therapeut: Angst.
A.(schweigt lange, man sieht ihn schlucken, dann sehr leise): Ja. Ganz viel Angst.
Therapeut: Wollen Sie mir von Ihrer Angst erzählen?
A.: Dass alles den Bach runtergeht. Mit der Wirtschaft, mit unserem ganzen Leben. Mit unseren Plänen. Wir haben doch für nächstes Jahr ein Kind geplant und wollten uns eine größere Wohnung leisten. Und jetzt? Was wird jetzt mit uns allen?
Therapeut: Wie fühlt sich das an, wenn Sie sich auf Ihre Angst einlassen?
A.: Zum Weinen (seine Augen werden feucht). Aber ich bin doch ein Mann.
Therapeut: Und?
A.: Männer weinen doch nicht.
Therapeut: Ist das so?
A.: (zuckt mit den Achseln)
Therapeut: Auch Männer haben Angst. Das ist ganz normal. Es ist ganz normal, dass Sie Angst haben, und es ist normal, dass Sie aus Angst weinen wollen.
A.: Und was kann man da tun?
Therapeut: Da gibt es vorerst nichts zu tun. Wichtig ist, das Gefühl zuzulassen. Dann kommt auch das klare Denken wieder. Sie haben Angst. Willkommen als Teil der Menschheit. Wir haben alle Angst.
A.: Sie auch?
Therapeut: Natürlich.
A.: Und wie gehen Sie damit um?
Therapeut: Ich gestehe sie mir zu. Ich spreche mit vertrauten und nahen Menschen. Und manchmal kommen auch mir die Tränen.
A.: Obwohl Sie ein Mann sind? (lächelt)
Therapeut (lacht): Nicht obwohl, sondern weil.
A.: Ich glaube, ich gehe jetzt wieder ins Home-Office. Genauer gesagt, bleibe ich sitzen, wo ich bin (lacht). Danke.
Therapeut: Gerne, Herr A. Sie melden sich wieder?
A.: Oder wir machen uns gleich einen Termin aus. Anfang kommender Woche, vielleicht?

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