Leseprobe aus "Trennung oder Neubeginn. Hilfe für Paare in der Krise
Klaus Sejkora, Fischer&Gann Verlag Munderfing, 2015
Kapitel 1
Die Gegenwart: Alles, was geschieht, geschieht jetzt
... the birds they sang at the break of day
start again I heard them say
don't dwell on what has passed away
or what is yet to be. ....
(Leonard Cohen, Anthem)
In der Einleitung haben wir über die Frage gesprochen, ob Ihre Beziehung ‚in der Krise’ ist. Sie haben meine zehn Fragen beatwortet und Ihre Standortbestimmung auf einer Skala von eins bis zehn vorgenommen. Wir haben einen Blick auf die Symptome Ihrer Beziehungssituation geworfen und haben dann definiert: ab dem Auftreten von mindestens fünf dieser Symptome können wir von einer ‚Beziehungskrise’ sprechen.
Aber was ist das überhaupt, eine Krise? Wir verwenden das Wort inflationär. Wir reden und lesen von politischen Krisen, von Wirtschaftskrisen, von der Krise eines Unternehmens, der politischen Parteien, der Kirchen. Im täglichen Sprachgebrauch meinen wir damit ungefähr, dass irgendetwas schwierig geworden ist und dass es keine einfachen Lösungen geben wird – wenn denn überhaupt welche gefunden werden können.
Das ursprünglich griechische Wort ‚crisis’ bedeutet nichts anderes als ‚entscheidende Wendung’; ursprünglich gebräuchlich war der Begriff ab der frühen Neuzeit in der Medizin, um den Höhepunkt einer Krankheit zu bezeichnen, an dem es sich entscheidet, ob der Patient stirbt oder wieder gesund wird. Das kommt in der Tat der Situation im übertragenen Sinn sehr nahe, um die es in diesem Buch geht: Menschen sind in ihrer Partnerbeziehung an einem Punkt angelangt, an dem es so nicht weitergeht. Sie erleben sich in einer Sackgasse, alles, was sie bisher probiert haben, hat nicht funktioniert. Es wird Zeit für eine Entscheidung. Wie lange diese Krise schon dauert und wie genau sie sich äußert, ist unterschiedlich und hat sehr mit dem subjektiven Empfinden und dem subjektiven Handeln der beteiligten Personen (und auch dem Umfeld eines Paares, insbesondere den Kindern) zu tun.
Das deutlichste Anzeichen für eine Beziehungskrise sind häufige und nicht wirklich zufriedenstellend gelöste, oft gänzlich ungelöste Konflikte zwischen den beiden Menschen, die sich über einen längeren Zeitraum hin wiederholen. Die Ursachen dieser Auseinandersetzungen sind oft scheinbar nichtig, es treten aber sehr schnell heftige und intensive Gefühle auf: rasende Wut, abgrundtiefe Verzweiflung, panische Angst können in Sekundenschnelle aufbrechen und scheinen nicht kontrollierbar zu sein. Ebenso heftiges und intensives Verhalten geht damit einher: Schreien, Gewaltandrohungen oder tatsächliche Gewalt, vollständiger Rückzug und eisiges Schweigen, Türenknallen, Beschimpfungen, verbale Grobheiten und vieles andere.
Und eines ist diesen Streits immer gemeinsam: sie führen sofort weg vom auslösenden Thema. Sie führen entweder in die – nähere oder fernere -Vergangenheit („Ich hab dich schon vor drei Tagen darum gebeten!“, „Jedes Weihnachten ist es dasselbe!“,„Das war schon immer so!“, „Seit Jahren geht das jetzt so dahin!“ oder in die Zukunft („So kann das nicht weitergehen!“, „Eines Tages werde ich genug von dir haben!“).
Das aktuelle Thema ist so natürlich nicht lösbar. Es ist nicht unbedeutend, wie Paare oft glauben („Es geht eigentlich um nichts!“), aber es ist – isoliert gesehen - ein Problem der Gegenwart. Und alle Zeitreisen des Streits – vor und zurück – führen weg von einer sinnvollen Lösung.
Im einleitenden Abschnitt habe ich Sie bereits kurz mit Marlene und Hans bekanntgemacht. Auch ihre Paartherapie beginnt sofort mit einem ausführlichen Blick in die Vergangenheit.
Hans und Marlene
Hans: Wir haben schon alles probiert – aber wir kommen nicht auseinander, und wir kommen nicht zusammen ...
Marlene: Von der Paartherapie bis zur vorübergehenden Trennung. Und vor allem Außenbeziehungen. Ich meine, das war er, ich nicht.
Hans: Ja, klar, sind wieder alle Trümpfe bei dir.
Marlene: Was heißt Trümpfe? Lustig war das nicht!
Hans: Dann musst du aber schon dazu sagen, was mich dazu gebracht hat.
Marlene: Ach, gebracht? Hab’ ich dich vielleicht dazu gezwungen?
Hans: Na ja, weit weg davon ist das nicht, wenn man sagt: dann geh’ doch zu einer anderen!
Es ist, als ob das Paar in jedem Streit mit einem Schlag die ganze Vergangenheit aufarbeiten wollte, am besten, indem der eine oder die andere die ganze Schuld auf sich nimmt. Es beginnt mit einer aktuellen Verletzung – und dann ist es, als ob all die vielen, vielen Wunden auf einmal zu bluten begännen. Wie an einem Gummiband wird man in die Vergangenheit zurückgezogen und kann sie nicht loslassen (und das ist, wie wir später sehen werden, nicht nur die gemeinsame Geschichte des Paares, sondern reicht – unbewusst – viel weiter, ein ganzes Leben lang, zurück).
Und trotzdem ist es notwendig, diese Vergangenheit fürs Erste beiseite zu lassen. Die Beschäftigung damit erschöpft die beiden, sie laugt sie aus und treibt sie immer tiefer in die Sackgasse hinein
Hans und Marlene
Marlene: Ich kann einfach nicht mehr. Ich weiß nicht ein und aus, jeden Tag nehme ich mir vor, damit aufzuhören, aber es fängt wieder an, kaum, dass wir aufgestanden sind.
Hans: Ja, Mir geht es genauso. Ich denke die halbe Nacht nach, allmählich komme ich zur Ruhe und glaube, ich weiß einen Ausweg. Aber sobald wir die ersten Worte miteinander reden, geht es wieder los.
Marlene: Es ist wie ein Karussell, das sich unaufhörlich dreht, schneller und schneller, und aus dem man nicht aussteigen kann.
Das ist die passende Metapher für die Situation eines Paares in der Krise: ein Karussell, aus dem man nicht aussteigen kann. Genauer: aus dem man glaubt, nicht aussteigen zu können. Als ersten Schritt geht es darum, dieses Karussell zu stoppen. So lange immer neue Verletzungen passieren, können die alten nicht einmal ansatzweise verarbeitet werden und heilen.
Daher fangen wir – sowohl in einer Paartherapie als auch in unserer Reise durch das Buch – in der Gegenwart an. Jeder Konflikt, jeder Streit, so sehr er sich auch mit der Vergangenheit beschäftigt, geschieht genau jetzt. Genau jetzt bildet er ab, wie das Paar miteinander umgeht, wie es seine Beziehung stört und zerstört. Aber der Blick darauf, weg von Verallgemeinerungen, weg von Ausflügen in die Vergangenheit, konfrontiert die beiden Menschen mit etwas, das sie nicht gerne sehen möchten: ihrer Hilflosigkeit und ihrer Schwäche, ihren Schwierigkeiten dabei, auch nur den kleinsten Konflikt gemeinsam zu lösen. Ein wichtiger Punkt dabei ist, dass all das, was das Karussell in Gang bringt und in Schwung hält, nicht bewusst geschieht (obwohl das dem Anderen gern unterstellt wird). Keiner von beiden möchte so sein – und hat doch eine Art von Empfinden, das sagt: ich muss, ich kann nicht anders.
Wenn es – theoretisch - möglich wäre, das Karussell einfach schlagartig zu stoppen, wären die Insassen damit höchstwahrscheinlich überfordert: sie wären (bildlich gesprochen) schwindlig und hätten weiche Knie. So sehr sie diesen Stillstand ersehnen mögen, so sehr hätten sie – noch – kein Repertoire, um damit umzugehen. Zu fremd wäre die Situation. Daher brauchen wir Zwischenschritte, um dieses Karussell allmählich zum Stillstand zu bringen.
Dazu sind auf dieser Reiseetappe – der Gegenwart – drei Schritte wichtig:
1. das Finden einer gemeinsamen Basis, und sei sie auch noch so klein. Diese Grundlage wird Schritt für Schritt ausgebaut und begleitet uns die ganze Zeit über – bis zum Finden der gemeinsamen Entscheidung.
2. die Analyse und Veränderung der zerstörerischen Muster des Paares
3. der Umgang mit den Gefühlen, die dabei im Spiel sind, sowohl mit denen, die ausgedrückt als auch mit denen, die unterdrückt werden