Leseprobe "Vom Lebensplan zum Beziehungsraum"
1. Der unbewusste Lebensplan: vier Lebensgeschichten
Wir Menschen unterscheiden uns von anderen Lebewesen unter anderem dadurch, dass wir uns unseres Lebens bewusst sein können. Wir können uns an die Vergangenheit erinnern, um daraus zu lernen, wir können dementsprechend unsere Gegenwart gestalten und wir können die Zukunft beeinflussen – zumindest versuchen wir es. Das alles geschieht vor dem Hintergrund, dass wir wissen, dass wir eines Tages sterben werden, und das in Gefühlen und Gedanken verarbeiten können.
Gleichzeitig sind wir soziale Wesen. Wir brauchen Beziehung zu anderen Menschen, denn alleine sind wir physisch und psychisch nicht lebensfähig – je jünger wir sind, umso weniger. Wir wollen die Zeit, die wir haben, für uns in unseren Beziehungen so sinnvoll und positiv gestalten, wie wir können. Dazu versuchen wir, unserem Dasein eine Art Gerüst zu geben.
Immer gab es Menschen, die Antworten auf die Frage suchten, wie wir dieses menschliche Leben in der Verbindung mit anderen Menschen formen können, und Anweisungen dazu gaben. Im abendländischen Kulturraum begannen die griechischen Philosophen der Antike damit, römische Dichter und Denker setzten es fort. Vor 2000 Jahren übernahmen das Christentum und seine theologischen Lehren und Auslegungen diese Rolle, ab dem 17. Jahrhundert trat naturwissenschaftlich geprägtes rationales Denken, vor allem die Aufklärung, in den Vordergrund. Seit dem 19. Jahrhundert kommt diese Funktion hauptsächlich politischen Weltanschauungen zu. In anderen Kulturen ist das auf andere Art und mit anderen Inhalten genauso geschehen.
Ziel aller dieser Strömungen war es im Wesentlichen, von außen her zu beeinflussen, was Menschen zu denken und zu fühlen und wie sie zu handeln haben, um bestimmten sittlichen, kulturellen und moralischen Normen zu entsprechen. Die Folgen dieser Normierungsversuche, wenn sie zu absoluten Wahrheiten hochstilisiert wurden und werden, sind bis heute blutig und grausam. Offenbar funktioniert es nicht, Menschen allgemeingültige Rezepte für ihre Lebensgestaltung zu verpassen, auf die Dauer auch nicht mit Gewalt.
Die Psychologie hat sich lange hauptsächlich mit dem naturwissenschaftlichen Zugang zu allgemeingültigen Gesetzen für menschliches Fühlen, Handeln und Denken und den Motiven dahinter beschäftigt, also mit dem Bewusstsein. Erst die Freud’sche Erkenntnis von der Existenz des Unbewussten und seiner treibenden Kraft bewirkte einen Wechsel in der Betrachtungsweise des Menschen. Die (bis heute weithin immer noch als gültig angesehenen) Grundsätze der Philosophie der Aufklärung und ihrer Vorläufer gehen davon aus, dass es eine absolute Wahrheit gibt, die der Vernunft, dem freien Willen und dem Bewusstsein zugänglich ist. „Cogito, ergo sum“, sagt der französische Philosoph Descartes 1637, „ich denke, also bin ich.“
Freud erkannte, dass Menschen bestimmte Muster in der Beziehung zu sich selbst und zu anderen Menschen wieder und wieder durchspielen, auch wenn diese Abläufe destruktiv und lebenseinschränkend sind – so, als ob sie keine Wahl hätten und unter einer Art Zwang, dem „Wiederholungszwang“ stünden. Dahinter scheint eine Kraft zu stehen, die dem Bewusstsein entzogen ist: das Unbewusste. Es gibt Instanzen im Menschen, die sein Leben intensiver bestimmen als die bewusste Vernunft. Er ist seiner Angst, seiner Verletzlichkeit, seiner Wut, seiner Trauer, seiner Scham, seiner Hoffnung und seiner Sehnsucht, seiner Liebe viel stärker unterworfen als seinem Verstand. Und vor allem: Er beginnt mit der Strukturierung seines Lebens in einer Art Plan viel früher, als er fähig ist, differenzierend logisch und schlussfolgernd zu denken – genauer gesagt, zu einem Zeitpunkt, an dem er einer anderen Art der Logik und des Schlüsseziehens folgt, als wir das als Erwachsene tun, nämlich einer weitgehend emotional gesteuerten.
Die Transaktionsanalyse, die das Hintergrundmodell für den Ansatz dieses Buches liefert , hat einen zentralen Impuls für die psychologischen Wissenschaften gesetzt. Das, was bei Freud noch unbewusste Wiederholungsimpulse sind, die aus der Verdrängung heraus gesetzt werden, wird zu einem unbewussten Konzept für die persönliche Lebensgestaltung verdichtet: dem Lebensplan, in der Fachsprache auch Skript (im Sinne eines Drehbuchs) genannt. Diesem roten Faden, der sich durch den „Lebensroman“ eines Menschen zieht, wollen wir in den nächsten Abschnitten bei Matthias, Gerda, Christoph und Barbara nachgehen.
Erste Begegnungen: Bauelemente des Lebensplans
Wenn wir als Psychotherapeut, als Berater, als Coach Menschen zum ersten Mal begegnen, sind sie meist an einem Punkt angelangt, an dem sie ihr Leben als schwierig, manchmal als unerträglich belastend empfinden. Sie erleben sich als in einem Gestrüpp gefangen, aus dem sie alleine keinen Ausweg mehr finden, so dass sie dafür Hilfe suchen. In diesem Dickicht lassen sich bereits erste Hinweise auf ihre Lebenspläne finden, die nicht mehr konstruktiv zu funktionieren scheinen. Sie sind dysfunktional,– unzweckmäßig und nachteilig – geworden.
Matthias: „Ich habe schon so viel in meinem Leben verloren.“
Beginnen wir mit Matthias, der auf Anraten seines Vorgesetzten zum Coaching kommt. Er erzählt, dass er unter Panikattacken leidet, der Hausarzt hat ihn als an Burnout erkrankt diagnostiziert. Hier ein Ausschnitt aus dem Erstgespräch:
Matthias: Ich schlafe seit fast einem Jahr so gut wie gar nicht mehr. Genauer gesagt, wache ich mitten in der Nacht, so gegen zwei, drei Uhr auf und kann dann nicht mehr einschlafen. Die Sorgen quälen mich, ich wälze mich im Bett herum, stehe auf, setze mich vor den Fernseher, versuche zu lesen. Schlussendlich sitze ich dann auf dem Balkon und rauche eine Zigarette nach der anderen.
Coach: Was für Sorgen quälen Sie denn?
Matthias: Berufliche. Private. Dass ich alles verlieren könnte, was ich mir aufgebaut habe. Und natürlich wirken sich diese Ängste auf mein Leben aus: Ich kann in der Arbeit meine Leistung nicht mehr bringen, und meine Frau ist zunehmend genervt.
Coach: Warum sollten Sie das denn alles verlieren?
Matthias: Das weiß ich selbst nicht. Sicher, es läuft nicht immer alles rund, und welcher Arbeitsplatz ist denn schon sicher? Aber ich habe schon so viel in meinem Leben verloren.
Coach: Was denn alles?
Matthias: Es ist schon ein merkwürdiges Leben, das ich da die letzten Jahrzehnte geführt habe. Immer habe ich mich vor nichts so sehr gefürchtet wie davor, etwas oder jemanden zu verlieren, und habe alles getan, um es zu vermeiden. Und genau das ist ständig passiert: meine erste Frau, die Firma, die ich aufgebaut habe, das Haus – alles ist weg. Und mein ältester Sohn kann mit mir auch nicht recht viel anfangen. Im Grunde hat das bereits in der Kindheit begonnen. Als ich sieben war, ist meine Mutter gestorben. Nach der Geburt meiner jüngeren Schwester hat sie Krebs bekommen. Aber, wie gesagt, jetzt geht es darum, dass ich mir wirklich viel aufgebaut habe und dass ich einfach nichts mehr verlieren will.
Im Mikrokosmos dieser wenigen Sätze lässt sich bereits der Makrokosmos des Skripts erkennen. Einige zentrale Aspekte dieser Lebenskonstruktion lassen sich bereits erahnen.
Wir beginnen mit dem Schreiben des Lebensromans in unserer Kindheit und entwickeln diesen Entwurf von da aus weiter. Wir werden als hilflose Wesen geboren, sind aber gleichzeitig mit einem hoch entwicklungs- und anpassungsfähigen Gehirn und großer Intuition ausgestattet, um uns in der Welt zurechtzufinden. Um das zu können, brauchen wir Beziehung zu anderen Menschen. Wie sie auf uns zugehen, bestimmt unser Verständnis von der Welt, von uns selbst und vom Leben. Wir haben, wenn wir klein sind, nicht die Möglichkeit zu differenzieren, zu relativieren, abzuwägen und zwischen Alternativen zu wählen. Das, was wir erleben, ist für uns die einzig mögliche Welt. Sie bildet das wiederkehrende Motiv unseres Romans, unseres Skripts. Der Tod seiner Mutter hat – natürlich – Matthias’ Leben und seine Haltung dazu, zu sich selbst und zu anderen Menschen entscheidend beeinflusst. Die Angst, Liebes und Wichtiges zu verlieren, hat ihn nie mehr verlassen.
Viele Romane beschäftigen sich mit den unbewussten Lebensplänen des Helden oder der Heldin. All die Bestandteile des Skripts, die wir hier beschreiben werden, finden sich darin. Vielleicht haben Sie die sieben Romane von Joanne K. Rowling über Harry Potter gelesen oder die Filme gesehen. Auch Harrys Lebensplan beginnt in der Kindheit – seine Eltern werden ermordet, als er klein ist, und er wächst die ersten Jahre bei seinen grausamen Verwandten auf, die ihn ablehnen. In diesen seinen frühen Erfahrungen wurzeln bestimmte Grundüberzeugungen, die uns im Lauf der Geschichte immer wieder begegnen: Harry erlebt sich immer wieder als Außenseiter, der um seinen Platz kämpfen muss. Es fällt ihm schwer, Menschen zu vertrauen. Sein Lebensschicksal empfindet er als zutiefst ungerecht.
Zugleich gründet der Roman unseres Lebens auf bestimmten Überzeugungen in Bezug auf uns selbst, andere Menschen und das Leben. In der Transaktionsanalyse sprechen wir von Glaubenssätzen, die wir für so wahr wie Naturgesetze halten. Sie rühren aus den schwierigen Erfahrungen unserer Kindheit her und sollen uns helfen, diese besser einzuordnen und damit umzugehen.
Wenn Matthias sagt: „Immer habe ich mich davor gefürchtet, etwas oder jemanden zu verlieren“, dann steht dahinter wahrscheinlich eine tiefe innere Überzeugung, die heißen könnte: „Ich verliere immer alles.“ Nach diesem Glaubenssatz scheint sein Leben zu verlaufen, denn das Verlieren „passiert“ ihm ja wirklich immer wieder. Doch tatsächlich ist es natürlich nicht „passiert“, wie man das bei Schicksalsschlägen sagen könnte. Er hat es selbst so gestaltet oder zumindest mitgestaltet. Seine erste Ehe ist nicht einfach zerbrochen, er hat seinen Anteil daran gehabt, ebenso wie am Scheitern der Firma und an der schwierigen Beziehung zu seinem Sohn. Diese Verluste und diese Trennungen scheinen ein wesentlicher Teil seines Lebensplans zu sein, doch nimmt er das nicht bewusst wahr. Das ist ein weiterer Grundaspekt der psychologischen Dynamik des Skripts.
Damit kennen wir bereits drei wesentliche Charakteristika des Lebensplans: er wurzelt in der Kindheit, er entwickelt sich anhand von Glaubenssätzen, und er ist unbewusst.
Gerda: „Manchmal frage ich mich, ob ich depressiv bin.“
Die nächste Person, die uns hier begegnet, ist Gerda. Sie ist 72 und sucht psychotherapeutische Hilfe, weil sie an ihrer Einsamkeit leidet.
Gerda: Wissen Sie, manchmal frage ich mich, ob ich nicht depressiv bin. Altersdepressiv nennt man das, glaube ich. Ich habe an nichts mehr Freude, nichts macht mir mehr Spaß. Ich war eigentlich immer ein aktiver Mensch und bin auch körperlich gesund. Ich bin viel gereist in meinem Leben, aber das interessiert mich alles nicht mehr.
Therapeut: Seit wann ist Ihnen denn die Freude an Ihrem Leben abhandengekommen?
Gerda: Das ist schleichend gegangen. Und es hat schon früher solche Phasen gegeben, immer dann, wenn ich Liebeskummer hatte.
Therapeut: Liebeskummer?
Gerda: Ja, immer wenn eine Beziehung vorbei war. Wenn klar war, das funktioniert so nicht mehr. Als ich noch jünger war, habe ich dann irgendwann einmal zum Optimismus zurückgefunden, dass es wieder einen Mann in meinem Leben geben wird. Aber jetzt glaube ich nicht mehr daran. Ich bin einfach zu alt dafür geworden, wer interessiert sich denn noch für mich?
Therapeut: Wie viele Beziehungen gab es denn in Ihrem Leben?
Gerda: Oh, einige. Nicht, dass Sie jetzt glauben, ich wäre eine Wilde gewesen. Ich habe immer nach der großen Liebe gesucht, aber es war halt nie von Dauer. Die Schwierigkeiten waren von Mal zu Mal schneller da, und ich habe immer früher den Mut verloren, um die Beziehung zu kämpfen.
An späterer Stelle im Erstgespräch stellt der Therapeut die Frage:
Therapeut: Wer war denn der allererste Mann, zu dem Ihre Beziehung nicht von Dauer war?
Gerda: Ja, darüber habe ich auch schon nachgedacht. Ich habe ja viele psychologische Bücher gelesen. Ich glaube, das war mein Opa.
Therapeut: Ist er verstorben, als Sie noch ein Kind waren?
Gerda: Nein, das war erst später. Mein Vater war im Krieg, als ich geboren wurde, und dann viele Jahre in Gefangenschaft. Meine Mutter und ich haben in einem Haus mit den Großeltern gewohnt, und mein Opa war wie ein Vater für mich. Meinen richtigen Vater habe ich ja nur von dem Foto gekannt, das im Wohnzimmer hing. Da hing es, bis ich nach dem Tod meiner Mutter das Haus verkaufen musste. Ein fremder junger Mann in Wehrmachtsuniform. Und fremd war er mir auch, als er dann 1950 heimgekommen ist. Ein großer Mann mit schwarzem Bart und finsteren Augen. Und auch für die Mutter war er fremd. Sie hat ihn ja auch kaum kennengelernt, seinerzeit.
Therapeut: Und als der Vater dann heimkam?
Gerda: Im Haus waren zwei Wohnungen, oben waren die Großeltern, und unten waren wir. Ich war es gewohnt hinaufzugehen, wann immer ich wollte, ich war mehr oben als unten. Das hat er mir dann verboten: „Der Opa ist nicht dein Vater! Das bin ich!“ Und wenn ich gesagt habe, dass ich ihn doch sehen will, hat er nur gebrüllt: „Das interessiert mich nicht, was du willst!“
Therapeut: Und Ihre Mutter?
Gerda: Die hat nur stumm zugesehen. Sie hat ja selbst Angst vor ihm gehabt.
In diesen Gesprächsausschnitten aus dem Beginn der Psychotherapie mit Gerda können wir bereits ahnen, wie viel sie schon am Roman ihres Lebens geschrieben hat und wie sich ihre Muster zu fühlen, zu denken und zu handeln wie ein roter Faden durch die Jahrzehnte ziehen. Hier erinnert uns das Skript an die Konstruktion langer und komplexer, oft mehrbändiger Werke.
Wieder können wir das Skript mit der Geschichte von Harry Potter vergleichen. Über mehrere tausend Seiten hin beschreibt Rowling die Entwicklung ihres Helden um immer wiederkehrende Themen: Einsamkeit, Liebe und Nicht-Liebe, Angst, Erfolg und Niederlage. Ähnlich ist es mit unserem Skript. Mit zunehmendem Verlauf können wir mehr und mehr die durchgängigen Linien erkennen, die auf ein Endergebnis hin gerichtet scheinen. Es ist eine Lebenskonstruktion mit einem durchgängigen Thema, das als eine Art Vorherbestimmung empfunden wird. „Ich glaube nicht mehr daran“ (an die Liebe), und: „Ich habe an nichts mehr Freude“, sagt Gerda. Schon als die Liebe des kleinen Mädchens zum Großvater durch väterlichen Befehl enden musste, schien ihr Schicksal besiegelt zu sein: die vergebliche Suche nach Liebe. Der Ursprung des Lebensromans der damals kleinen Gerda liegt in ihren Beziehungen zu den wichtigen Personen ihres frühen Lebens.
Menschen sind soziale Wesen, sie brauchen Beziehung zu anderen, und je kleiner wir sind, desto angewiesener sind wir darauf. Diese Fähigkeit, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten, hat uns in der Evolution bestehen lassen: Wir sind körperlich zu schlecht ausgestattet, um alleine überleben zu können. Wir sind relativ schwach, langsam, unsere Augen, Ohren und Nasen funktionieren weniger gut als die vieler Tiere. Aber wir haben das umfangreichste Großhirn in der Natur, das uns dazu befähigt, differenziert zu fühlen, zu denken, zu kommunizieren und zu handeln. Das hat uns dazu gebracht, uns zu sozialen Systemen zusammenzuschließen, zu Familien, Sippen, Stämmen, Völkern und Nationen. Das Bedürfnis nach Beziehung wohnt uns genetisch inne, Beziehungserfahrungen beeinflussen die Entwicklung unserer Persönlichkeit entscheidend. Der Religionsphilosoph Martin Buber sagt in einem prägnanten Satz: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“ Unser Verständnis von uns selbst, von unserem Ich und von der Welt wird von der Beziehung zu wichtigen anderen Personen bestimmt – und davon, ob sie mit uns mehr oder weniger liebevoll umgehen.
Das Zerbrechen einer heilen Beziehungswelt vor der Heimkunft des Vaters, die plötzliche Unerreichbarkeit aller drei vorher so wohlwollenden Personen, vor allem des geliebten Großvaters, und dazu ein ihr fremder Vater, der wie ein grausamer Schicksalsgott ins Leben tritt – das alles hinterlässt unauslöschliche Spuren in der Seele des kleinen verletzlichen Mädchens. Angst, Schmerz, Zorn und Scham werden ab da ihre (unbewussten) Begleiter und verändern ihr Leben für immer. Es ist, als ob die Menschen um sie herum ihr eine intensive Botschaft über sie selbst vermitteln würden: Du bist nicht wichtig, deine Bedürfnisse zählen nicht. Sie muss sich dieser Botschaft fügen, indem sie sie verinnerlicht. Sie wird zum tragenden Bestandteil des Romans ihres Lebens.
Auch dieses Element findet sich bei Harry Potter. Nach seinen schrecklichen frühen Kindheitsjahren bei der Familie Dursley kommt er auf die Zaubererschule Hogwarts, die ihm zuerst wie ein Paradies erscheint. Doch von Band zu Band wird klarer, dass es wieder nicht seine Bedürfnisse nach einer (für Zauberer) normalen Jugend sind, die zählen. Er muss ein Jahr um das andere dem Kampf gegen den skrupellos bösen Magier Voldemort, den Mörder seiner Eltern, opfern und sich dadurch immer wieder in Lebensgefahr begeben. Die Grundbotschaft seines Lebens, die in der verschlungenen Handlung immer wieder deutlich wird, könnte lauten: Du musst die Ansprüche anderer Menschen verwirklichen. Du bist nicht dazu da, du selbst zu sein. Die Transaktionsanalyse unterscheidet insgesamt zwölf dieser destruktiven Grundbotschaften als Ausgangspunkt des Lebensplans.
Zu den drei Charakteristika des Lebensplans, die wir bereits kennengelernt haben (er beginnt in der Kindheit, entwickelt sich anhand von Glaubenssätzen und ist unbewusst) können wir nun drei weitere hinzufügen: Das Skript wird in der Beziehung zu den Eltern und anderen wichtigen Personen gebildet; seine Grundlagen werden durch verbale und nonverbale Botschaften dieser Menschen übermittelt; das seelische Gebäude, das so entsteht, ist ein Projekt, das sich unbewusst über das ganze Leben erstreckt – eine Lebenskonstruktion.
Christoph: „Dann würde ich eines Tages vor Einsamkeit sterben.“
Christoph kommt auf dringenden Wunsch seiner Frau mit ihr zur Paartherapie. Er ist 38, die beiden sind seit zehn Jahren ein Paar und haben eine vierjährige Tochter. Er beginnt das Erstgespräch sichtlich verärgert.
Christoph: Also, viel Sinn sehe ich ja nicht mehr in unserer Beziehung. Es ist seit Jahren das immer gleiche Auf und Ab, besonders seit die Kleine da ist. Meine Frau zieht sich vor mir zurück, ich kriege einfach keine Nähe mehr. Sie ist nur mürrisch und abweisend. Ich bin ernsthaft am überlegen, ob ich mir eine andere suchen soll.
Anna (seine Frau): Ja, tu das nur. Dann habe ich wenigstens Ruhe vor dir, und Hanna auch.
Therapeut: Ruhe wovor?
Anna: Vor seinem ständigen Zorn und vor seinen ständigen Bedrängungen.
Christoph: Wie soll ich denn anders sein, wenn du mich ständig zurückweist? Keine Berührung, kein Kuss und schon gar kein Sex. Einfach keine Liebe. Sie entscheidet, was passiert und was nicht. Sie hat die Macht, da kann ich tun, was ich will. So will ich nicht weiterleben!
Therapeut: Denn wenn Sie so weiterleben müssten?
Christoph: Dann ... dann würde ich eines Tages vor Einsamkeit sterben!
Anna: Vielleicht fühle ich mich ja auch einsam.
Christoph: Du! Du brauchst doch sowieso niemanden, und mich schon gar nicht!
Therapeut: Eines Tages vor Einsamkeit sterben. Was fühlen Sie, wenn Sie diesen Satz sagen, Christoph?
Christoph: Da werde ich sowas von wütend. Wie kann man so mit einem Menschen umgehen?
Therapeut: Für mich hört sich der Satz traurig an. Sehr traurig. Vor Einsamkeit sterben.
Christoph: Ja. Vielleicht auch traurig.
Wir wollen uns in diesem Text hauptsächlich mit Christophs Seite, seinem Erleben und seiner Geschichte beschäftigen, weil er zu den vier Hauptpersonen des Buches gehört. Annas Anteil, ihre inneren Prozesse, der Roman ihres Lebens und vor allem die Verflechtung der beiden Lebenspläne in der Paardynamik würden den Rahmen dieses Buches sprengen. Auf diesen Aspekt bin ich (KS) in meinem Buch Trennung oder Neubeginn ausführlich eingegangen.
Die bisher beschriebenen Elemente des unbewussten Lebensplans zeigen sich in dieser ersten Begegnung mit Christoph nur andeutungsweise. Wir können vermuten, dass seine Einsamkeit in seiner Kindheit, in der Beziehung zu seinen Eltern oder anderen wichtigen Personen wurzelt – erzählt hat er es noch nicht. Doch es gibt andere Hinweise darauf. Einer liegt in der Bemerkung: „Sie entscheidet, was passiert und was nicht. Sie hat die Macht, da kann ich tun, was ich will.“ In ihr könnte sich eine Grundhaltung Christophs zu anderen Menschen widerspiegeln, die Gerdas vorher geschilderter Erfahrung ähnelt: Ich bin nicht wichtig – du bist wichtig. Oder auch: Ich bin so, wie ich bin, nicht in Ordnung, nicht okay – du bist es schon.
Einer der wichtigsten Grundpfeiler der Transaktionsanalyse sind die Grund- oder Lebenspositionen, die die Grundhaltung erfassen, die Menschen von sich und anderen in zwischenmenschlichen Beziehungen einnehmen. Sie werden in den beiden Dimensionen „O.K.-Sein“ und „Nicht-O.K.-Sein“ erfasst. Wir werden grundsätzlich mit der Haltung „Ich bin O.K. – du bist O.K.“ geboren. Kein kleiner Mensch käme von vornherein auf den Gedanken (oder besser auf das Empfinden), dass etwas mit ihm nicht in Ordnung sein könnte, er oder sie ist eben so, wie sie oder er ist. Erst einschränkende Umstände und dementsprechende Frustrationen bringen diese Balance ins Rutschen. Kinder erleben durch schmerzliche und oft für sie beschämende Erfahrungen, dass ihre Bedürfnisse nicht immer erfüllt werden können.
An dieser Stelle ist es wichtig zu erwähnen, dass es nicht darum geht, Eltern immer die „Schuld“ für alles zuzuschieben. Es gibt natürlich schlechte und grausame Mütter und Väter, aber die meisten versuchen, aus ihrer Sicht das Beste zu tun. Manchmal müssen sie die Freiheit des Kindes einschränken, indem sie Verbote aussprechen. Oft sind sie überfordert und überlastet, manchmal sind sie selbst mit schwierigen Lebenssituationen konfrontiert, und vor allem sind sie wie wir alle Menschen, die Fehler machen. Diese Relativierungen kann das Kind aber nicht begreifen. Es erlebt die Eltern als Menschen, die die unumschränkte Macht haben und diese bisweilen zu seinem Nachteil einsetzen. Wenn Gerda ihren geliebten Großvater nicht mehr besuchen darf, wenn Matthias’ Mutter einfach aus seinem Leben verschwindet, dann können sie nicht denken (und nicht sagen und fühlen): „Das hat mit mir nichts zu tun. Ich bin völlig in Ordnung, mit dem Vater ist etwas nicht in Ordnung, weil er mir den Großvater verbietet.“ „Mit dieser Welt ist etwas nicht in Ordnung, weil sie mir meine Mutter nimmt – aber ich bleibe trotzdem in Ordnung.“ Sie verstehen nicht, was da geschieht, und sie erklären es sich auf die für sie einzig mögliche Weise: Mit mir ist etwas nicht in Ordnung. Oder genauer gesagt: Ich bin nicht in Ordnung. Ich bin falsch. Das führt sie zu der inneren Grundhaltung „Ich bin nicht O.K. – du bist O.K.“. Sie wird zu einem weiteren charakteristischen Element des unbewussten Lebensplans.
Wieder kehren wir zu Harry Potter zurück. Bei der Familie Dursley, seinen einzigen Verwandten, muss er in einer Besenkammer wohnen, abgetragene und zu große Kleidung tragen, seine Geburtstage werden ignoriert. Er erlebt sich als zutiefst nicht in Ordnung, und so ergeht es ihm immer wieder auch auf der Zaubererschule, wenn er von anderen Kindern und einigen Lehrern angefeindet wird. So ähnlich muss es wohl für Gerda sein, als sie sich vom Großvater fernhalten muss, und ebenso für Matthias, als er seine Mutter verliert. Alle drei, Harry, Gerda und Matthias, sind machtlos, und sie alle verstehen nicht, warum. Christoph erlebt es ähnlich. Jemand anders (Anna) entscheidet seinem Erleben nach, was passiert. Er fühlt sich zur Einsamkeit verurteilt: „Da kann ich tun, was ich will!“
Es ist kein Wunder, dass sich kleine Kinder in derartigen Situationen des Drucks als in ihrem ganzen Wesen falsch, als nicht O.K. erleben. Und doch ist es kein Automatismus: Sie „entscheiden“ sich für diese Grundhaltung zu sich selbst, und auf der Basis dieser Grundhaltung erfolgen weitere Entscheidungen zur Lebensgestaltung im Muster des unbewussten Lebensplans. Bei Christoph wird eine besonders dramatische frühe Entscheidung hörbar: Er glaubt – nein, er ist überzeugt davon –, eines Tages, am Ende des Romans seines Lebens, vor Einsamkeit sterben zu müssen.
Natürlich erfolgt der kindliche Entscheidungsprozess nicht in dem Sinn, wie wir uns als Erwachsene beispielsweise für einen neuen Wohnort, Job oder Partner entscheiden, indem wir die Alternativen und das Für und Wider abwägen. Kinder tun das in einem emotionalen und unbewussten Prozess, weil es aus ihrer Sicht die für sie beste Möglichkeit ist, mit einer schwierigen Konstellation zurechtzukommen. Was sollten Matthias und Gerda auch anderes tun? Sich gegen den Tod der Mutter und die väterliche Willkür auflehnen und auf ihrem O.K.-Sein bestehen? Das wäre wohl nicht vorstellbar. Und dennoch ist diese Sichtweise von großer Bedeutung: Entscheidungen, die ich als Kind getroffen habe, kann ich als Erwachsener neu und anders treffen. Nehmen wir an, Christophs Frau Anna hätte wirklich die Gewalt über sein Leben, die er bei ihr sieht (was natürlich nur seine Sicht der Dinge ist, denn sie sieht es, wie das meistens bei Paaren in der Krise ist, genau umgekehrt) – dann könnte Christoph sich dennoch für eine Grundhaltung des „Ich bin O.K., auch wenn meine Bedürfnisse in dieser Beziehung zu kurz kommen“ entscheiden. Damit sind wir bei einem weiteren Grundaxiom des Skripts angelangt: Es beruht auf kindlichen Entscheidungen.
Die Belastungen, denen Kinder ausgesetzt sind, wenn sie ihr Skript entwickeln, lösen bei ihnen natürlich heftige Emotionen aus: Schmerz, Angst, Traurigkeit, Wut und besonders Scham. Harry wird immer wieder von Wogen heftigen Zorns über die Ungerechtigkeiten seiner kindlichen Welt überflutet, und dafür wird er noch mehr bestraft. Gerda erzählt an anderer Stelle: „Ich war so traurig, weil ich nicht mehr zum Opa gehen durfte. Wenn ich deswegen geheult habe, hat mein Vater mich angebrüllt: ‚Wenn du weiter heulst, fängst du eine, dann hast du wenigstens einen Grund dafür!‘ Ich habe mich so für meine Tränen geschämt.“ Doch sie findet eine kluge Lösung: Sie unterdrückt diese Gefühle und wird ein braves und freundliches Mädchen. Auch Matthias ist natürlich traurig über den Tod seiner Mutter, doch niemand in der Familie kann damit umgehen. Der Vater ist selbst in tiefer Trauer versunken und unansprechbar, die anderen Familienmitglieder versuchen, ihn abzulenken und aufzuheitern. Auch er unterdrückt seine Trauer und ersetzt sie durch Ängste: „Ich hatte jahrelang jede Nacht schlimme Alpträume, habe mich vor der Dunkelheit und vor Gespenstern und Einbrechern gefürchtet. Dann durfte ich beim Vater schlafen.“ Unmittelbare und echte Gefühle dienen eigentlich dazu, Probleme zu lösen: Ärger würde helfen, die eigenen Grenzen deutlich zu machen. Schmerz lässt die erlittene Verletzung deutlich und für den anderen verständlich werden, Traurigkeit erlaubt, etwas Unveränderbares zu akzeptieren. Scham sorgt dafür, dass wir ein Gewissen haben, das uns hilft, uns an soziale Regeln zu halten. Angst soll dabei unterstützen, mit einer ungewissen Zukunft umzugehen. Freude und Liebe schließlich zeigen uns, wo, wie und mit wem wir uns wohlfühlen können. Wenn diese berechtigten Gefühle unterdrückt werden müssen, wenn sie an falscher Stelle ausgelöst werden, dann bestätigt das die Grundhaltung: „Ich bin, so wie ich bin, mit meinen Gefühlen, nicht O.K. – ich bin durch und durch falsch.“ Das Kind lernt, sich dieser Gefühle zu schämen, und ersetzt sie durch andere, erwünschte Gefühle.
Auch bei Christoph können wir diesen Prozess erkennen: Er wird „so was von wütend“, obwohl er doch eigentlich tief innen sehr traurig über seine Einsamkeit ist, an der er fürchtet, sterben zu müssen. Auch Harrys Wut auf den boshaften Lehrer Snape führt zu immer neuen Beschämungen und Demütigungen. Er muss so tun, als würde er sich fügen, und seine Wut hinunterschlucken. Wir sehen hier einen weiteren Parameter, der den unbewussten Lebensplan bestimmt: Die echten, authentischen Gefühle über all das Frustrierende, das zu einer inneren Nicht-O.K.-Haltung führt, müssen abgewehrt und durch andere Gefühle ersetzt werden, die nicht dabei helfen, die Probleme konstruktiv zu lösen. Im Gegenteil, sie verschlimmern alles noch: Christophs wiederkehrender Zorn und seine Wut lassen ihn nur noch einsamer werden.
Schließlich zeigt uns Christophs Beispiel noch etwas über das Skript: Wie auch immer er gelernt hat, dass seine Bedürfnisse nicht wichtig sind, dass er ausgeliefert und abhängig ist und sein Leben lang allein bleiben wird (wir werden das später erfahren) – er konstruiert sein Leben unbewusst so, dass all das immer wieder bestätigt wird. Genauer gesagt: Er bestätigt es sich unbewusst immer wieder selbst. Wenn wir den Roman unseres Lebens schreiben, sehen wir uns selbst, andere Menschen und die Welt wie durch eine verzerrende Brille, durch die letztlich alles so erscheint, wie es immer gewesen ist. Gerda erlebt immer wieder Trennungen von geliebten Männern, Matthias scheint immer wieder „alles“ zu verlieren, und beide finden sie sich jedes Mal in ihrer Grundhaltung, ihren Glaubenssätzen, den alten Beziehungsbotschaften, den alten Ersatzgefühlen bestätigt. Auch Harry Potter geht es nicht anders. So, wie er seine Eltern verloren hat, verliert er auch seinen geliebten Paten Sirius Black und seinen verehrten Mentor, den Schulleiter Albus Dumbledore. Im siebten Band scheint sogar seine tiefe Freundschaft mit Ron Weasley ihr Ende zu finden. Wieder und wieder findet er sich einsam und unverstanden und muss (scheinbar) alleine seine Mission fortführen. Sein Lebensplan scheint durch die Ereignisse gerechtfertigt.
Die bisherigen sechs Bauelemente des Lebensplans, die wir bereits kennengelernt haben (er beginnt in der Kindheit, entwickelt sich anhand von Glaubenssätzen, ist unbewusst, wird in der Beziehung zu den Eltern und anderen wichtigen Personen und deren Botschaften gebildet und ist eine Lebenskonstruktion) können wir jetzt durch weitere vier ergänzen: Er wird durch kindliche Entscheidungen erschaffen, deren wichtigste die destruktive Grundhaltung „Ich bin nicht O.K. – du bist O.K.“ ist. Echte Gefühle, die bei der Lösung schwieriger Situationen helfen könnten, müssen unterdrückt und gegen Ersatzgefühle ausgetauscht werden. Und schließlich wird dieser Plan dadurch aufrechterhalten und fortgeführt, dass er unbewusst das ganze Leben hindurch in all seinen Bestandteilen bestätigt und gerechtfertigt wird.
Eine letzte Begegnung fehlt uns noch – und zwar die mit der 23-jährigen Barbara, bei der wir die letzten zwei Elemente kennenlernen werden, die für das Schreiben des Lebensromans essenziell sind.
Barbara: „Ich kann das meiner Mama nicht antun.“
Barbara studiert Psychologie und leidet seit mehr als zwei Jahren an immer größerer Prüfungsangst. Sie sucht Hilfe bei der Studentenberatung.
Barbara: Es ist wie verhext. Ich lerne und lerne, vor einer Prüfung oft die ganze Nacht hindurch. Aber wenn ich dann vor der Klausur sitze, ist alles weg. Ich traue mich mittlerweile schon gar nicht mehr hin. Genauer gesagt, ich gehe zur Uni, aber ich gehe nicht hinein. Ich drehe um und gehe wieder nach Hause. Meine Angst wird immer größer.
Berater: Hatten Sie diese Angst schon früher, in der Schulzeit?
Barbara: Nein, gar nicht. Ich war auf dem Gymnasium meist Klassenbeste, da war alles ganz leicht. Und auf der Uni ging es anfangs so weiter, aber allmählich wurden meine Leistungen schlechter und schlechter, so ab dem vierten, fünften Semester. Und seither trete ich auf der Stelle.
Berater: Was ist denn Ihre größte Angst, was die Prüfungen betrifft?
Barbara: Dass ich versage. Dass ich durchfalle.
Berater: Und was wäre daran das Schlimme?
Barbara: Schlimm? Es wäre eine Katastrophe.
Berater: Was wäre die Katastrophe daran?
Barbara: Mein kleiner Bruder ist schon so schlecht in der Schule. Ich kann das meiner Mama nicht antun, dass ich auch noch versage.
Berater: Was würde Ihr „Versagen“, wie Sie es nennen, für Ihre Mutter bedeuten?
Barbara: Sie braucht mich doch. Ich war immer das Einzige in ihrem Leben, das ihr keine Sorgen gemacht hat.
Berater: Ihrer Mutter würde es also Sorgen machen, wenn sie „versagen“.
Barbara: Sorgen? Es würde sie umbringen!
Berater: Umbringen? Sie würde daran sterben?
Barbara: Na ja, nicht körperlich. Aber ihre Welt würde einstürzen.
Berater: Die Welt ihrer Mutter gründet sich also darauf, dass Sie erfolgreich sind?
Barbara: Na ja, sicher. Das hat sie immer gesagt.
Berater: Was hat sie gesagt?
Barbara: Du bist mein einziges Glück, das ich auf dieser Welt habe. Du darfst mich nie enttäuschen. Du darfst nie von mir weggehen. Und das werde ich auch nie tun, auch nicht wegen meines kleinen Bruders.
Berater: Sie wollen auf ein eigenes Leben verzichten?
Barbara: Das ist mein Leben, für meine Mutter da zu sein. Wenn es wieder ganz schwierig mit ihrem Mann ist, wenn er sie wieder betrügt, dann bin ich diejenige, der sie ihren Kummer erzählen kann. Darum war es für mich auch ganz klar, dass ich Psychologie studiere. Wenn ich überhaupt etwas kann, dann ist das, Menschen zu helfen.
Berater: Und genau damit scheinen Sie jetzt am Ende Ihres Lateins angelangt zu sein.
Barbara (beginnt zu weinen): Was soll ich denn tun?
Überdeutlich sehen wir bereits in den ersten zehn Minuten die Grundelemente von Barbaras unbewusstem Lebensplan, die Bestandteile ihres Romans. Mindestens vier Glaubenssätze, für die sie sich entschieden zu haben scheint, können wir hören: „Ich werde versagen“, „Meine Mutter braucht mich“, „Es ist mein Leben, für meine Mutter da zu sein“, „Das Einzige, was ich kann, ist Menschen zu helfen.“ In ihnen spiegelt sich ihre Lebensgrundhaltung: Ich bin nicht O.K., wie ich bin – O.K. ist meine Mutter mit ihren Bedürfnissen. Auch die elterliche (mütterliche) Botschaft erzählt sie: „Du darfst mich nie enttäuschen. Du darfst nie von mir weggehen.“ Sie darf also nicht wichtig sein und sie soll nicht erwachsen werden und ein eigenes Leben führen.
Wie geht es Ihnen, wenn Sie das lesen (und es ist wohlgemerkt Barbaras Sichtweise; wie wir die Mutter erleben würden, wissen wir nicht)? Werden Sie ärgerlich? Schütteln Sie den Kopf – wie kann eine Mutter so etwas sagen? Dann fühlen Sie vielleicht etwas, was Barbara nicht fühlen darf: ihren Ärger, sich so eingeschränkt und unter Druck gesetzt zu erleben. Den darf sie aber nicht spüren und ausdrücken, denn das würde diese in ihren Augen schwache und abhängige Frau noch mehr verletzen. Also sucht ihr Unbewusstes sich ein anderes Signal, um zu zeigen, wie sehr sie in der Klemme steckt: Die Angst wird zu ihrem Ersatzgefühl.
Das alles trägt zu einem wesentlichen weiteren Bestandteil des Skripts bei: Es verzerrt die Wahrnehmung der Realität. Wir haben bereits vorher von der Brille gesprochen, die wir aufhaben, wenn wir unserem unbewussten Lebensplan folgen, und die uns die Welt im Licht unserer Nicht-O.K.-Grundposition, unserer Glaubenssätze, unserer Ersatzgefühle sehen lässt. Nehmen wir wieder Harry Potter als Beispiel: Immer wieder führt uns die Autorin in die Irre, indem sie uns beinahe leidenschaftlich seine innere Position einnehmen lässt. Wir sind empört über die Ungerechtigkeiten, die ihm widerfahren, trauern mit ihm über seine Verlorenheit und Einsamkeit, ärgern uns über die Bösewichte. Dann wechselt Rowling die Position, und plötzlich werden auch die Beweggründe von Harrys tatsächlichen und vermeintlichen Widersachern verständlich. Sogar Snape, der unduldsame und von Harry gehasste Lehrer, stellt sich am Schluss als „einer der tapfersten und selbstlosesten Männer“ dar, die Harry je kennengelernt hat. Sein Skript verstellt ihm immer wieder den Blick auf andere Realitäten als seine eigene innere Welt.
Ähnlich geht es Barbara. Sie ist eben nicht wichtig und sie muss für ihre Mutter da sein, das beinhaltet ihr Lebensplan. So werden schlechte Prüfungsergebnisse als „Versagen“ definiert statt als das, was sie sind – eben schlechte Zensuren, nicht mehr und nicht weniger. In einem späteren Gespräch sagt sie: „Eigentlich ist das schon vorhersehbar, worauf mein Leben hinsteuert. Ob ich mein Studium abschließe oder nicht, ob ich heirate oder nicht, Kinder bekomme oder nicht, ich werde immer ein braves hilfsbereites Frauchen sein.“ Damit nimmt sie bereits vorweg, wie sie ihr späteres Leben durch die Skriptbrille wahrnehmen wird. Matthias sieht sein Leben als eine zyklische Abfolge von Gewinnen und Verlieren; dass er auch vieles erreicht und durchaus nicht alles verloren hat, scheint in seinem schiefen Blick auf die Realität nicht vorzukommen. Gerda fokussiert sich auf das Schwierige in ihren Beziehungen; dass wahrscheinlich auch Schönes dabei war, blendet sie aus. Christoph spricht von „ständigen Zurückweisungen“. Gibt es wirklich keinerlei Nähe in seiner Beziehung zu Anna, wenn er einige Sätze davor sagt: „Es ist seit Jahren ein Auf und Ab“ – also Tiefen, aber offensichtlich auch Höhen?
Damit kommen wir zum zwölften Merkmal des unbewussten Lebensplans: All diese Mechanismen, insbesondere die verzerrte Wahrnehmung, schränken die Selbstbestimmung, die Autonomie eines Menschen erheblich ein. „Autonomie“ ist ein zentraler Begriff im Menschenbild der Transaktionsanalyse und bedeutet, in vollem Umfang der Mensch zu sein, der ich bin und der ich sein kann. Sie wird durch drei Begriffe definiert: Bewusstheit, Spontaneität und Intimität. Bewusstheit bedeutet, sich seines Fühlens, Denkens und Handelns bewusst zu sein und andere Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit und Ähnlichkeit zu sich selbst wahrnehmen zu können. Spontaneität heißt, Wahlmöglichkeiten in Bezug darauf zu haben, wie Gefühle ausgedrückt und Handlungen gesetzt werden, und Intimität bedeutet, Nähe herzustellen, indem man sich verstehend in andere Menschen einfühlen kann. Alle diese drei Aspekte werden durch das Skript verengt, das in unserem Lebensroman ja bestimmte, gleichbleibende Muster im Denken und Handeln vorsieht.
Wenn Gerda der tiefen Überzeugung ist, sie werde letztlich doch alleine bleiben, erlebt sie ihre Beziehungen immer wieder unter dem Blickwinkel dieser Erwartung. Ihre Angst davor hindert sie daran, sich wirklich in ihren Partner einzufühlen („Manchmal kommt es mir schon so vor, als ob Männer alle gleich wären: Schwierigkeiten müssen entweder schnell gelöst werden, oder man wirft das Handtuch“). Da Matthias bei jedem seiner durchaus beachtlichen Erfolge im Leben von der Angst begleitet wird, er könne sie wieder verlieren, kann er sich nicht richtig darüber freuen. Das wiederum nimmt ihm die Umsicht, an der Bewahrung des Erreichten zu arbeiten. Barbara will gebraucht werden („Menschen helfen“ nennt sie das), ob das wirklich gewollt wird oder nicht. Dadurch ist ihr Fühlen vorwiegend auf andere ausgerichtet, nicht auf sich selbst. Christoph erlebt mittlerweile fast jede von Annas Handlungen als Zurückweisung, es genügt, dass sie beispielsweise liest, wenn er abends nach Hause kommt. Er nimmt sie nur noch in einem schmalen Segment ihrer Person wahr, und das reduziert wiederum sein Menschsein, weil er sich im Kontakt zu seiner Frau fast ausschließlich auf Selbstschutz, Angriff und Verteidigung konzentriert.
Alle vier sind sie in ihrem ganzen Menschsein, eben ihrer Autonomie, beschränkt und können sich nicht ausreichend flexibel auf ihre jeweilige Lebenssituation einstellen. Sie erleben ihr Leben als etwas, das von außen gesteuert zu sein scheint und auf das sie nur wenig Einfluss haben. Barbara nimmt ihre Zukunft vorweg und glaubt zu wissen, dass sie immer brav und hilfsbereit sein wird. Gerda – im letzten Abschnitt ihres Lebens stehend – sagt rückblickend: „Heute sieht es so aus, als ob mein ganzes Leben auf den Punkt angelegt gewesen wäre, an dem ich jetzt bin. Ich hätte es schon vor fünfzig Jahren besser wissen können, dass ich niemanden fürs ganze Leben finden werde.“ Christoph glaubt zu wissen, dass er einsam sterben wird. Matthias schließlich fragt sich: „Warum passiert mir das immer wieder? Ist das mein Schicksal?“ Und auch Harry Potter sieht immer deutlicher (oder glaubt es durch seine Skriptbrille zu sehen), dass sein Schicksal unausweichlich darin besteht, den Finsterling Voldemort zu töten oder selbst zu sterben. Er sieht keine anderen Optionen, und genau das bedeutet den Verlust von Autonomie.
Der Lebensplan – kurz und knapp
„Das Gewebe unsres Lebens besteht aus gemischtem Garn“, sagt William Shakespeare. Dieses Garn, aus dem wir den Roman unseres Lebens flechten, haben wir aufgeknüpft und seine Bestandteile in diesem Abschnitt über die ersten Begegnungen mit den vier Hauptpersonen unseres Buches analysiert.
• Der Lebensplan beginnt in der Kindheit.
• Er ist unbewusst und
• stellt eine Lebenskonstruktion dar, die
• in der Beziehung zu den Eltern und anderen wichtigen Personen
• und deren verbalen und nonverbalen Botschaften entwickelt wird.
• Er beruht auf Entscheidungen des Kindes,
• deren Basis die destruktive Grundhaltung „Ich bin nicht O.K. – du bist O.K.“ ist.
• Darauf aufbauend entstehen Glaubenssätze über sich selbst, über andere und über die Welt und das Leben.
• Dabei werden authentische Gefühle wie Angst, Traurigkeit, Ärger, Schmerz und Scham abgewehrt, an ihre Stelle treten Ersatzgefühle.
• Das Skript verzerrt die Wahrnehmung der Wirklichkeit,
• schränkt dadurch die persönliche Autonomie (Bewusstheit, Spontaneität, Intimität) ein und
• wird so das ganze Leben hindurch bestätigt und gerechtfertigt.
Ein gemischtes Garn, in der Tat. So kompakt resümiert wirkt es bedrückend und nur schwer auflösbar. Doch die Konzeption dieses Lebensplans geschieht ja nicht in destruktiver Absicht, ganz im Gegenteil. Sie stellt einen hoch kreativen und konstruktiven Akt des kleinen Kindes dar, um mit einer schwierigen Realität gut zurechtzukommen. Angesichts der eingeschränkten Weltsicht und der geringen Lebenserfahrung eines sehr kleinen Menschen ist das eine beeindruckende Leistung, die hoch funktional ist. Dass all das später dysfunktional werden wird – woher soll dieser kleine Junge, dieses kleine Mädchen das wissen? In diesem enormen Akt, die ersten Kapitel des Lebensromans zu schreiben, liegt das persönliche Potenzial, das dabei helfen wird, seinen Ausgang vom düsteren Ende zu einem offenen Ausblick auf das weitere Geschehen zu verändern.
Im Folgenden werden wir in insgesamt vier Abschnitten die Lebensgeschichten unserer vier Hauptpersonen zusammengefasst erzählen, so wie sie es uns in Coaching, Einzeltherapie, Paartherapie und Beratung mitgeteilt und mit unserer Hilfe erkundet haben. Natürlich ist das nicht in der chronologischen Ordnung geschehen, die Sie hier finden, sondern ganz unterschiedlich, wann es eben zur Arbeit mit ihnen passte. Ergänzt und illustriert werden die Lebensläufe durch Ausschnitte aus den Protokollen der Gespräche mit Gerda, Matthias, Christoph und Barbara. Die vier Lebensromane gliedern sich in folgende Kapitel:
• Kindheit und Jugend
• Junges Erwachsenenalter
• Die mittleren Jahre
• Die späten Jahre