40 "WIR SIND AUS SOLCHEM STOFF WIE TRÄUME SIND." TRÄUME, ALPTRÄUME UND DER UNBEWUSSTE LEBENSPLAN.

Hauptvortrag auf der Online-Schlaftagung des VPA

November 2021

In the middle of the night
I go walking in my sleep
From the mountains of faith
To the river so deep
I must be looking for something
Something sacred I lost
But the river is wide
And it's too hard to cross
Even though I know the river is wide
I walk down every evening and I stand on the shore
I try to cross to the opposite side
So I can finally find out what I've been looking for

In the middle of the night
I go walking in my sleep
Through the valley of fear
To a river so deep
I've been searching for something
Taken out of my soul
Something I'd never lose
Something somebody stole
Billy Joel, River of Dreams

Mitten in der finstern Nacht
Mach ich mich schlafend auf den Weg
Steig von den Bergen meiner Hoffnung
Hinunter in den tiefen Fluss
Ich muss dort was suchen
Etwas Heiliges, lange verloren
Aber der Fluss ist so breit
Ich kann und kann nicht hinüber
Und obwohl ich das weiß
Steh ich jede Nacht an den Ufern
Ich will auf die andre Seite des Wassers
Und endlich finden, was ich so lange schon such

Mitten in der finstern Nacht
Mach ich mich schlafend auf den Weg
Durch die Schluchten der Angst
Hin zum tiefen schwarzen Fluss
So lange suche ich schon
Was aus meiner Seele gerissen
Was ich niemals verlieren wollt
Was jemand mir stahl.

An den Beginn dieses Vortrags habe ich zwei ganz unterschiedliche Poeten gestellt, die beide das Mysterium unserer Träume als Botschaften unseres Unbewussten beschreiben. William Shakespeare, einer der feinsinnigsten Erkunder der Abgründe der menschlichen Seele, erfasst in einem Satz die umfassende und lebensbestimmende Dimension unseres Unbewussten: Wir, als die Menschen, die wir sind, wir sind zur Gänze „aus solchem Stoff wie Träume sind.“ Billy Joel, der amerikanische Singer-Songwriter, stürzt sich in seinem Lied kopfüber in den „River of Dreams“: er sucht und sucht etwas, das er verloren hat, mehr noch, das ihm gestohlen wurde und ihm zu seiner Ganzheit, zu seiner Autonomie fehlt. Er kann es nicht benennen, alles was seine Träume ihm zeigen, sind Bilder, Metaphern, Verschlüsselungen, Bedrohliches, Angstmachendes.

Was geschieht da in uns und unserem Seelenleben, wenn wir träumen? „Ein komischer Traum,“ sagen Menschen oft, wenn sie erzählen wollen, was sie da nächtens erlebt haben – und meinen damit, dass sie ihre Trauminhalte nicht zuordnen, nicht deuten können. Seit Menschen ihre Geschichten aufgezeichnet haben, spielen Träume und ihre Bedeutung in Mythen, Sagen, Legenden, religiösen Schriften eine wichtige Rolle. Es gibt Theorien von den Neurowissenschaften bis zur Psychoanalyse, die das Mysterium „Traum“ erklären wollen. Sie alle beruhen letztlich auf Spekulationen, die tatsächliche „Wahrheit“ über das, was unser Gehirn da tut, kennen wir nicht. Kein Scan kann abbilden, was tatsächlich neuronal in unseren Köpfen geschieht, und die Erinnerungen der Träumerin und des Träumers verändern sich mit jedem Mal, in dem er oder sie an den Traum denkt und erst recht mit dem Erzählen. In den Jahren meiner eigenen Psychoanalyse wachte ich immer wieder aus Träumen auf, in denen mein Analytiker vorgekommen war – und mein erster Gedanke war: Das ist peinlich, das erzähle ich ihm nicht! Natürlich tat ich es doch, aber bereits diese Impulse hatte meine Erzählung verändert.

In den Jahrzehnten meiner psychotherapeutischen Tätigkeit habe ich vier Hypothesen über Träume, ihre Bedeutung und die therapeutische Arbeit mit ihnen entwickelt. Diese Annahmen beruhen auf meinem tiefenpsychologischen und transaktionsanalytischen Denken über den Einfluss unseres Unbewussten auf die Beziehungen, die wir eingehen und in denen wir leben.

1. Träume sind Versuche des Unbewussten, innere Konflikte zu lösen. Diese Konflikte sind früher in unserem Leben entstanden, oft auch sehr früh. Durch das, was wir aktuell erleben, das Tagesgeschehen werden diese Konflikte aktualisiert und wieder erlebt. Eine besondere Rolle spielt dabei das, was Menschen in der Psychotherapie erleben.

Ein persönliches Beispiel: ich träumte immer wieder, dass ich (in meinem jeweils aktuellen Alter) noch einmal zur mündlichen Reifeprüfung antreten müsse. Besonders intensiv war dieser Traum mit Mitte Dreißig in der Nacht vor meiner Abschlussprüfung zum Transaktionsanalytiker. Alle meine Beteuerung, ich sei promovierter Psychologe und führe eine psychotherapeutische Praxis, führten nur zu Kopfschütteln anonymer grauer Autoritätspersonen: nützt alles nichts, das alles ist suspendiert, die Matura ist ungültig. Fast zehn Jahre später, in der Nacht vor meiner Prüfung zum lehrenden Transaktionsanalytiker, kam der Traum wieder. Unnötig zu erzählen, dass mein Erfolg bei der Matura seinerzeit an einem seidenen Faden hing. Und dass das nicht das erste Mal war, dass ich diesen heftigen inneren und äußeren Konflikt zwischen Erfolg und Misserfolg erlebte, können Sie sich denken. „Mit dem Schild oder auf dem Schild?“ war eine gängige Frage in meiner Familie – ein archaisches Bild: der siegreiche Krieger trägt seinen Schild beim Heimkommen auf dem Rücken, der Gefallene wird auf dem Schild nach Hause getragen.

2. Die innere Logik von Träumen entspricht der altersgemäßen Logik des träumenden Menschen von damals, zum Zeitpunkt des Konfliktes, den der Traum zu lösen versucht. Im Fall meines Beispiels heißt diese Logik: Sieg oder Niederlage, Leben oder Tod, da gibt es nichts dazwischen. Kein Erfolg ist bleibend, die Niederlage kann einen immer wieder einholen.

3. Der ungelöste alte Konflikt wird im Traum (verschlüsselt und symbolisch) aktualisiert und damit aus dem Unbewussten gewissermaßen in den Eingangsbereich des Bewusstseins gespült. Der Grund dafür ist eine sehnsüchtige Hoffnung, der Wunsch, dass in der Wiederholung „alles gut“, endgültig gelöst werden soll. Wenn ich 20, 30 Jahre später die Matura doch noch endlich nachhole, wird dieses wiederkehrende Thema von Sieg und Niederlage hoffentlich endlich gefrühstückt sein.

4. Im psychotherapeutischen Kontext, im Kontext der Übertragungs- und Gegenübertragungsbeziehung, hat dieser Hoffnungs - oder Heilungs - Aspekt besondere Bedeutung.

Unser ganzes Leben lang machen wir Erfahrungen in und mit Beziehungen zu anderen Menschen. Je jünger wir sind, umso nachhaltiger ist das, was wir dort erleben, sind die Schlussfolgerungen, die wir daraus ziehen und die Entscheidungen, die wir über uns und unsere Gefühle, über andere Menschen und über die Welt treffen. Wir übertragen diese Beziehungserfahrungen, gute, aber vor allem schlechte, aus früheren Lebensabschnitten unbewusst auf andere Menschen, mit denen wir in der Gegenwart in Beziehung treten oder treten wollen. Je schwieriger und manchmal auch traumatisch diese Erfahrungen waren, umso intensiver ist die Übertragung. Der ursprüngliche Konflikt konnte nie konstruktiv gelöst werden, daher wiederholen wir ihn wieder und wieder in der Hoffnung, alles möge „gut“ und unsere lebenslang unerfüllten Sehnsüchte endlich erfüllt werden. Natürlich geschieht das auch in der Psychotherapie: KlientInnen übertragen ihre früheren Beziehungserfahrungen auf die Beziehung zum Therapeuten, zur Therapeutin. Das geschieht außerhalb des Bewusstseins, aber es geschieht machtvoll und unwiderstehlich. Und es hilft, ursprüngliche Traumatisierungen zu erkennen, bewusst zu machen und zu lösen.

Dieser Vorgang findet sich nicht nur im wachen Zustand der Therapiesitzung wieder, er bildet auch einen wesentlichen Bestandteil der Träume des/der PatientIn. Ebenso ist die Art und Weise, wie er/sie die Träume erzählt, Bestandteil der Übertragungsbeziehung.

Die Träume, die ein Mensch erzählt, sind ja bereits vorsortiert - er/sie erinnert nicht alle Träume, sondern nur solche, die ihm/ihr - zumindest unbewusst - bedeutungsvoll für mich als Therapeuten vorkommen. Und auch die bewusste, halbbewusste und unbewusste Zensur beim Erzählen der Träume hat mit Übertragung zu tun. Sie erinnern sich an meinen spontanen ersten Gedanken: „Den Traum erzähle ich ihm sicher nicht!“

In dem Fallbeispiel, das ich Ihnen später vorstellen werde, werde ich auf diesen Gesichtspunkt der Übertragung und der zugehörigen Gegenübertragung noch zu sprechen kommen.

Damit scheint die Sache zumindest theoretisch relativ klar zu sein: wir berücksichtigen den Kontext der therapeutischen Beziehung, innerhalb derer der Traum erzählt wird und lassen die erzählten Inhalte des Traums und ihren Zusammenhang mit der Übertragung auf uns wirken. Damit ertasten wir erste Spuren dessen, was die Person an belastender Lebenserfahrung wiederholt. Wir beginnen zu erspüren, was für Bedürfnisse er oder sie idealisierend von uns erfüllt bekommen möchte.

Nun, das ist die Theorie. Wie aber kann die Traumanalyse in der Praxis aussehen? Wie kann man mit diesem komplexen, verdichteten, verschobenen, kompliziert verschlüsselten Material, mit diesem rätselhaft verwobenen Teppich aus frühen Geschichten, Tagesresten, Liebes- und Hasserklärungen an den/die TherapeutIn, aus Hilferuf, Trotz, Ironie, Erotik, Todesangst, Hoffnung und Verzweiflung respektvoll und doch zielgerichtet umgehen?

Das Hilfsmittel dafür ist nicht primär die Kognition, der Verstand oder die Kenntnis angeblicher spezifischer Traumsymbole, sondern unsere Intuition - unsere Art, uns auf die Beziehung zum/r PatientIn einzulassen, unsere Gegenübertragung.

Wenn PatientInnen übertragen, dann tun sie das nicht nur so nebenbei und beiläufig, sondern entwickeln mit ihren Projektionen einen starken, ihnen nicht bewussten Sog, der bewirken soll, daß das Gegenüber sich ihren projizierten Wünschen anpassen soll. Die Impulse und Gefühle, die Assoziazitionen, die dann beim Therapeuten entstehen, nennt man Gegenübertragung.

Wenn uns also eine Person in der Therapie einen Traum erzählt, dann ist der erste Schritt der, sich auf die eigenen intuitiven Gefühle, Gedanken, Assoziationen und Impulse einzulassen.

Nehmen wir als Beispiel einen Traum, den Frau A. erzählt.

Frau A. ist auf einem riesigen Schiff, das die Grachten von Amsterdam befährt. Das Schiff ist viel größer als die Schiffe, die in Amsterdam wirklich fahren können. Es sind Tausende Leute da, auch ihre eigene Familie. Überall auf diesem Schiff sind große und kleine Wohnungen, die nummeriert sind, aber es ist ihr unmöglich, sich zu orientieren. Schließlich gelingt es ihr unter vielen Mühen doch, sich eine Wohnung einzurichten, aber sie ist sich überhaupt nicht sicher, ob ihr die überhaupt zusteht. Sie irrt weiter ratlos und rastlos umher. „Warum kommt denn keiner und hilft mir?“ sagt sie. Schließlich wacht sie verwirrt auf.

Wenn ich mir diesen Traum anhöre, entsteht in mir als erstes ein emotioneller Eindruck von Hilflosigkeit und Ratlosigkeit. „Vergebliche Liebesmühe“ assoziiere ich, Bilder von riesengroßen Türen mit rätselhaften Lettern in einer unbekannten Schrift tauchen auf. Einige Momente lang gibt es so etwas wie Hoffnung, aber dann ist es wieder das gleiche wie vorher. Da gibt es etwas, das viel zu groß ist, überhaupt alles ist sehr groß, auch die Menschen. „Wer bin ich?“, „Wo gehöre ich hin?“, „Was soll das alles?“ und „Warum hilft mir denn keiner, ich bin ja noch so klein!“ sind Sätze, die mir dazu einfallen.

Diese ersten intuitiven Impressionen bilden dann die Grundlage meiner Ideen zu Frau A.s Traum: dass es um ein kleines Mädchen gehen könnte, das sich in einer für sie viel zu großen und viel zu verwirrenden Welt verzweifelt zu orientieren versucht, sich dann irgendwie scheinbar zurechtfindet, aber die trotzdem keine wirkliche Zugehörigkeit zu sich und ihrem Leben finden kann.

Das ist der Aspekt der Wiederholung im Traum: der unverarbeitete und ungelöste kindliche Konflikt, keine wirkliche Identität und keine wirkliche Zugehörigkeit zu haben, überfordert zu sein, wird verschlüsselt und symbolhaft wiederholt.

Zugleich bietet mir die Tatsache, dass und wie Frau A. mir den Traum erzählt, auch einen Zugang zum Aspekt des Wunsches nach Heilung: Frau A. sucht jemanden, eine Elternfigur, die sie sozusagen an der Hand nimmt und ihr hilft, sich in dieser Welt zurechtzufinden: „Warum hilft mir denn keiner?“ heisst in dieser Situation natürlich „Bitte hilf mir, mich in dieser Welt und in mir selbst zurechtzufinden!“

Ich möchte Ihnen meinen psychotherapeutischen Zugang zu Träumen anhand der Fallgeschichte eines meiner Patienten erzählen; wir werden dabei sehen, wie über die Arbeit mit dem Unbewussten allmählich Wachstum in der Persönlichkeit und Veränderungen im Fühlen, Denken und Handeln möglich werden, die sich dann in veränderten Träumen wiederfinden.Um der leichteren Verständlichkeit willen stelle ich den Prozess an manchen Stellen verkürzt dar, lasse Elemente aus den Träumen aus, die sehr verschlüsselt und unzugänglich waren. Der Prozess war nicht immer so geradlinig, wie es vielleicht scheinen mag, sondern mit viel Vor und Zurück verbunden. Die Entwicklung meiner eigenen Gegenübertragungsimpulse, meiner Intuition, habe ich in dieser Schilderung oft weggelassen oder auf wenige Worte verkürzt. In Wirklichkeit waren meine Deutungen nicht so knapp und prägnant, wie das im Text scheinen könnte. Sie bestanden aus einem langen Prozess des Abwägens, Ausprobierens und des gemeinsamen Entwickelns.

Josef ist seit nicht ganz drei Jahren bei mir in Einzeltherapie. Er ist Anfang 30, lebt alleine und hatte noch nie eine längere Beziehung. Er kommt aus bäuerlichen Verhältnissen und ist in einer rigiden, lieblosen Welt aufgewachsen. Er übt einen kaufmännischen Beruf aus und kam zur Therapie, nachdem er ein Jahr vorher eine Stellung gekündigt hatte. Der Grund dafür waren quälende Versagensängste, die ihn bei seiner Arbeit so einschränkten, dass er keine Aufgabe mehr erfüllen konnte. Nun hat er nach einem Jahr der Arbeitslosigkeit wieder einen Job und große Angst, er könnte ihn wieder verlieren. Tatsächlich hat er sich nie etwas zu Schulden kommen lassen, aber er lähmt sich so sehr mit seinen Ängsten, dass er sich nur schwer auf die Arbeit konzentrieren kann und seine Aufgaben nur langsam bewältigen kann. Das verstärkt wiederum seine Angst.

Im ersten Jahr von Josefs Therapie ist gelingt es mir kaum, seine Versagensängste konstanter als für einige Minuten zum Thema zu machen, bevor er in Schweigen versinkt. Auch andere Probleme - seine Einsamkeit, seine Kontaktschwierigkeiten – kommen nur peripher vor. Sie erscheinen ihm im Vergleich zu seiner Angst in der Arbeit geringfügig. An seine Kindheit hat er wenig bis gar keine Erinnerungen, der Strenge seiner Eltern und den hohen Leistungsanforderungen, die sie gestellt haben, gibt er wenig Bedeutung („Das wird ja anderen auch nicht anders gehen“).

Immer wieder spricht von massiven Ängsten, andere Menschen, auch wildfremde, könnten merken, das etwas mit ihm „nicht stimmt“, sie könnten ihn beobachten, wenn er zur Therapiesitzung in meine Praxis kommt und ähnliches.

Der innere Konflikt wird bewusst

Nach etwas mehr als einem Jahr erzählt Josef eher beiläufig, dass er häufiger träume und fragt mich, ob er die Träume aufschreiben und mitbringen solle. Natürlich stimme ich zu, in der Hoffnung, eine Tür zu seinen Gefühlen, seinen Erinnerungen und zu seinem Unbewussten zu finden.

Ab da erzählt er fast in jeder Stunde mindestens einen Traum, wobei seine Haltung dazu anfangs eine passive ist: er erzählt, und ich soll ihm sagen, was der Traum bedeutet. Erst nach einiger Zeit fängt er an, eigene Ideen, Assoziationen und Deutungen dazu zu entwickeln.

Im allerersten Traum, den er berichtet, versucht ein Betrunkener, in Josefs Wohnung einzudringen.

Meine vorsichtige Vermutung, ob er vielleicht die Therapie so erlebe wie das Eindringen in seinen innersten Bereich, noch dazu von jemandem, der anscheinend nicht recht bei Sinnen ist, weist er entschieden zurück. Der nächste Traum aber weist in eine ganz ähnliche Richtung:

Josef steht auf einem hohen, steilen Dach. Er hat große Angst und das Empfinden: es geht nicht so schnell, ich kann das nicht.

Meine deutende Frage dazu: „Könnte dieser Traum ausdrücken, dass ich Sie wohin führe, wo es hoh und steil ist und Sie Angst haben, das Alles geht Ihnen zu schnell und Sie sind überfordert?“

Diesem Gedanken stimmt er vorsichtig zu, und auch meiner nächsten Frage: „Ist das nicht ein Thema, das in Ihrem Leben immer wieder auftaucht: Sie erleben sich überfordert?“

In den Wochen danach folgt eine Reihe von Träumen, in denen sich seine Überforderung abbildet. Immer wieder taucht in verschiedener Form seine Arbeit und die Unzufriedenheit seines Vorgesetzten mit ihm auf, und immer wieder wird die große Anstrengung deutlich, die er bewältigen muss.

Dazu drei Beispiele. Während ich sie Ihnen erzähle, lade ich Sie ein, Ihre eigene Intuition, ihre Gefühle und Ihre freien Assoziationen dazu auftauchen zu lassen, ohne sich kognitiv mit der anstrengenden Frage „Was könnte das bedeuten?“ zu beschäftigen.

Josef ist in einem Lokal und nimmt an einer Firmenfeier teil. Sein Chef kritisiert einen anderen Mitarbeiter. Dann wendet er sich Josef zu und sagt dann etwas zu ihm, das dieser nicht versteht. Daraufhin äußert der Chef: „Das geht nicht, dass Sie sich am Gespräch nicht beteiligen. Ihre Kündigung wird überlegt.“
Dann sitzt Josef allein am Tisch, die anderen sind zehn Meter entfernt. Der Chef gibt provokante Meldungen von sich. Josef wird eine Geldtasche zurückgegeben, die aber gar nicht die seine ist. Darin findet er kleine, dreckige Bälle mit Reißverschluß. Er läßt das Ganze unauffällig unter dem Tisch verschwinden.

Im Vordergrund steht natürlich das Angstthema (die Kündigung droht, die anderen distanzieren sich von ihm). Daneben aber taucht zum ersten Mal ein bedeutsames anderes Bild auf: Da gibt es etwas Dreckiges, das er verbergen muß, etwas, das ein Makel ist und das niemand sehen darf. Aber, und das ist besonders bemerkenswert: jemand anderer hat es ihm gegeben, es gehört gar nicht ihm. Zum ersten Mal trägt nicht er die „Schuld“ an diesem „Dreckigen“, so wie seine Eltern ihm das immer vorgeworfen haben und wie es sein Vorgesetzter immer noch tut.

Ähnlich auch die Themen des nächsten Traums:

Josef ist in seiner Arbeit und will zusammenräumen, um nach Hause zu gehen. Dabei entdeckt er Müll in einem durchsichtigen Müllsack. Beunruhigt stellt er fest, daß es schon 11 Uhr ist und er noch immer nicht damit fertig ist.

Wieder sehen wir die Angst vor dem Versagen (er wird nicht rechtzeitig fertig), und wieder taucht auch hier der „Müll“ auf, den er zusammenräumen muß: er muss sich mit dem Mist beschäftigen, den andere angerichtet haben (was für ein deutliches Bild für den psychotherapeutischen Prozeß). Und er hat Angst und schämt sich dafür, dass jeder diesen Müll, diesen Makel sehen könnte, denn dieser ist ja in einem durchsichtigen Sack.

Im dritten Traum kommt noch ein Element dazu, das in vielen späteren Träumen auftauchen wird: Bilder aus seiner ländlichen Heimat, in denen sein träumendes Unbewusstes mehr und mehr den Bezug zu seiner Herkunft abbildet. Der Zusammenhang seiner Probleme mit seiner Lebensgeschichte und seiner Kindheit auf dem Land wird sichtbar.

Vor einem Berg stehen ein Pferdewagen und ein weiterer Wagen, auf den Holz aufgeladen wird. Eine Frau spannt zwei Pferde an und führt sie zu dem anderen Wagen, um umzuladen. Der andere Wagen kommt nur mühsam ein Stück den Berg hinauf, nach dem Umladen kommen die Pferde fast nicht mehr vom Fleck.

Fallen Ihnen dazu intuitive Assoziationen ein? Eine Last wird aufgeladen, mehr noch, sie wird umgeladen. Eine Frau lädt um. Sind die Wägen Symbole für Personen? Der eine ist die Frau, der andere könnte Josef selbst sein. Er muss diese fremde Last einen Berg hinaufziehen und schafft es fast nicht mehr. Er soll eine fremde Last bewältigen – kein Wunder, dass er Angst hat zu versagen.

Die Träume lassen etwas an die Oberfläche des Bewusstseins steigen, das Josef vorher in der Therapie nicht zugänglich war: ihm wurde etwas Fremdes aufgeladen, das sein Leben schwer, mühsam und angstbeladen gemacht hat. Das hat mit seiner Herkunft, mit der Geschichte seiner Kindheit zu tun, und er schämt sich dafür, sodass er es vor anderen Menschen verbergen muss.

Josef erscheinen die Deutungen seiner Träume sinnvoll. Gleichzeitig deuten sie auf seine frühen unbewussten Entscheidungen hin, all diesen „Müll“ geheim zu halten. Das zeigt sich in seinen nächsten Träumen:

Er sitzt nach einem Gasthausbesuch im Auto, nur mit der Unterwäsche bekleidet, fährt rückwärts in einen Gastgarten und kann nicht mehr bremsen.

Was fällt Ihnen zu dieser ausgeprägten Symbolik ein? Da ist Josef, beschämend bis auf die Wäsche ausgezogen - und dann muss er rückwärts fahren, in die Vergangenheit, in die Kindheit, und kann nicht mehr bremsen.

Kurz darauf erzählt er den folgenden Traum:

Josef fährt mit dem Bus zur Arbeit, kommt aber nicht dorthin, sondern zur Endstation an einem Berg und muss zu Fuß weitergehen. Er kommt zu einer Baustelle, aus der er nicht mehr herausfindet, weil der Ausgang verstellt ist. Ein Arbeiter hilft ihm hinaus und will dafür Geld. Josef sagt, er sei nicht bereit, 120,- Euro zu zahlen und gibt ihm schließlich gar nichts.

120 Euro sind mein aktueller Stundensatz. Josef will zur Arbeit, in sein normales Leben, ganz gewöhnlich mit dem Bus. Stattdessen gelangt er an die Endstation, und dort wird es steil und verwirrend. Der Ausgang ist verstellt, nur der Arbeiter (der natürlich für mich, seinen Therapeuten, steht) kann ihm hinaushelfen, aber er will viel Geld dafür. Da spielt Josef nicht mehr mit und setzt einen Akt der Autonomie: das zahle ich nicht!

Fassen wir diesen ersten Traum-Therapie-Abschnitt zusammen:

Josefs frühe Beziehungskonflikte werden in seinen Träumen sichtbar: er wurde überfordert und in seiner Selbstentwicklung eingeschränkt. Etwas Fremdes, nicht zu seinem Ich Gehörendes wurde ihm aufgeladen. Angst, Aussichtslosigkeit und Depression begleiten ihn sein ganzes Leben lang und finden sich in seinen Träumen wieder. Der Konflikt taucht an verschiedenen Elementen auf: zuerst ist da eine anonyme Macht, die ihn auf das steile Dach gezwungen hat, dann sein Chef, die Frau mit dem Pferdewagen und schließlich der Arbeiter an der Baustelle.

Ich habe eingangs davon gesprochen, dass es in Träumen um Wiederholung des alten Konflikts und um die Hoffnung auf Heilung geht. Was also braucht Josef in der Übertragung, mehr unbewusst als bewusst, von mir? Was möchte er von mir haben?

Immer wieder bittet er mich über seine Träume, ihn nicht zu überfordern, ihm Zeit zu geben, ihn nicht „ohne Bremsen“ auf seine Reise in die Vergangenheit zu schicken. Und immer wieder wird der Wunsch nach höchster Vertraulichkeit, nach höchster Diskretion bemerkbar: niemand anderer soll die schmutzigen Dinge sehen, mit denen er sich befassen muss.

Wir können vermuten und in der Gegenübertragung spüren, dass hier der Wunsch nach einem gewährenden, erklärenden und vor allem ihn nicht beschämenden Vater sichtbar wird, der keine Leistung von ihm verlangt. So baue ich in dieser Phase die Beziehung mit und zu ihm und seinen Träumen auf: ich formuliere meine Deutungen vorsichtig, lasse ihm viel Platz und Zeit, diese nachzuvollziehen, sie zu ergänzen oder ihnen zu widersprechen. Ich verstehe seine Belastung, seine Angst und vor allem seine Furcht vor dem Entdeckt- und Beschämtwerden. Auf dem Boden des allmählich wachsenden Vertrauens kann das Unbewusste mehr und mehr von dem schamhaft Verborgenen freigeben. Sie haben es gemerkt: die Träume, die ich geschildert habe, sind deutlicher und konkreter geworden.

In diesem Schutz der therapeutischen Beziehung entwickeln sich die „traumhaften“ Prozesse mit steigender Intensität.

Die Gefühle werden zum Thema

Josef verbringt alleine einen Schiurlaub und erlebt seine Einsamkeit und seine Kontaktschwierigkeiten schmerzlicher denn je. Nach seiner Rückkehr erzählt er drei Träume:

Im ersten erzählt er einem Bekannten, dass er sich für die Tätigkeit des Roten Kreuzes interessiere. Daraufhin teilt ihn dieser, ohne Josef zu fragen, sofort für Wochenend- und Nachtdienste ein.
Im zweiten Traum ist er in einer Disco, in der er sich langweilt. Beim Hinausgehen stellt sich heraus, daß der Eintritt übermäßig hoch ist, worauf er sich entschließt, zu bleiben, wenn er schon zahlen muß.
Im dritten Traum schließlich sitzen vier Männer mit Koffern in der Stube in seinem Elternhaus, die sehr freundlich sind und sich als Versicherungsvertreter ausgeben. Er hat jedoch den deutlichen Verdacht, es könnten Diebe oder Trickbetrüger sein.

Es würde sich lohnen, die diffizile Symbolik dieser Träume ausführlich zu entschlüsseln - zum Beispiel, was Rotes Kreuz, Disco und Versicherungsvertreter bedeuten könnten, was es heißt, daß diese vier Männer in seinem Elternhaus sitzen oder dass er für Langeweile bezahlen muss. Um den roten Faden nicht aus den Augen zu verlieren, will ich hier auf einen Punkt fokussieren: in allen drei Träumen wird Josefs Gutgläubigkeit ausgenützt. Ich erzähle ihm meine erste assoziative Vermutung dazu. Die Träume könnten eine Rechtfertigung für seine Einsamkeit im Urlaub sein: wozu mit Menschen Kontakt aufnehmen, wenn sie einen doch nur betrügen? Dieser Idee stimmt Josef zu, denn diese Rechtfertigung denkt er im Grunde auch im wachen Bewusstsein.

Wir beschäftigen uns noch in zwei weiteren Therapiesitzungen mit diesen Träumen, in denen ich Josef zum Nachdenken über zwei Punkte einlade:
- Wie könnte der Glaubenssatz „Menschen nützen mich aus und betrügen mich“ und die Schlussfolgerung daraus „Deswegen gehe ich ihnen aus dem Weg“ mit seiner Lebensgeschichte, seiner Kindheit, seinen Eltern zu tun haben haben?
- Könnte es statt Resignation und Rückzug auch andere, vor allem emotionale Reaktionen auf das Ausgenützt- und Betrogenwerden geben?

Prompt folgen die Antworten in den nächsten Träumen.

In Josefs Heimatort findet ein großes Fest statt. Er steht in der Gegend herum und redet mit zwei Leuten. Dabei lehnt er sich an ein Geländer und klemmt einer Frau den Finger ein. Dann wechselt die Szene in seine jetzige Wohnung in der Stadt, wo alles sehr schmutzig ist und Essensreste am Boden liegen. Josef denkt: „Das wird viel Arbeit, da fange ich heute nicht mehr damit an.“

Ein faszinierender Traum: wir können Reaktionen auf beide Impulse finden, die ich erwähnt habe. Wir finden uns mit ihm in seinem Heimatort als Symbol für seine Kindheit und den Ursprung seiner inneren Konflikte. Eine scheinbar unbekannte Frau erscheint auf der Bildfläche, und er setzt einen scheinbar unabsichtlichen und zufälligen Akt der Aggression gegen sie. Mehr gestattet ihm sein Unbewusstes noch nicht: „Das wird viel Arbeit, da fange ich heute nicht mehr damit an.“ Das Bild von Schmutz und Müll, den er wegräumen muß, kehrt wieder. Der Anfang dafür ist in seinem Heimatort, da, wo er aufgewachsen ist, aber lösen muss er die Konflikte da, wo er jetzt lebt, nämlich in seiner Gegenwart.

Im nächsten Traum ist Josef wieder daheim in seinem Elternhaus. Er sieht durchs Fenster, dass ein Krieg ausgebrochen ist. Panzer walzen alles nieder und rollen aufs Haus zu. Josef empfindet unbändige Wut auf die Politiker, die ihr Versprechen gebrochen haben.

Jetzt werden seine Themen schon sehr greifbar: in seinem Elternhaus herrscht Krieg, und schuld sind „die Politiker“ - eine nur wenig verschlüsselte Metapher für Elternfiguren, für seine Eltern, die ihr Versprechen gebrochen haben. Sie haben die Verpflichtung nicht wahrgenommen, die wir als Eltern mit der Geburt eines Kindes eingehen: für ein liebevolles Aufwachsen dieses kleinen Menschen zu sorgen.

Wie schnell hat sich das Bild gewandelt: von passiver und angstbesetzter Resignation als Reaktion auf ein anonymes Betrogenwerden hin zu aktivem Zorn („unbändige Wut“ nennt es Josef) auf Eltern, die einen Krieg vom Zaun gebrochen und ihn zum Opfer gemacht haben.

Seinen nächsten Traum deutet Josef bereits selbst:

Er arbeitet für einen Mafiaboss und muss einen Safe mit Geheimdokumenten öffnen. Im Saferaum sitzt bereits ein Rechtsanwalt, der den Safe schon aufgebrochen hat. Josef ist wütend und sagt: „Sie haben mich in Gefahr gebracht!“ Der Rechtsanwalt erwidert: „Den hätten wir sowieso geknackt!“

Josefs Deutung ist, dass die Mafia - mordende, betrügende, menschenverachtende Gangster - seine Eltern sind. Damit nimmt er zum ersten Mal aktiv gegen sie und die destruktive Beziehung, die sie ihm aufgewzungen haben, Stellung.

Da sind die Eltern, die Mafia, da sind Josef und der Safe, doch da gibt es ja noch eine Figur in dem Traum: den Rechtsanwalt. Er tritt in Konkurrenz mit der Mafia und kommt ihr zuvor. Josef ist wütend, die Geheimdokumente, seine Geheimnisse sind geknackt, der „Müll“ früherer Träume ist offenbar geworden. Der Rechtsanwalt – der wohl ich bin – sagt einen bezeichnenden Satz: „Wir hätten den Safe sowieso geknackt.“ Aber noch möchte Josef den „Müll“ rechtzeitig vor mir in Sicherheit bringen und so seine Eltern schützen, wohl, um sie weiter lieben zu können. Ich behalte diese Deutung für mich, nehme diesen Traum aber als einen Hinweis, vorsichtig und behutsam vorzugehen. 

Wieder hat Josef mir über die in mir ausgelösten Impulse der Gegenübertragung deutlich gemacht: Ich brauche einen Vater, der mich vor Gefahr schützt, keinen, der mich überfordert!

Ist Veränderung überhaupt möglich?

Kurz danach wechselt Josef – genauer gesagt sein Unbewusstes – zu einem neuen Themenbereich. Jetzt, wo ihm der Faden zu seiner Kindheit bewusst und damit die Quellen seines unbewussten Lebensplans deutlich geworden sind, wo deutlicher und deutlicher sichtbar wird, dass es Möglichkeiten zu persönlichem Wachstum gibt, jetzt begegnet Josef in seinen Träumen dem Wunsch nach wirklicher Veränderung, aber auch seiner Angst davor.

Josef hat eine Wohnung am Land, eine Art notdürftig hergerichteten Schuppen. Ihm fällt ein, dass er mit der Mieterin wegen einer Verlängerung seines Vertrages reden muss, denn ein Mann und eine Frau haben ihr Kommen angekündigt, um das Haus zu besichtigen. Sein Vertrag würde ja auslaufen.
Die Frau dieses Paares meint, das Haus sei gar nicht so schlimm, wie sie geglaubt habe. Da entdeckt Josef, dass in dem Haus außer seiner noch eine weitere Wohnung ist, eine ganz neue „Super-Wohnung.“ Dort findet er ein riesengroßes Zimmer mit alten Schränken und Betten. Das Haus steht auf schwierigem Gelände, deswegen musste man mit Fertigteilen bauen. Auf einmal kommt alles ins Rutschen, er kann sich gerade noch festhalten.

Josef wohnt also in einem „alten Schuppen“, der „notdürftig hergerichtet“ ist’. Es fällt nicht schwer, in diesem Bild eine Metapher für sein Leben zu sehen, in dem er sich nach überholten inneren Richtlinien bewegt und das er für sich nur notdürftig arrangiert hat. Sein „Mietvertrag“ läuft aus. Das deutet darauf hin, dass die Zeit, in der er sein Leben als eine Art Provisorium in Einsamkeit gestaltet hat, zu Ende geht. Das beunruhigt ihn – soll er seinen „Mietvertrag“ nicht doch verlängern? Voller Überraschung entdeckt er, dass in dieser „Wohnung“, in diesem Leben, doch einiges drin zu stecken scheint. Allerdings ist die neue „Super-Wohnung“ mit altem Gerümpel vollgestopft und steht auf unsicherem Boden. Alles kommt ins Rutschen. In diesem Traum sehen wir deutlich sein Dilemma zwischen der Sehnsucht nach Veränderung und der Angst davor. Sein altes Leben ist zwar unbequem, aber immerhin doch auf eine bestimmte Art sicher. Er lebt in dem, was ich gerne die „unkomfortable Komfortzone“ nenne.

Ganz ähnlich, aber mit verstärkter Deutlichkeit ist der nächste Traum:

Josef hat eine Wohnung am Stadtrand mit wunderbarer Aussicht, aber alles ist aus Holz, sogar die offene Feuerstelle und der Kamin, und Josef hat Angst vor einem Feuer. Er entdeckt, dass im Erdgeschoß eine Reihe von Pensionisten wohnt. In der Nähe ist eine Sportanlage, und Josef denkt: „Für die Alten wäre doch ein Schwimmbad gescheiter.“
Dann bemerkt er, dass es einen Anbau aus rohen unverptzten Ziegeln gibt. Er überlegt, ob er diesen mieten und seine Sachen im alten Zimmer lassen soll, hat aber Bedenken, ob er sich die große Wohnung überhaupt leisten kann.
Ein Installateur überprüft die neue Wohnung auf Widerstände bei den elektrischen Leitungen und auf ein Loch in der Wasserleitung, das dieser aber nicht finden kann.

Wieder sehen wir die Elemente des vorigen Traums: eine alte, diesmal sogar gefährliche Wohnung, in der man eigentlich nur das ereignislose Leben eines Greises führen kann, der nicht einmal Sport betreiben kann (Sport ist für Josef sehr wichtig), sondern nur mehr beschaulich vor sich hin schwimmen. Als Kontrast dazu eine neue, schöne und große Wohnung, noch roh, aber Josef ist sich nicht sicher, ob er sich das leisten kann. Das neue Leben wird schon im Rohzustand sichtbar - aber er traut sich noch nicht recht.

Die Stelle mit dem Installateur amüsiert Josef selbst, der den psychologischen Begriff „Widerstand“ mittlerweile gut kennt. Seine eigenen Überlegungen dazu sind, dass dieser Installateur wohl ich sein muss, der sich mit seinen Widerständen auseinandersetzt.

Hier merken wir wieder seinen Beziehungswunsch an mich: ich soll mich mit seinen Widerständen, seinen Ängsten auseinandersetzen und ihm helfen, die undichten Stellen zu finden - also ihn dabei unterstützen, sich allmählich im Neuen zurechtzufinden.

In einem weiteren Traum, dem letzten in diesem Abschnitt, sehen wir noch einmal Josefs Zweifel an seiner Fähigkeit, sein Leben zu verändern:

Er hat ein Schlauchboot gemietet, aber der Teich, auf dem er spazierenfahren will, ist nur zwei- bis dreimal so groß wie das Boot. Er ärgert sich über sich selbst, daß er so viel für etwas Sinnloses zahlen muß.

Zweifel über Zweifel: macht das überhaupt einen Sinn, dass er so viel Geld in seinen Prozess investiert? Ist Veränderung denn überhaupt möglich? Ist das nicht nur eine Illusion - so wie die Idee, auf einem winzigen Teich Schlauchboot zu fahren?

Kann das nicht alles von alleine funktionieren?

In diesem Abschnitt seiner Psychotherapie steigen zunächst Josefs Ängste vor der Veränderung stark an. In seinen Träumen zeigt sich das so, dass er immer wieder mit Gewalt oder der Androhung von Gewalt gegen ihn konfrontiert ist. Zuerst sind es unbekannte Personen, die ihn bedrohen, dann wird deutlich, worum es geht:

Josef ist in seinem Elternhaus, sein Vater schimpft mit ihm und schlägt nach ihm. Josef schützt sich mit den Händen und sagt dem Vater, er solle damit aufhören. Daraufhin mischt sich die Mutter ein und sagt: „Du wirst schon noch sehen, was du davon hast!“ Er will flüchten, sein Vater verfolgt ihn mit einem Taschenmesser, Josef hat große Angst und schreit um Hilfe.

Der ganze verborgene „Müll“ wird deutlich. Josefs Vater war (und ist immer noch) ein gewaltbereiter Alkoholiker. Vorbei sind die Zeiten, wo Josef das vor mir und auch vor seinem eigenen Bewusstsein versteckt halten wollte. Das tat er zuerst im Gespräch („Das war doch alles ganz normal, anderen geht es auch nicht anders“), dann in seinen Träumen, in denen er die Eltern durch Symbole und andere Figuren verschlüsselt hat. Hier ist es klar und deutlich: die Gewalttätigkeit des Vaters, der dabei von der Mutter unterstützt wurde, indem sie Josef verbot, sich zu wehren. Kein Wunder, dass Josef – der kleine Josef – panische Angst hat.

Meine Frage, ob er bereit sei, sich mit meiner Unterstützung mit seinen Gefühlen auseinanderzusetzen – seiner Angst, seinem Schmerz, seiner Scham und seiner Wut - löst eine Reihe von Träumen aus. Im Kern steht dabei in verschiedenen Formen der Wunsch, alle seine Konflikte und Ängste sollten sich entweder von selbst lösen oder jemand anderer möge all das von ihm nehmen.

Ein flüchtiger Bekannter aus Josefs wirklichem Leben hat - anders als im wirklichen Leben - graue Haare und einen ebensolchen Bart und verwandelt sich vor Josefs Augen in einen grauen Löwen.

Ein sprichwörtlicher „alter Löwe“, der ungefährlich geworden ist – wahrscheinlich handelt es sich um Josefs Vater, der auf dreifache Art entzaubert wird. Er taucht verschlüsselt auf, ist ja nur ein „flüchtiger Bekannter“ und außerdem ein alter Löwe.

Josef sitzt auf einer Waldlichtung und bemerkt, dass um ihn herum einige fein säuberlich in Plastikfolien verpackte Leichen liegen. Er verspürt eine gewisse Erleichterung darüber, daß sie so sauber verpackt sind, überlegt, zur Polizei zu gehen, kann sich aber nicht von der Lichtung wegbewegen.

Wieder eine Verschlüsselung: es sind anonyme Leichen, die hier liegen, und irgendwer wird sie wohl getötet haben. Josefs metaphorisch mörderische Wut auf seine Eltern hat sich allem Anschein nach erledigt und ist säuberlich verpackt geblieben. Nur der Schluss des Traums zeigt, dass das wohl so schnell nicht gehen wird: Josef kommt nicht von der Lichtung weg.

Josef steht vor einem Hochhaus und merkt, daß von hoch oben jemand auf ihn uriniert. Er geht zur Seite, das ändert aber nichts. Er ärgert sich ein bisschen, bekommt aber keine richtige Wut und überlegt, jemanden zu holen, der für die Verwaltung des Hochhauses zuständig ist.

Betrunkener, Bauarbeiter, Rechtsanwalt, Installateur, jetzt Gebäudeverwalter: ist es nicht faszinierend, wieviele Gestalten ich in Josefs Träumen einnehme? Immer wieder erscheint dabei der an mich gerichtete Wunsch: mach es für mich, sorge dafür, dass es mir besser geht und dass mich niemand mehr so demütigend behandelt.

Ich kann selbst aktiv werden!

Im Verlauf der bisherigen Therapie haben wir über Josefs Träume vieles entdeckt und aufgedeckt. Er ist in Kontakt mit seinen Gefühlen, Wünschen und Bedürfnissen gekommen, aber er ist bei den grundlegenden Eckpfeilern des unbewussten Lebensplans geblieben, den er als Kind entwickelt hat. Diese Grundbausteine heißen grob gesagt:
- Ich bin hilflos und ein Opfer
- Ich muss meine authentischen Gefühle, vor allem Ärger, Schmerz und Traurigkeit, unterdrücken
- Stattdessen erlebe ich Angst und Scham, aus denen ich keinen Ausweg finde
- Ich muss mein Leben lang einsam bleiben
- Wenn ich mich ständig anstrenge, wird mich vielleicht jemand retten, ich selbst kann es nicht tun

Josef hat für seinen Sommerurlaub einen Cluburlaub in der Türkei gebucht, um nicht wieder so sehr unter seiner Einsamkeit zu leiden wie im Jahr davor. Er hat große Angst, wieder mit niemandem in Kontakt zu kommen, und wir sprechen in den Stunden davor viel über diese Angst und seine Fantasien, was die Menschen im Club über ihn denken könnten.

Vorher nimmt er an einem mehrtägigen Therapieseminar unter meiner Leitung teil, auf dem er sich sehr wohl fühlt und sich sozial gut in die Gruppe einfügt. Ich spreche diesen Widerspruch an: er hat große Angst, allein zu bleiben -und zeigt mittlerweile gut entwickelte soziale Kompetenzen. Dazu meint er: „Auf dem Seminar war das ja nicht so schwer, da haben Sie ja auf mich aufgepaßt. Im Urlaub bin ich dann auf mich selbst angewiesen.“

Der erste Traum, den er nach dem Urlaub berichtet, spiegelt dieses Thema wider. Josef hat ihn in der Nacht vor dem Abflug geträumt.

Er ist in seiner Arbeit und soll von einem menschlich sehr unangenehmen Reporter befragt werden, den er sich nur unzureichend vom Leib halten kann. Der Bürgermeister kommt herein und ignoriert Josef und seine Bedrängnis mit dem Reporter. Die Szene wechselt, und Josef ist in einer fremden Stadt, hat Angst, sich zu verlaufen und findet sich dann in einem Garten wieder, in dem er mit mir eine Therapiesitzung hat. Er will von dem Reporter erzählen, aber die Stunde ist aus, und ich gehe mit einigen Kindern fort. Es ist, als ob ich auf einem Spaziergang nur kurz Pause für diese für ihn unzureichende Therapiestunde gemacht hätte.

Der „Bürgermeister“, der sich nicht um ihn kümmert, verkörpert wieder eine Vaterfigur. Vermutlich stellt diese Person beides dar: seinen Vater, der ihn und seine Bedürfnisse ignoriert, und mich, der ich ihn alleinlasse und nicht auf ihn „aufpasse“. Ich gebe ihm zwar eine Therapiestunde, gehe aber, bevor er zum Wesentlichen kommt. Und ich gehe mit Kindern, fast könnte man sagen, mit anderen Kindern fort.

Mit dieser Angst - ich habe ihn verlassen, und er muß sich ganz allein einer beunruhigenden Aufgabe stellen - fliegt Josef in seinen Ferienclub. Vier Tage lang fühlt er sich dort elend, einsam und unfähig, Kontakt aufzunehmen. In der Nacht nach dem vierten Tag hat er folgenden Traum:

Er erhält die Nachricht, dass er im Jänner zwei Tage ins Krankenhaus muss und ist besorgt, dass das Schwierigkeiten in der Arbeit geben könnte. Er hat nämlich entdeckt, dass ein Kollege einen Arbeitsbereich übernehmen soll, für den Josef zuständig ist. Er wehrt sich und sagt: „Das ist meine Verantwortung!“, worauf sich der Kollege zurückzieht.
Anschließend findet er sich in seinem Elternhaus wieder und erzählt seiner Mutter, dass es ihm in der Arbeit gut gehe. Sein Chef und ein Kollege kommen dazu, und Josef stellt fest, dass eine Menge Nachbarn im Hof seines Elternhauses stehen und die Unterhaltung mitbekommen, was ihn sehr stört. Der Chef und der Kollege beleidigen Josef, und er setzt sich zur Wehr. Er will nicht, dass die Nachbarn das mitbekommen und drängt sie beim Hoftor hinaus. Ein besonders lästiger will immer noch herein, und Josef schließt mit Gewalt das Tor und zerquetscht den neugierigen Nachbarn.

Noch bevor ich über die Deutung dieses Traums spreche, soll hier berichtet werden, wie Josefs Urlaub weiterging: am nächsten Tag, unmittelbar nach dem Traum, fasste er sich ein Herz und nahm an sportlichen Gruppenaktivitäten teil. Erstaunlich rasch knüpfte er so Kontakt zu anderen Gästen, mit denen er dann in der zweiten Hälfte des Urlaubs eine gute Zeit verbrachte. Wörtlich sagte er: „Ich habe das abendliche Beisammensitzen richtig genossen!“ - das erste Mal, daß ich überhaupt von etwas gehört habe, das er genossen hatte und das nicht nur „ganz nett“ oder „schon angenehm“ ist.

Der Traum, den ich gerade erzählt habe, markiert einen Wendepunkt in Josefs psychotherapeutischem Prozess und er ist der bisher letzte, den er mitgebracht hat. Wie können wir ihn interpretieren und verstehen?

Er besteht aus zwei Teilen, und in beiden setzt er sich deutlich zur Wehr - gegen den Arbeitskollegen und gegen die neugierigen Nachbarn. Am Anfang beider Traumteile stehen seine alten Ängste: was wird in der Firma geschehen, was werden die Nachbarn sagen? Bisher endeten solche Träume mit dieser Angst. Diesmal haut er sozusagen auf den Tisch, im zweiten Teil sogar massiv. Er zerquetscht den Oberneugierigen im Tor und macht damit deutlich: es geht euch gar nichts an, wie ich bin und wie ich lebe. Das ist meine Verantwortung, sagt er im ersten Traumabschnitt.

Entsprechend der Erkenntnisse dieses Traumes handelte er dann ab dem nächsten Tag in seinem Cluburlaub: er setzte sich darüber hinweg, was irgend jemand über ihn sagen oder denken hätte können und machte sich selbst zum Gradmesser für sein Handeln.

In den Wochen seither sind spannende Dinge passiert: Josef hat sich um eine neue Stellung beworben, hat ein erfolgreiches Bewerbunsgespräch hinter sich gebracht und ist in der engeren Auswahl für den Job. Zusätzlich wurden ihm - zufällig? - zwei weitere Stellen angeboten. Die Aussicht, die quälende Enge seines jetzigen Arbeitsplatzes zu verlassen, an dem er vieles ähnlich erfährt wie in seinem Elternhaus, belebt ihn sehr, und seine gut absolvierten Vorstellungsgespräche stärken sein Selbstvertrauen. Nicht umsonst berichtet er zurzeit keine Träume. Er setzt im wachen Bewusstsein so viele lebensverändernde Handlungen, dass er sein Unbewusstes nicht braucht, um ihm Botschaften zu schicken.

Lassen Sie uns zu Ende unserer gemeinsamen und außergewöhnlichen Reise mit Josef noch einmal zu Billy Joel und zu William Shakespeare zurückkommen. Wie Billy ist Josef Nacht für Nacht auf die Suche nach etwas gegangen, das er vor langer Zeit verloren hatte, das Kostbarste, das wir haben – unser Menschsein, unsere Persönlichkeit, unsere Autonomie. Doch Billy Joel trifft den Kern der Sache nicht ganz: es fühlt sich vielleicht so an, als ob es herausgerissen und geraubt worden wäre, doch in Wirklichkeit haben wir es in unserem Unbewussten verborgen und aufbewahrt. Denn wir sind aus solchem Stoff wie Träume sind: mit ihrer Hilfe können wir den vergrabenen Schatz finden und zu unserem wahren Selbst gelangen.

nach oben