41. "Dancing in the Dark" - Symptomatik, Psychodynamik und Behandlung von Depressionen

Hauptvortrag auf der Depressionstagung des VPA

Linz, Mai 2022

I get up in the evenin'
And I ain't got nothin' to say
I come home in the mornin'
I go to bed feelin' the same way
I ain't nothin' but tired
Man, I'm just tired and bored with myself
Hey there, baby, I could use just a little help
You can't start a fire
You can't start a fire without a spark
This gun's for hire
Even if we're just dancin' in the dark
Message keeps gettin' clearer
Radio's on and I'm movin' 'round my place
I check my look in the mirror
Wanna change my clothes, my hair, my face
Man, I ain't gettin' nowhere
I'm just livin' in a dump like this
There's somethin' happenin' somewhere
Baby, I just know that there is
Bruce Springsteen, Dancing in the Dark

Aus dem Bett komm‘ ich am Abend
Und da ist nichts, was Sinn machen könnt
Heim komm‘ ich dann morgens
Leg mich ins Bett, und fühl mich genauso
Ich bin einfach nur müde
Müd‘ und genervt von mir selbst
Hey, etwas Hilfe wäre schon gut

Du bringst kein Feuer zum Brennen
Ohne Funken bringst du kein Feuer zum Brennen
Ich bin für alles zu haben
Auch wenn ich nur im Dunkeln tanz

Jetzt versteh‘ ich die Botschaft besser
Das Radio läuft, und ich geh‘ auf und ab
Betracht mich im Spiegel
Will andre Klamotten, andere Haare und ein andres Gesicht
Mann, ich komm einfach nicht weiter
Auf dieser Müllhalde, auf der ich da leb
Irgendwo anders, da geht es wohl ab
Ich bin mir sicher, dass es so ist.

Vielleicht haben Sie schon früher den einen oder anderen Vortrag von mir auf einer Tagung des VPA gehört und wissen daher, dass ich gerne mit einem prägnanten Pop- oder Rocksong zum Thema beginne. Einige Male habe ich an der Geschichte der Person eines Sängers oder einer Sängerin meine eigenen Geschichten geflochten: Johnny Cash half mir, Ihnen die Frage des männlichen Narzissmus zu verdeutlichen. Mit Marianne Faithful näherten wir uns Paarbeziehungen und dem Kontrapunkt dazu – der Einsamkeit.

Diesmal, wo es um Depression geht, werde ich mich von zwei Singer-Sonwritern erzählen, die selbst davon berichten (oder berichtet haben), an Depressionen zu leiden: Bruce Springsteen, den Sie gerade gehört haben, und Leonard Cohen. Ich werde für ein paar Sequenzen ein fiktives Therapiegespräche mit einem führen, so, wie ich eben mit Patienten mit ähnlicher Symptomatik, ähnlichem Fühlen, Denken und Verhalten sprechen würde. Darüber hinaus werde ich Ihnen auch einige Ausschnitte aus der Therapie mit zwei realen Patienten erzählen.

Beide, Cohen und Springsteen, haben sich sowohl psychotherapeutisch-psychatrischer als auch medizinischer Hilfe bedient. In seiner Autobiografie „Born to Run“ erzählt Springsteen, wie er sich selbst auf der Reise durch die USA nach einer sehr erfolgreichen Tour erlebt: 

Hier in dieser kleinen Stadt (…) wird mir klar, dass ich einen hohen Preis zahle für mein Leben als distanzierter Beobachter, der sich vorsichtig aus allen emotionalen Verwicklungen raushält (…). Mit 32, in dieser Nacht, irgendwo mitten in den USA, versagt plötzlich meine bisher immer so zuverlässige, die Seele und den Geist betäubende Rock’n’Roll-Droge.
(…) Ich will am liebsten heulen, aber es kommen keine Tränen. (…) In mir wütet tiefere Verzweiflung denn je. (…) Wieder mal war ich gestrandet mitten im … Nirgendwo. Doch diesmal versagten die Euphorie und die Obessionen, die mich bisher so gut geölt und in Schwung gehalten hatten, und die ganze Maschinerie kam knirschend zum Stehen.

Mühsam kämpft Bruce sich weiter auf seiner Reise nach Kalifornien und durch seine innere Leere, um schließlich seinen Manager anzurufen:

Ich bin am Nullpunkt, das Reservoir meiner üblichen emotionalen Tricks ist ausgeschöpft. Keine Tournee, in die ich mich flüchten kann. Keine Musik, die mich „rettet.“ Ich bin gegen die Wand gefahren (…).
„Du brauchst professionelle Hilfe“, stellt Jon fest, und auf meine Bitte hin telefoniert er kurz herum, ich bekomme eine Nummer, und zwei Tage später fahre ich (…) zu einer Praxis in einem Vorort von Los Angeles. Ich trete ein, sehe einem freundlichen, weißhaarigen, schnurrbärtigen und mir völlig fremden Mann ins Gesicht, setze mich und breche in Tränen aus.

Das schreibt Springsteen 34 Jahre später, und man merkt, dass das auf der Basis vieler Reflexion und vieler Eigentherapie geschieht. Zu dem Zeitpunkt, als er das erlebt, scheint er in seinem Empfinden dem Erleben in „Dancing in the Dark“ näher zu sein: die inhaltsleere Gleichförmigkeit eines ziellosen Tanzes im Dunkeln, der Wunsch, ein anderer Mensch in einem anderen Leben zu sein, und die vage Sehnsucht: da muss es doch irgendwo irgendetwas geben, das diesem Leben Sinn, Inhalt und Erfüllung gibt. Aber wo nehme ich den Funken her, der mein Feuer zum Brennen bringt? I could use just a little help…

Menschen, die unter Depressionen oder depressiven Verstimmungen leiden, kommen ganz unterschiedlich zur Therapie. Manche sind so wie Bruce Springsteen an einem Punkt, wo die ganze Verzweiflung aufbricht wie ein chronisches Geschwür. Wie ist der uns unbekannte Therapeut damals mit der Situation umgegangen? Ich vermute, er hat ihm erst einmal Zeit für seine Tränen gegeben und ihm wortlos die Box mit den Papiertüchern gereicht. Nach einigen Minuten könnte Buce beginnnen zu reden, und vielleicht entwickelt sich das folgende Gespräch:

B: Sorry…das war nicht geplant…
Th: Das ist OK.
B: Eigentlich wollte ich ja reden, nicht heulen.
Th: Ihre Tränen erzählen mir mehr über Ihre Geschichte als Ihre Worte das vielleicht könnten.
B: Ich erzähle ja ständig Geschichten. Und die Leute glauben, das alles sei ich. Aber in Wirklichkeit…
Th: In Wirklichkeit?
B: Weiß ich überhaupt nicht, wer ich wirklich bin.
Th: Und es ist eine gute Möglichkeit, sich hinter all Ihren Texten und hinter der Person auf der Bühne zu verstecken.
B: Mich zu verstecken? Ich habe doch immer gedacht, im Rock’n’Roll kann ich mich endlich zeigen, so, wie ich wirklich bin. Darum wollte ich immer eine Band haben.
Th: Vielleicht wollen Sie so einem Schmerz Worte geben, für den es gar keine Worte gibt, weil er so tief und so alt ist.
B: Oh Mann…so tief und so alt. Da könnte ich schon wieder heulen. Wollen Sie jetzt mit mir über meine Kindheit reden? Das, was Shrinks halt so tun?
Th: Ich möchte gerne den wirklichen Bruce Springsteen kennenlernen. Mit dem, was ihn ausmacht: seine Geschichte, seine Gegenwart, seine Gefühle, seine Gedanken.
B: Das möchte ich auch gern.
Th: Wie fühlt sich das an, wenn Sie das sagen: das möchte ich auch gern?
B: Weiß nicht…sollte ich etwas fühlen?
Th: Sie sollten gar nichts.
B: Meistens, wenn ich nicht gerade auf der Bühne stehe, fühle ich auch nicht wirklich etwas. Irgendwie eine Leere, eine dunkle Leere, die ich unbedingt mit etwas füllen will. Und wenn mir das nicht gelingt, dann werde ich mehr und mehr verzweifelt.

So oder so ähnlich würde ich ein erstes Gespräch führen, und es ähnelt natürlich vielen, die ich tatsächlich geführt habe. In einem Interview, das Springsteen Jahre später geführt hat, sagt er: "Als ich ein Kind war und dann später ein Teenager, habe ich mich wie eine sehr, sehr leere Hülle gefühlt.“ Das ist aus meiner Sicht ein, wenn nicht das wesentliche psychodynamische Charakteristikum aus dem Innenleben von Menschen mit depressiver Symptomatik: das mehr oder weniger bewusste und nicht wirklich benennbare Empfinden einer tiefgreifenden und sehr umfassenden inneren Leere. Diese Leere entsteht natürlich nicht von selbst in uns, so werden wir nicht geboren. Die österreichische Schriftstellerin Monika Helfer sagt treffend in ihrem jüngsten Buch: „Leere ist, wo einmal etwas war.“Dieses „etwas“, das da verloren gegangen ist, dieses Loch, das durch dieses Fehlen entstanden ist, löst eine tiefe und unstillbare Sehnsucht aus.

Natürlich haben die meisten von uns größere oder kleinere dieser leeren Löcher in unserer Biografie und in unserer Seele. Sie sind durch Verluste, Traumata, Mängel an Liebe und Nähe entstanden. Wenn wir die entsprechende Unterstützung durch Trost und Verständnis erhalten, dürfen wir trauern und loslassen. So können diese Wunden verheilen und wir in unserer Persönlichkeit weiterwachsen. Wenn wir aber damit einsam bleiben und unsere Trauer in uns einsperrren, können wir diese Leere nicht auf gesunde Art und Weise schließen. In uns bleibt eine ungestillte Sehnsucht nach Liebe, nach Nähe, danach, verstanden und gesehen zu werden. Wenn es uns doch gelingen würde, jemanden oder etwas zu finden, der oder das dieses Loch, diese leere Hülle in uns füllen könnte!

Eine gängige Annahme in der klinischen Psychologie und der Psychotherapie geht davon aus, dass die De-pressio, dieses wortwörtliche Niedergedrücktsein ein Resultat tiefer und aussichtsloser Trauer über dieses innere Defizit und die frühen Verluste ist, die diese Leere verursacht haben. Ich denke, dass der innere Prozess komplexer ist – dass die Depression, die depressive Verstimmung mit ihren zugehörigen Mustern des Fühlens, des Denkens und des Handelns, nicht das Problem, sondern vielmehr den Versuch einer Lösung darstellt.

Als junger Psychologe und am Beginn meiner Ausbildung zum transaktionsaktionsanalytischen Psychotherapeuten arbeitete ich in einer Drogenberatungsstelle in Salzburg. Mein allererster Klient, nennen wir ihn Wolfgang, wurde mir von seiner Mutter vermittelt. Wolfgang, ein Gymnasiast kurz vor dem Abschluss, war von der Polizei in einem Café erwischt worden, als er Cannabis kaufen wollte. Die Mutter erzählte: „ich weiß nicht mehr, was ich mit ihm machen soll. Seit ein paar Jahren verkriecht er sich in seinem Zimmer, redet kaum mit uns und ist nur missmutig. Was haben wir doch alles versucht, um ihn aufzumuntern: mit 16 hat er ein Moped bekommen, mit 17 einen Schachcomputer (damals eine kostspielige Angelegenheit) und mit 18 den Führerschein und ein Auto. Ich bin bereit, alles zu tun, was notwendig ist, damit er aufhört, Drogen zu nehmen. Sagen Sie mir doch bitte, wie ich ihm helfen kann!“

Dann lernte ich Wolfgang selbst kennen, einen intelligenten, aber mürrischen jungen Mann, der mir erzählte, dass sein Leben sinnlos sei und ihm nichts Spaß mache. Jung und unerfahren, wie ich damals war, versuchte ich, ihn aufzumuntern – die Falle, in die viele Angehörige von depressiven Menschen tappen: „Schau doch, Wolfgang (in der Drogenberatung waren wir mit allen Klienten und sie mit uns per Du, wir waren ja ein junges Team), schau doch, draußen beginnt gerade der Frühling. Wenn wir uns auf den Balkon setzen, können wir spüren, wie warm die Sonne schon ist, und wir können die Vögel zwitschern hören.“ Dazu lächelte ich mein freundlichstes und warmherzigstes Lächeln.

Wolfgang sah mich verständnislos an. Nach einer Weile meinte er: „Wenn wir auf dem Balkon einen Joint rauchen könnten, wäre mir das lieber als Vogelgezwitscher. Das sagt mir nämlich gar nichts.“ Nach ein paar weiteren Versuchen, ihn zu aktivieren und zu motivieren merkte ich, dass ich ähnlich dachte wie seine Mutter: was fällt mir noch alles ein, wie ich ihn aufmuntern könnte?

In unserer Beratungstelle waren wir damals, Anfang der 80er-Jahre in der heute unvorstellbar luxuriösen Situation, jede Woche Supervision im Team zu bekommen. Als ich unserem Supervisor die Situation mit Wolfgang schilderte, meinte er: „Ich habe den Eindruck, dein Klient versucht unbewusst, dich dazu zu bringen, für ihn zu denken und vielleicht auch für ihn zu handeln. So kann er passiv bleiben.“

Wenn Sie jetzt so wie bei den meisten meiner Vorträge, meiner Bücher, Workshops und Zeitschriftenartikel darauf gespannt sind, wie ich den Prozess zu einem erfolgreichen Ende führen werde, muss ich Sie enttäuschen. In dieser Geschichte bin ich ja erst 27 und Berufsanfänger. Wolfgang kam ein halbes Jahr lang zu mir, und es gelang mir nicht, ihn in seiner Passivität nachhaltig zu erreichen. Aber in der Arbeit mit ihm habe ich viel gelernt, vor allem das, was ich heute das erste Momentum der Psychodynamik der Depression nenne:
IN MIR GIBT ES EINE GROSSE LEERE. ICH WILL SIE NICHT WAHRNEHMEN UND NICHT FÜHLEN.

Statt weiterer Vorschläge frage ich ihn – wie unser Supervisor geraten hatte – was er denn für Ideen zur Lösung seiner Unzufriedenheit mit sich selbst und seinem Leben habe. Darauf reagiert er mit charmantem Lächeln und erzählt, dass er sehr gerne zu mir komme und die Sitzungen ihm sehr wichtig seien. „Sie sind das Einzige, was eine Abwechslung in meinem grauen Alltag sind,“ meint er. „Deine Fragen regen mich sehr zum Denken an, aber Erfolge habe ich keine dabei. Fällt dir nicht vielleicht doch etwas ein, was hilfreich sein könnte? Du bist ja schließlich der Psychologe.“ Je freundlicher er wird, desto ungeduldiger werde ich. Das merkt er natürlich, und er versucht, mich mit launigen Anekdoten aus seinem Schulalltag zu unterhalten. Das zieht sich über Wochen dahin, bis er schließlich ärgerlich wird und mir Vorwürfe macht: „Du brauchst dich überhaupt nicht zu wundern, wenn ich mich weiter einrauche. Außerdem habe ich angefangen, Kokain auszuprobieren, das ist amüsanter als die Sitzungen mit dir. Das ist die Lösung, die ich gefunden habe. Da fühle ich mich nicht mehr unzufrieden, und das Leben macht wieder Spaß.“

Ziemlich frustrierend. Ein Drogenberater, der erreicht, dass sein Klient härtere Drogen nimmt. Unser Supervisor und das Team versuchen, mich zu beruhigen: „Das ist seine Entscheidung, nicht deine Verantwortung. Das ist halt so mit unseren Klienten.“ Das stimmt natürlich, aber mich lässt die Geschichte nicht los, ich bringe das Thema immer wieder in den Supervisionssitzungen ein, bis ich die Rückmeldung erhalte: „Du fängst allmählich an, dich ähnlich wie Wolfgang zu verhalten: wir sollen dein Problem für dich lösen.“ Viel später werde ich lernen, dass dieser Vorgang – der Therapeut, die Therapeutin fühlt, denkt, handelt in der Supervision ähnlich wie Klientin oder Klient in der Therapie - den Namen „Parallelprozess“ trägt. So frustriert ich damals auch war, es war ein erster Schritt auf dem langen Weg, den es braucht, um zu begreifen, dass wir manchmal aus unseren missglückten Behandlungsversuchen mehr lernen können als aus den erfolgreichen – nicht zuletzt über uns selbst.

Haben wir nicht alle immer wieder die größere oder kleinere Hoffnung, jemand möge uns unsere Sorgen abnehmen, unsere Probleme für uns lösen, alles endlich gut machen? Oder zumindest etwas im Leben finden zu können, das uns ganz und vollständig werden lässt? In dem vorher erwähnten Interview sagt Bruce Springsteen: „Erst als ich angefangen habe, sie (die Leere, Anm.) mit Musik zu füllen, habe ich meine eigene Stärke und meinen Einfluss (…) gespürt." In dem Abschnitt aus seiner Autobiografie, den ich Ihnen vorher vorgelesen habe, erkennt er allerdings, dass seine Musik, so erfolgreich er auch damit ist, seine Leere nur vorübergehend und nur scheinbar fühlen kann. Nach jeder Tournee ist es wieder vorbei damit, und er fällt in ein depressives Loch. Ähnlich geht es Wolfgang mit den Drogen: erst Haschisch und dann Kokain, aber nichts hilft nachhaltig. Er hofft, dass ich als sein Psychologe das – seine Probleme für ihn zu lösen, die Wunde seiner inneren Leere für ihn zu heilen – noch besser kann, denn ich bin ja keine Substanz, keine Droge, sondern ein Mensch. Und Menschen, genauer gesagt menschliche Beziehungen, der Mangel an ihnen, stehen ja am Beginn dieser Leere. Wir können uns vorstellen, dass auch Bruce Springsteen mit einer ähnlichen Hoffnung zu seiner ersten Therapiesitzung fährt.

Das, worauf er und Wolfgang und im Grunde auch ich in meinen damaligen Teamsupervisionen hofften, ist das Herstellen einer zumindest punktuell verschmelzenden Bindung. In der Transaktionsanalyse verwenden wir dafür den Begriff „Symbiose“. Damit ist eine Beziehung gemeint, in der eine Person die Rollen sowohl eines erwachsenen Menschen als auch einer Elternfigur übernimmt, während die andere wie ein Kind fühlt, denkt und handelt.

Viele Menschen sehnen sich unbewusst und manchmal auch bewusst nach einer vollkommenen frühen Nähe, in der uns alles Schwerige abgenommen wird, im besten Fall so wie im Mutterleib oder in der frühesten Zeit nach der Geburt. Dass viele das nicht oder zu wenig oder auch viel zu viel hatten, dass wir es vielleicht auf dramatische Art verloren haben, das ist die Wunde, die diese innere Leere entstehen lässt. Springsteen berichtet im Buch von seinem emotionell kalten, depressiven und alkoholkranken Vater. Auf einem seiner Live-Alben erzählt er: „When I was growing up there were two things that were unpopular in my house. One was my guitar – and the other one was me.”

Die Ehe von Wolfgangs Eltern ist zerbrochen, als er etwa drei Jahre alt war. Zu der Zeit, als ich ihn kennenlernte, stand er immer noch in einem schweren und für ihn unlösbaren Loyalitätskonflikt zwischen Vater und Mutter.

Je größer die innere Leere, die Depression, ist, desto größer ist die Sehnsucht nach einer symbiotischen Beziehung und die illusionäre Hoffnung nach jemandem oder etwas, der oder das alles gut machen kann. Lassen Sie mich von zwei weiteren Menschen erzählen, die seit vielen Jahren mit und gegen ihre Depressionen kämpfen. In dem einen Fall muss ich „kämpften“ sagen, weil es sich um den 2016 verstorbenen kanadischen Singer-Songwriter Leonard Cohen handelt. Die zweite Person ist Susanne, deren Therapie bei mir gerade in ihre Abschlussphase geht. In der Arbeit mit ihr spielt Cohen eine große Rolle, weil sie sich von ihm seit ihrem 15. Lebensjahr begleitet fühlt. Immer wieder scheint er (oder ihr Bild von ihm) für sie die Figur zu sein, mit der sie sich identifiziert, von der sie glaubt, verstanden zu werden – mit der sie eine Art Fantasie-Symbiose eingeht. In Cohens melancholisch-metaphorischer Mystik erlebt sie eine Art von Geborgenheit, die sie noch nie bei einem realen Menschen erlebt hat. In manchen seiner Formulierungen glaubt sie, sich punktgenau wiederzufinden: „I’m cold as a new razor blade“ (ich bin so kalt wie eine nagelneue Rasierklinge) oder „I did my best/ it was not much/ I could not feel/ so I learned to touch” (ich gab mein Bestes, viel war es nicht – ich konnt‘ nicht fühlen, drum lernte ich, zu berühren).

Das zweite Momentum der Psychodynamik der Depression lautet kurz und bündig:
JEMAND SOLL MEIN LEID FÜR MICH LÖSEN.
“I could use just a little help” singt Bruce Springsteen.

Sehen wir uns das in Susannes Geschichte näher an. Sie ist Mitte Vierzig und kommt zu mir, als sie gerade in einer schwierigen Scheidung, ihrer dritten, steckt. Sie erzählt:

S: Es läuft immer nach dem gleichen Muster ab. Nach einer längeren Phase des Alleinseins, in der ich sehr unglücklich und depressiv bin, lerne ich wieder einen Mann kennen. Ich verliebe mich sehr rasch, und alles ist wunderbar. Diesmal war es einer, der acht Jahre jünger ist als ich, und es hat mich unglaublich belebt, dass ein so toller Mann mich begehrt hat. Nach zwei Monaten hat er mir schon einen Heiratsantrag gemacht, und ich habe sofort Ja gesagt. Heute weiß ich natürlich, dass das viel zu früh war.
Th: Aus Ihrer Sicht sieht das Muster also so aus, dass Sie zuerst unglücklich sind, sich dann sehr schnell und sehr intensiv verlieben, der Mann auch in sie, und dass sie sehr schnell eine verbindliche Beziehung draus machen.
S: Ob er sich auch in mich verliebt hat, da bin ich mir nicht so sicher. Heute glaube ich, er wollte sexuell etwas mit einer reifen Frau erleben. Und vor allem wollte er eine Mutter, die ihn umsorgt.
Th: Sie erleben die Liebe also einseitig, hauptsächlich von Ihnen her kommend.
S: Ja, und das war bei meinen ersten beiden Männern genauso. Bei allen hat das Interesse nachgelassen, und das ging von Mal zu Mal schneller. Beim ersten immerhin nach ungefähr sechs Jahren, und bis zur Scheidung hat es noch einmal fünf Jahre gedauert. Beim zweiten waren es insgesamt acht Jahre, und diesmal hat er schon nach ein, zwei Jahren genug von mir gehabt. Und alle drei hatten sie Affären.
Th: Das sind tatsächlich viele Parallelen.
S: Ja, und vor allem fühle ich mich immer gleich: zuerst himmelhochjauchzend und dann zu Tode betrübt. Ich frage mich schon, ob ich nicht manisch-depressiv bin.
Th: Wollen Sie mehr über dieses „zu Tode betrübt“ erzählen?
S: Das fängt an, wenn ich merke, dass wir auseinanderdriften. Dass er sich von mir entfernt. Dann kriege ich eine Riesenangst, dass ich ihn verlieren werde. Ich will nicht wieder allein sein!
Th: Und dann?
S: Dann denke ich mir, das redest du dir nur ein. Und suche nach Anzeichen, dass er mich eh noch liebt. Aber die Angst wird größer und größer.
Th: Sie werden unglücklicher und unglücklicher.
S: Genau. Dann raffe ich mich auf, alles nur Erdenkliche für die Beziehung zu tun. Koche sein Lieblingsessen, versuche, ihn zu verführen, klappt aber nicht. Bin so nett zu ihm, wie ich nur sein kann. Will mit ihm darüber reden, aber er weicht mir aus. Und ich kann mich auf nichts konzentrieren, nicht auf meine Arbeit, auf nichts. Ich denke mir, so kann das nicht weitergehen, tu was! Raff dich auf!
Th: Und was tun Sie dann?
S: Sinnloses Zeug. Putze die Wohnung. Versuche zu lesen, fernzusehen, Freundinnen anzurufen. Gehe zum Friseur. Shoppen. Ins Fitnessstudio, um schlank und schön zu sein. Aber das lenkt mich nur vorübergehend ab. Das Einzige, was hilft, zuminest kurzfristig, ist Musik zu hören.
Th: Was hören Sie da?
S: Cohen. Leonard Cohen.
Th: Leonard Cohen?
S: Kennen Sie den?
Th: Natürlich.
S: Na dann verstehen Sie mich vielleicht. Niemand versteht mich so wie er. Niemand kennt das Unglück der Liebe und das Leiden der Depression so wie er. (fängt an leise zu singen) Love is not a victory march, it’s a cold and it’s a broken Hallelujah…
Th: Traurig.
S: Ja, sehr. Das könnte ich stundenlang hören. Und ich heule, heule, heule. Zeit hatte ich ja genug in den letzten Wochen, er war ja nie mehr zu Hause. War bei seiner Tussi, der Vollidiot!
Th: Dann kommt, scheint’s, der Moment, wo Ihre Traurigkeit in Wut kippt.
S: Genau. Wut auf ihn, dass er mich so verraten hat. Und Wut auf mich, dass ich schon wieder so blöd war, an die Liebe zu glauben. Dann ist es auch vorbei mit dem Nettsein, ich schreie ihn an, schmeiße mit Sachen um mich und würde ihm am liebsten eine kleben. Manchmal bin ich so verzweifelt wütend, dass ich mich selbst schlage, ins Gesicht.
Th: Das klingt, als ob Sie sich über weite Strecken als hilflos erleben und verzweifelt auf verschiedene Arten nach Hilfe suchen.
S: Ja, aber keiner hört mich!
Th: Außer Leonard Cohen. Oder das Bild, dass von ihm in Ihnen entsteht, wenn Sie seine Songs hören.
S (beginnt zu weinen)

Gehen wir wieder zurück zur Transaktionsanalyse und den Landkarten, die sie für schwerere seelische Leidenszustände zur Verfügung stellt - den Konzepten von Symbiose, Passivität und Abwertung. Die innere Leere, die ihren Ursprung in der Kindheit hat, und der Schmerz über die erlittenen Verluste führen zu einer verzweifelten Sehnsucht nach symbiotischen oder symbioseähnlichen Beziehungen. Immer, wenn Susanne eine neuerliche Trennung hinter sich hat oder wenn die Verlustangstangst sie überfällt, wird dieser Wunsch besonders groß. Diese Impulse sind sehr emotionell und sehr kindlich: bitte bitte bitte, Universum, lieber Gott und welches höhere Wesen auch immer – schick mir jemanden, der diesen schrecklichen Schmerz endlich wieder gut macht, und zwar endgültig und für immer. Die kleine kindliche Susanne in ihr hofft (für die große Susanne unbewusst) auf eine Art von Magie, durch die sie die Welt und die Menschen dazu bewegen zu können, dass ihre Probleme von außen her gelöst werden. Diese Haltung und das zugehörige manipulative Verhalten nennen wir in der Transaktionsanalyse passiv.

Wir können vier passive Verhaltensweisen unterscheiden, also vier Versuche, andere dazu zu bewegen, mein depressives Unglück für mich zu lösen:

1. Nichtstun, also keine Aktivität in Bezug auf eine konstruktive Lösung meiner Probleme zu setzen.
Susanne merkt, dass ihre Beziehung sich auseinanderentwickelt, dass sie und ihr Partner sich allmählich fremd werden. Ihre passive Definition sieht diese Wegbewegung nur einseitig: „dass er sich von mir entfernt.“ Sie grübelt und sorgt sich, statt beispielsweise das Gespräch zu suchen. Bei Bruce Springsteen finden wir diese Art der Passivität in der ersten Strophe von „Dancing in the Dark“: er steht erst gegen Abend auf, am nächsten Morgen ist auch nichts anders, und er ist nur müde und gelangweilt von sich selbst. Bei Wolfgang habe ich das über weite Strecken unserer Arbeit erlebt – ein Achselzucken, ein flüchtiges Lächeln, ein „das sagt mir gar nichts.“ Und Leonard Cohen, unser vierter Protagonist? In seinen melancholischen Texten finden sich zahlreiche Beschreibungen des passiven Nichtstuns, zum Beispiel in „Last Years Man“ aus dem Jahr 1971: „An hour has gone by and he has not moved his hand“ – eine Stunde ist verflossen, und er (damit meint er sich selbst) hat nicht einmal die Hand gerührt. In einem Interview sagte er einmal, er habe seit der zeit seiner Adoleszenz mit Depressionen gekämpft: “Da ga es manchmal Phasen, die lähmend waren, als es schwierig war, von der Couch runterzukommen.“

2. Überanpassung
Diesen Abschnitt setzen wir mit Cohen fort: „If you want a lover I’ll do anything yo ask me to” beginnt er seinen Song “I’m your man”. Nicht umsonst ist das einer von Susannes Favoriten. Was er da nicht alles verspricht: er wird dieser namenlosen Frau, die er anfleht, Partner sein, sich schlagen lassen, ihr Auto chauffieren, ein Vater für ihr Kind sein, verschwinden, wenn sie das wünscht und schließlich wie ein Hund ihre Schönheit anbeten und ihr zu Füßen fallen. Nicht so pathetisch, aber doch genauso manipulativ macht das Susanne: nett sein, kochen, verführen. Auch bei Wolfgang finden wir Überanpassung, wenn er erzählt, wie wichtig ihm die Stunden mit mir sind.

3. Agitation
Susannes Hilflosigkeit und damit ihre Verzweiflung eskaliert. Sie rafft sich zwar auf, etwas zu tun, aber das ist „sinnloses Zeug.“ Nicht per se sinnlos, aber nicht zielführend im Sinne der Problemlösung. Sie putzt, geht ins Fitnessstudio, hört Leonard Cohen. Dieses Tun um des Tuns willen wird agitieren genannt, abgeleitet von dem lateinischen Verb „agitare.“ Das bedeutet so viel wie „bewegen, antreiben, jagen, hetzen, verfolgen“. Milde Formen davon können wir bei unseren Klient:innen bebachten, wenn sie mit dem Fuß wippen, mit der Fingern trommeln, sich wiederholt am Kopf kratzen, wenn sie sich unsicher fühlen. Die Agitation des depressiven Menschen, die sogenannte agitierte Depression kann sich in vielen Formen ausdrücken: viel arbeiten, Sport in einem ungewöhnlich hohen Ausmaß und repetitiv betreiben, auch Suchtverhalten von Drogen- und Alkoholkonsum bis zu Spiel- und Pornosucht. Im ersten Lockdown der Covid-19-Pandemie fingen viele von uns an zu backen, zu basteln, betätigten sich als Heimwerker, lernten ein Musikinstrument. Ich selbst, als wir unsere Praxis geschlossen hatten und nur wenige Online-Therapiesitzungen hatte, begann, die Vorhänge in unserer Wohnung zu waschen, die Bücher abzustauben und die Pflanzen auf der Terrasse umzutopfen.
Für Bruce Springsteen waren das, jedenfalls zu der Zeit, über die ich vorgelesen habe, seine Band und insbesondere auf Tournee zu gehen. Leonard Cohen hatte ungezählte Frauenbeziehungen, die alle in die Brüche gingen. Wolfgang steigert seinen Drogenkonsum, er wechselt von Haschisch zu Kokain. Diese Form der Passivität ist nach außen nicht immer als solche zu erkennen, weil es den Menschen während des wiederholten Handelns subjektiv besser geht. Die Spannung wird momentan abgeführt, aber das Problem nicht gelöst.

4. Gewalt/Sich unfähig machen
Diese höchste und intensivste Form der Passivität tritt in allen Eskalationsstufen auf, vom Anbrüllen bis hin zu Mord und Totschlag, auch Gewalt gegen sich selbst ist dabei, wie wir an Susanne sehen.

Depression und depressive Verstimmungen sind sowohl das Ergebnis als auch die Ursache von Hilflosigkeit. Diese rührt aus den meist tief im Unbewussten verborgenen Defiziten, Verlusten und Traumata, die die innere Leere zur Folge haben. Die erhoffte Lösung, das Herstellen einer symbiotischen Beziehung und die entsprechenden passiven Verhaltensweisen, schlägt in ihr Gegenteil um: Susannes Partner zieht sich noch weiter von ihr zurück, Wolfgang erlebt mich zunehmend frustriert, Mitglieder aus Springsteens Band überlegen auszusteigen. „The Boss is no good boss“ war ein gängiger Spruch unter ihnen (The Boss ist Springsteens Spitzname). „Death of a Ladies‘ Man“ nennt Leonard Cohen die zahllosen Wiederholungen gescheiterte Beziehungen in seinem Leben: „So the great affair is over but whoever would have guessed/ It would leave us all so vacant and so deeply unimpressed” – die große Affäre ist vorbei, aber wer hätte gedacht, dass wir so leer und unbeeindruckt übrigbleiben würden? Vacant and unimpressed, es gibt kaum präzisere Vokabel für die Leere der Depression. Die Lösung wird zum Problem – auf diesen berühmten Watzlawickschen Satz habe ich schon hingewiesen.

Damit sind wir beim dritten Momentum der Depression:
DIE LÖSUNG WIRD ZUM PROBLEM – STATT SYMBIOTISCHER NÄHE ENTSTEHT NEUE VERLASSENHEIT.

Noch eine Zeile aus „Dancing in the Dark“: „They say you gotta stay hungry” – sie sagen alle, ich werde wohl hungrig bleiben müssen.

Symptomatik, Psychodynamik und Behandlung von Depression, so habe ich meinen Vortrag übertitelt. Um zur psychotherapeutischen Arbeit mit Depressionen und depressiven Verstimmungen zu kommen, ist es wichtig, den Blick auf den inneren Prozess hinter der symbiotischen Sehnsucht und hinter den passiven Verhaltensweisen zu richten. Auch dazu gibt es eine Landkarte der Transaktionsanalyse: die der inneren Abwertungen, auf englisch „discounts“. Der Ausdruck ist treffend: wie beim verbilligten Abverkauf erhalte ich mit hoher Wahrscheinlichkeit nur wertlosen Ramsch, der meine Bedürfnisse kaum stillt.

Wenn Wolfgangs Mutter meint, sie wolle alles tun, damit ihr Sohn keine Drogen mehr nimmt, wertet sie auf zwei Ebenen ab:
- den sinnlich (optisch und akustisch) und emotionell wahrnehmbaren Reiz, dass ihr Sohn unglücklich und mit seinem Leben unzufrieden ist und
- das Problem – das sind nämlich nur an der Oberfläche die Drogen, in
Wirklichkeit ist es seine Depression.
Wolfgang übernimmt diese Sichtweise und wertet damit auf einer dritten Ebene ab:
- der möglicher sinnvoller Alternativen. Sein Umstieg von Cannabis zu
Kokain löst natürlich nicht sein depressives Unglück.

Leonard Cohen erkannte schon früh, dass er an Depressionen litt. Stimulus und Problem waren ihm klar. Bei ihm lag die Abwertung auf der Ebene der Alternativen. Er konsumierte Unmengen von Drogen und liierte sich mit vielen Frauen. In der Live-Aufnahme eines Konzertes sagt er 2008: “I've taken a lot of Prozac, Paxil, Wellbutrin, Effexor, Ritalin, Focalin. I’ve also studied deeply in the philosophies of the religions.” All das sind Dinge, die von außen kommen, nicht der innere Prozess einer Psychotherapie. Er blieb bei der passiven Strategie der Agitation.

Schließlich Bruce Springsteen in „Dancing in the dark“: sein Protagonist wertet auf allen drei Ebenen ab: er ist „tired and bored with myself“, er nimmt nicht wahr, dass er sich verzweifelt, unglücklich, hilflos fühlt. Er kommt nirgendwohin, sitzt nur herum und wird älter – das ist nur die Oberfläche seiner Probleme, der Kern ist die depressive Sehnsucht nach dem Auffüllen seiner inneren Leere. Und seine Frisur, seine Kleidung und sein Gesicht zu verändern sind keine brauchbaren Alternativen.

Hier wind wir beim vierten Momentum der Depression:
ICH WERTE AB
- WIE ICH MICH FÜHLE UND ERLEBE
- WAS MEIN TATSÄCHLICHES PROBLEM IST UND WO ES HERKOMMT
- UND WAS FÜR SINNVOLLE ALTERNATIVEN ICH HABE
SO KANN ICH WEITER IN DER HOFFNUNG AUF SYMBIOTISCHE BEZIEHUNGEN BLEIBEN

Und genau hier, bei diesem vierten Momentum, setzen wir mit der Psychotherapie an. Die drei Ebenen Stimulus, Problem und Alternativen sind in aufsteigender Reihenfolge zu sehen: wenn jemand Stimulus und Problem nicht erkennen kann oder will wie Wolfgang, dann macht es keinen Sinn, an Alternativen zu arbeiten, so, wie ich es damals getan habe. Wir stehen also vor der Aufgabe, die niedrigste Ebene der Abwertung zu identifizieren und uns von dort nach oben zu arbeiten.

In der transaktionsanalytischen Arbeit wird die Anwendung des Abwertungs-Schemas, der discount-Matrix, oft als hauptsächlich kognitiv-verhaltensorientiert gesehen: wenn ich verstanden habe, was ich da wanrnehme und was mein Problem ist, sehe ich auch die Alternativen und kann dann dementsprechend handeln. Das kann beispielsweise im Coaching sehr hilfreich sein, in der psychotherapeutischen Arbeit mit schwerem seelischem Leiden ist es das nur bedingt. Depression bedeutet: ich habe eine sehr intensive und wirkungsvolle Strategie entwickelt, nicht mit meinen authentischen Gefühlen über meine innere Leere und vor allem mit ihren Hintergründe in Kontakt kommen zu müssen. Solange ich diesen Emotions-Knoten nicht löse, lande ich mit meinem Denken und Handeln immer wieder in der gleichen Sackgasse meiner Passivität und warte, so wie Springsteen, auf den Funken, der mein Feuer zum Lodern bringen wird.

Sehen wir uns das in der Arbeit mit Susanne an. Sie hat bereits eine Menge an Selbstreflexion geleistet und kann ihre Verhaltensmuster und die lebenslangen Wiederholungen erkennen – aber sie kann aus dieser Spirale nicht heraus. Lebenslange Wiederholungen? Bisher haben wir nur die Wiederholungen in ihrem Erwachsenenleben gesehen. Kein Mensch beginnt mit solchen Beziehungsmuster erst, wenn er oder sie groß geworden ist. Die enttäuschte und immer verzweifeltere Sehnsucht nach bedingungsloser Liebe muss aus früheren Lebensphasen herrühren.

Th: Susanne, wir haben in den bisherigen Sitzungen viel über ihre gescheiterten Beziehungen, insbesondere die letzte, gesprochen. Ich möchte Sie einladen, noch ein Stück weiter in ihrer Lebensgeschichte zurückzugehen als bis zu Ihrem ersten Mann.
S: Was soll da sein? Kindheit und Jugend halt, ein paar Verliebtheiten halt. Ich war das einzige Mädchen unter drei Brüdern (zuckt die Achseln).
Th: Sie haben gerade, nachdem Sie „unter drei Brüdern“ gesagt haben, mit den Achseln gezuckt. Was könnte das bedeuten?
S: Weiß nicht – muss das denn was bedeuten?
Th: Wie war das denn so, einziges Mädchen mit drei Brüdern?
S: Zwei älter, einer jünger als ich.
Th: Und wie war das für sie?
S: Ach, meine ganze Kindheit war ich der Star. Die älteren Brüder haben mich von klein auf behütet und beschützt. Da bin ich heute noch die kleine Schwester.
Th: Und wie haben Sie Ihre Eltern erlebt?
S: Löst das meine Beziehungsprobleme, wenn wir darüber sprechen?
Th: Wir alle machen unsere ersten Beziehungserfahrungen in der Familie, in der wir aufwachsen. Und vieles davon nehmen wir unbewusst in spätere Beziehungen mit.
S: Also ich wüsste nicht… (lange Pause, schaut ins Leere)
Th: Wo sind sie gerade, Susanne?
S: Also…wie soll ich das sagen… (ihre Augen füllen sich mit Tränen)
Th: Sind Sie traurig?
S: ich glaube…mit unserem Vater war das so eine Sache. Als Kind war ich sein absoluter Liebling, seine Prinzessin. Er hat mir den Spitznamen „kleiner Vogel“ gegeben. Hallo, mein kleiner Vogel, hat er gesagt, wenn er nach Hause gekommen ist und hat mich in die Arme genommen. Hallo großer Vogel, hab‘ ich dann gesagt. Ach, war das schön…
Th: Und dann?
S: Dann bin ich in die Pubertät gekommen. Bin dick geworden. Dick und häßlich. Von anderen Mädchen in der Schule gemobbt worden. Und ich war so einsam. Mein großer Bruder war schon weg von zu Hause und hat in einer anderen Stadt studiert, der andere war nur mit seinem Computer beschäftigt, hat sich völlig in seinem Zimmer vergraben. Ich bin immer widerborstiger geworden. Und Papa hat damit überhaupt nicht umgehen können… (Pause) Jetzt wird’s wirklich traurig. Muss ich noch weiterreden?
Th. Natürlich nicht, nur, wenn Sie wollen. Möchten Sie eine Rückmeldung darüber haben, wie es mir geht, wenn ich Ihnen so zuhöre?
S: Ja…
Th: Ich bin gerade sehr berührt von diesem jungen Mädchen, das sich dick und häßlich und ungeliebt fühlt und für das niemand da ist, bei dem sie sich Trost holen kann. Und wenn ich mir vorstelle, ich wäre dieses junge Mädchen, diese junge Susanne, wenn ich mich in sie hineinversetze, dann kommt mir ein Gedanke: ich muss diese Jahre, bis ich erwachsen bin, irgendwie überstehen. Ich könnte mich irgendwie einfrieren oder versteinern lasse, und ganz heimlich in mir drin halte ich die Hoffnung am Leben, dass mich eines Tages jemand erlösen wird.
S: Dornröschen. Das war mein Lieblingsmärchen. Hundert Jahre schlafen und dann von einem wunderschönen Prinzen wachgeküsst werden (lächelt).

Eine treffende Metapher für die innere Erstarrung eines depressiven Menschen, der gleichzeitig die illusionäre Hoffnung auf eine rettende symbiotische Beziehung aufrechterhält. Haben Sie Susannes Abwertungen im Gespräch bemerkt? „Was soll da sein, Kindheit und Jugend halt“, „muss das denn was bedeuten“, „löst das meine Beziehungsprobleme“ – wir sind auf der zweiten Ebene, beim Problem, beim zugrundeliegenden Problem. Natürlich ist Susannes dritte gescheiterte Ehe ein großes Problem für sie, doch dahinter steckt diese tiefe innere Leere, dort, wo einmal Liebe gewesen ist.

Drei auf dieses Gespräch folgende Therapiesitzungen vergehen, ohne dass Susanne das Thema ihrer Kindheit und Jugend wieder aufgreift. Dann sagt sie:

S: Vor der heutigen Sitzung habe ich einen ziemlichen Bammel. Ich glaube, wir müssen auf diese meine Teenagerjahre genauer hinschauen. Es lässt sich nicht mehr vermeiden, ich denke dauernd dran, ich durchforste alte Fotos und vor allem lese ich in meinen Tagebüchern aus dieser Zeit. Darf ich Ihnen einen Auszug vorlesen?
Th: Na klar.
S. Da bin ich 14. „Ich hasse das alles, ich hasse mein ganzes Leben, ich hasse mich, aber vor allem hasse ich ihn. Diesen Mann, den ich nicht mehr Vater nennen will.  (ihre Stimme wird zittrig) Gestern hat er zu Mama gesagt: ich mag das ganze Weib nicht mehr! Das ganze Weib, das bin ich heute, wo ich gestern noch sein kleiner Vogel war!“ (bricht ab und weint bitterlich) Und es ist heute verdammt noch einmal genauso! Peter, mein Ex, hat mich am Anfang „Mäuschen Zuckermäuschen“ genannt, und heute sagt er nur mehr „He du“ und manchmal sogar „du blödes Weib!“
Th: Das tut weh.
S: Ja, das tut es. Aber noch viel mehr weh tut das „ich mag das ganze Weib nicht mehr“ von Papa. Es ist so schrecklich, das zu lesen. Es waren so furchtbare Jahre. Ich bin immer dicker geworden und habe nur mehr Schlabberpullover getragen.
Th: Und all diese furchtbaren Jahre waren Sie ganz allein mit Ihrem Kummer und Ihrem Schmerz.
S: Ja, das war ich. Und wie froh war ich, als ich meinen späteren ersten Mann kennengelernt habe! Jetzt wird alles gut, habe ich gedacht.
Th: Doch dann kam der alte Schmerz wieder.
S: Ja. Jahrelang habe ich versucht, ihn zu verdrängen, doch dann ist er wiedergekommen. Er ist immer wiedergekommen. Das heißt, jetzt ist es das vierte Mal in meinem Leben. Aber ich mag nicht mehr. Es ist genug.
Th: Was meinen Sie damit?
S: Ich mag dieses Leben nicht mehr.
Th: Sondern?
S: Was habe ich denn für Alternativen? Wieder warten, bis ein neuer Mann auftaucht und ich wieder hoffe, dass alles gut wird?
Th: Nein, natürlich nicht. Das ja nicht der Sinn unserer Therapie.
S: Jetzt frage ich: sondern?
Th: Den alten Schmerz loszulassen.
S: Wie soll das gehen?
Th: Genauer gesagt, die Hoffnung loszulassen, dass alles wieder gut werden kann. Dass die Vergangenheit wieder gut werden kann.
S: Kann sie das nicht?
Th: Nein. Die Vergangenheit ist vergangen, Sie können nicht in der Zeit zurückreisen, damit Ihr Vater Ihnen das gibt, was Sie von ihm gebraucht hätten. Die Gegenwart und die Zukunft können gut werden.
S (weint): Das klingt so hart: meine Teenagerjahre können nie mehr gut werden.
Th: Das ist auch hart. Nichts ist für uns Menschen so hart wie Hoffnung aufzugeben.
S: Da werde ich viel Zeit brauchen.
Th: Ja, das werden Sie. Und ich werde Sie dabei begleiten.
S: Das hört sich gut an. Trauen Sie sich das zu? Da wird viel Traurigkeit und auch Wut auf Sie zukommen.
Th: O ja, das traue ich mir zu.
S: Danke.

Jetzt kann Susanne das Problem erkennen: ihre innere Leere, das Loch, das durch den von ihr so erlebten Verlust der Liebe ihres Vaters entstanden ist. In dem geschilderten Gespräch hat sie zuerst ihre Alternativen abgewertet, ein paar Sätze lang hat sie geklungen, als ob sie im Suizid ihre einzige Möglichkeit sehen würde. Das kann an dieser Stelle einer Therapie mit einem depressiven Menschen ein heikler Punkt sein. Doch jetzt sieht sie eine Alternative: sich auf die Arbeit mit mir einzulassen und die Hoffnung aufzugeben, dass die Vergangenheit gut werden könnte. Erst dann können Vorstellungen von einem wirklich anderen Leben für sie sichtbar werden.

Ich überspringe jetzt einen Zeitraum von eineinhalb Jahren unserer Therapie. Susanne hat in dieser Zeit viel verändert. Sie ist zwei kurze Liaisonen eingegangen und hat schnell festgestellt, dass sie wieder Ausflüge in ihre alten Muster unternommen hat. Sie hat zu zwei Frauen eine tiefe und intensive Freundschaft entwickelt und mit ihnen einen Salsa-Kurs besucht, um die Freude an der Bewegung und an ihrem Körper zu entdecken. Immer wieder schwappt die Trauer um die vielen, vielen schwierigen und depressiven Jahre ihres Lebens in Wellen über sie hinweg. Jetzt geht ihre Therapie zu Ende, ein oder zwei Sitzungen liegen noch vor uns, und über die bevorstehende Trennung von mir empfindet sie einerseits Erleichterung, andererseits auch ein wenig Angst – wie das eben so ist beim Abschluss einer Therapie. In der bisher letzten Sitzung vor zwei Wochen erzählt sie:

S: ich bin sehr dankbar dafür, dass ich jetzt wirklich auf meinen eigenen Beinen stehen kann. Ich bin jetzt eine schöne und starke Frau, und ich mag mein Leben, so wie es ist. Das gilt auch für die ganzen 47 Jahre, die hinter mir liegen. Sie haben mich zu dem gemacht, was ich bin, und ich möchte es keinen Millimeter anders haben. Auch dafür habe ich wieder etwas bei Leonard gefunden, zwei Sachen. Den einen Ausspruch kennen Sie ja: ich habe Unmengen von Prozac und so weiter eingenommen und mich tief in die Philosphien der Religionen versenkt – und jetzt kommt’s: but cheerfulness kept breaking through (schluckt und dann mit zittriger Stimme): die Fröhlichkeit ist immer wieder durchgebrochen. Und wie ich ihn in Wien gesehen habe, 2013, da habe ich einen wirklich fröhlichen Menschen erlebt. Und so ist das jetzt auch in meinem Leben: cheerfulness keeps breaking through.
Th: Das ist sehr schön, Susanne. Ja, ich erlebe Sie als einen von Herzen fröhlichen und warmherzigen Menschen.
S: Danke. Das (Pause)…das berührt mich wirklich sehr, dass Sie das sagen (Pause). Darf ich Ihnen ein Lied vorspielen?
Th: Aber natürlich, gerne!
S: Es ist „Anthem“, das ist zu meinem Lieblingslied geworden (greift zu ihrem Handy und spielt das Lied). Das sagt alles aus, worum es wirklich geht. Ich habe es übersetzt und ein wenig nachgedichtet, wollen Sie es hören?
Th: Gerne, Susanne. Sehr gerne.

Die Vögel konnt’ ich singen hörn
Als der neue Tag begann
Fang doch von vorne an
Das sangen sie für mich
Bleib nicht bei dem
Was einmal war
Und was noch kommen wird
Solang die Glocke läuten kann
Vergiss, was du so gut geplant
Ein Spalt, ein Spalt zieht sich durch unser Sein
Da kommt das Licht herein.

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