Mein psychologisches Corona-Tagebuch: Einsamkeit

„Ich will nicht alleine alt werden!“ (24.03.2020)
Viele Menschen kämpfen in der gegenwärtigen Situation damit, nur mehr wenige unmittelbare physische Sozialkontakte zu haben. Der direkte Blick in die Augen, die Berührung der eigenen Haut durch die Haut eines anderen Menschen, Umarmungen, ja, auch der Händedruck, all das fehlt uns mit jedem Tag mehr. Doch besonders schwierig ist es für Menschen, die alleine leben.
Das ist die Situation von M., einer Frau von Anfang 50, die sich vor drei Tagen an mich gewandt und um ein ausführliches Telefonat gebeten hat. Dieses Gespräch ist
ihr erster Termin. Wir kennen uns noch nicht.

M.: Ich möchte gerne vorausschicken, dass ich nicht weiß, ob ich eine Therapie brauche. Ich habe zwar schon öfter überlegt, mir eine Begleitung zu suchen, aber ich glaube nicht, dass ich psychisch krank bin.
Therapeut: Auf welchem Weg wollten Sie denn Begleitung haben, wenn Sie diese Überlegungen angestellt haben?
M.: Ich weiß ja nicht, was Sie von dem Begriff „midlife crisis“ halten. Oder ob es das bei Frauen überhaupt gibt, man hört und liest das ja immer nur von Männern, die sich dann eine Jüngere suchen und so.
Therapeut: Ich kann auch mit diesem Schlagwort nicht viel anfangen. Was ich höre, ist, dass Sie in der Mitte Ihres Lebens stehen.
M.: Genau. Ich bin 53, bin geschieden und habe zwei erwachsene Töchter. Grundsätzlich ist mein Leben okay, oder war es zumindest bis zur Corona-Krise. Ich lebe alleine, habe ein paar gute Freundinnen und keine Beziehung, schon länger nicht mehr. Ich bin Lehrerin, und das bin ich gerne. Mit allem Auf und Ab, das halt zum Schulalltag gehört.
Therapeut: Meiner Erfahrung nach, auch aus meiner persönlichen, ist ja Fünfzig oft ein Alter, wo einem klar wird, dass man nicht mehr ewig lange Zeit vor sich hat. Und wo man sich fragt, was man mit der Zeit, die einem noch bleibt, Sinnvolles anfangen will.
M.: Genau. Genau das ist das Thema, wo ich mir schon öfter überlegt habe, mir Unterstützung zu suchen. Und Sie sind mir von einer Freundin empfohlen worden. Und jetzt hat sich das Ganze eben deutlich verschärft, in dieser Corona-Sache.
Therapeut: Wie erleben Sie denn diese Situation, in der wir alle momentan drinstecken?
M.: Na ja, die Schule ist geschlossen. Ich muss natürlich schon Unterrichtsmaterialien vorbereiten und elektronisch aufbereiten. Aber ich habe viel Zeit. Ich lebe allein, wie schon gesagt, in einer kleinen Wohnung mitten in der Stadt. Meine Töchter, die ich sonst oft gesehen habe, und vor allem mein kleines Enkelkind, die sehe ich jetzt nicht. (Pause, man hört M. seufzen)
Therapeut: Ein tiefer Seufzer. Das hört sich schwer für Sie an.
M.: Ja, sehr. (lange Pause)
Therapeut: Ich kann gut verstehen, wie es Ihnen geht. Ich vermisse meine drei Enkelkinder auch sehr. Und das Alleinsein kann in so einer Situation sehr bedrückend sein-
M.: Leben Sie auch alleine, wenn ich das fragen darf?
Therapeut: Sie dürfen, gerne. Nein, mit meiner Partnerin zusammen.
M.: Das muss schön sein, in so einer Zeit jemanden zu haben.
Therapeut: Ja.
M.: Das ist es ja, was mich schon länger bedrückt hat, dieses Alleinleben. Wie gesagt, ich habe Freunde, meine Töchter, mein Enkelkind, alles schön, aber ich will mein Leben mit jemandem teilen. Seit 12 Jahren lebe ich jetzt allein, und wieviel Zeit bleibt mir noch? Ich will nicht alleine alt werden!
Therapeut: Das klingt nach einer sehr selbstbewussten Entscheidung.
M.: Ja? So selbstbewusst komme ich mir im Moment nicht vor.
Therapeut: Sie haben gesagt, dass Sie sich mit dem Thema des Lebens alleine schon länger beschäftigen.
M.: Ja, natürlich, aber ich habe es immer vor mir hergeschoben. Wenn diese Zeit jetzt für irgendwas gut ist, dann dafür, dass mir das jetzt klar geworden ist: ich will nicht weiter allein leben!
Therapeut: Ich finde das gut, dass Sie Ihre Bedürfnisse und Wünsche so klar definieren.
M.: Na ja, ein bisschen Herzklopfen habe ich schon dabei. Ich denke mir: ja, jetzt spuckst du große Töne, aber tun wirst du ja doch nix.
Therapeut: Sie haben jetzt sprachlich etwas Interessantes gemacht: Sie sind vom „Ich“ zum „Du“ gewechselt, so als ob Sie zwei Personen wären. Eine, die Ihnen selbst Anweisungen oder vielleicht so etwas wie eine Prophezeiung erzählt, und eine, die dem zuhört.
M.: Ja.
Therapeut: Und diese eine, die da zuhört – darf ich Sie nach Ihrem Vornamen fragen?
M.: Klar. Miriam.
Therapeut: Diese eine, die da zuhört: könnte das eine kleinere, eine jüngere Miriam sein als die, die Sie jetzt mit 53 sind?
M.: (Pause) Könnte sein.
Therapeut: Wie alt ist die denn, diese jüngere Miriam, die sich da anhören muss: jetzt spuckst du große Töne, aber tun wirst du es ja doch nicht?
M.: Klein. Ziemlich klein. – Wollen Sie wissen, was mir gerade einfällt?
Therapeut: Klar!
M.: Als Kind, so mit 6 oder 7, wollte ich Gitarre lernen, hab auch Unterricht bekommen. Was ich nicht bedacht habe, war, wie anstrengend das sein kann und wie weh einem die Finger dabei tun können. Also hab ich’s wieder bleiben lassen. Und das hat meine Mutter mir meine ganze Kindheit hindurch vorgehalten. Oder eigentlich auch noch als Teenager. Sogar bei meiner Scheidung hat sie gesagt: das habe ich immer befürchtet, dass dir die Ausdauer fehlt, eine Ehe durchzuhalten.
Therapeut: Autsch! Und wie war das für Sie?
M.: Ärgerlich. Kränkend. Und es hat mir Angst gemacht, dass sie Recht haben könnte.
Therapeut: Hat sie?
M.: Wie meinen Sie das? Was meine Ex-Ehe betrifft?
Therapeut: Nein. Was Ihre Zukunft betrifft.
M.: Da gibt’s zwei Seiten in mir. Eine sagt: sicher nicht. Und die andere: vielleicht schaffe ich das ja wirklich nicht. Wird mich wirklich wer wollen?
Therapeut: Wollen Sie eine Idee dazu von mir hören?
M.: Dazu rede ich doch mit Ihnen (lacht)!
Therapeut: Die eine Seite könnte die erwachsene Miriam sein, die sagt: sicher finde ich wen. Das traue ich mir zu. Und die andere, das ist die kleine Miriam, die sagt: die Mama könnte ja doch recht haben. So war es beim Gitarre lernen, so war es…
M.: …im Tanzkurs. Beim ersten Studium, das ich wieder aufgegeben habe.
Therapeut: Sie haben Sachen ausprobiert, und manche haben für Sie nicht gepasst. Dann haben Sie sie wieder aufgegeben, und das ist ja sinnvoll. Gibt es auch Sachen, an denen Sie drangeblieben sind?
M.: Na klar, die Erziehung meiner Kinder zum Beispiel!
Therapeut: Sehr gut! Also es hat Erfolge und Niederlage in Ihrem Leben gegeben. Wie in jedem Leben.
M.: Und jetzt?
Therapeut: Und jetzt, in dieser schwierigen Lebenssituation, wird Ihre innere Mutter aktiv. Klar, denn von der haben Sie, wie die meisten von uns, auch viel Hilfreiches für schwierige Situationen mitbekommen. Nur dieses „jetzt spuckst du große Töne“, das ist nicht so hilfreich. Da braucht die kleine Miriam in Ihnen vielleicht ein wenig Unterstützung.
M.: Genau! Genau das ist es, was ich mir bei all meinen Überlegungen, mir Hilfe zu suchen, gedacht habe. Ohne dass ich es so ausdrücken hätte können. (Pause) Und, glauben Sie, dass Sie das der kleinen Miriam geben können?
Therapeut: Ich denke schon. Ich habe schon sehr vielen kleinen Mädchen und Jungs dabei geholfen, erwachsen zu werden.
M.: Meinen Sie das im übertragenen oder im wörtlichen Sinn?
Therapeut: Beides.
M.: Und Sie unterstützen mich auch nach dieser Krise?
Therapeut: Klar. Jetzt am Telefon, und dann wieder bei mir in der Praxis, von Angesicht zu Angesicht.

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