10. PRAXIS DER PSYCHOTHERAPEUTISCHEN ARBEIT MIT TRÄUMEN

Workshop auf der 2. Fachtagung
‘Tage Tiefenpsychologischer Transaktionsanalyse’
Wels, September 1995

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Die Grundzüge meines Verständnisses von Träumen als verschlüsselten Botschaften des Unbewußten habe ich bereits im vorhergehenden Leitvortrag skizziert:

  • 1. Träume bilden Versuche des Unbewußten ab, innere Konflikte zu lösen. Diese Konflikte sind lebensgeschichtlich früh entstanden, sind aber durch aktuelles Tagesgeschehen und/oder psychotherapeutische Verläufe neu aktualisiert.
  • Zum Beispiel: ich träumte lange Zeit hindurch immer wieder, daß ich von neuem zur Reifeprüfung antreten müsse, weil sie mir im nachhinein aberkannt worden sei. Diese Träume traten im Zusammenhang mit schwierigen Anforderungen in meinem Leben auf, korrespondierend mit meiner seinerzeitigen großen Angst, bei der Reifeprüfung zu versagen; und korrespondierend natürlich mit früheren Ängsten, zu versagen - einem ganz entscheidenden Thema in meiner Kindheit.
  • 2. Die innere Logik von Träumen entspricht der altersgemäßen Logik des Kindes zum Zeitpunkt des Konfliktes, den der Traum zu lösen versucht. Im Fall meines eigenen Beispiels heißt diese Logik: es gibt nichts, was wirklich endgültig gelöst ist. Es besteht immer die Gefahr, daß ein Erfolg (wie die Reifeprüfung) im Nachhinein aberkannt wird und man sich der Anforderung von neuem stellen muß.
  • 3. Träume haben zwei Aspekte: den der Wiederholung und den des Wunsches nach Heilung. Wieder in meinem eigenen Beispiel: es wiederholt sich zum soundsovielten Male die Anforderung, eine schwierige Aufgabe zu meistern. Und zugleich drückt sich die Hoffnung aus, daß es dann endlich vorbei sein werde.
  • 4. Insbesondere im psychotherapeutischen Kontext, im Kontext von Übertragung und Gegenübertragung, kommt diesem ‘Hoffnungs-’ oder ‘Heilungs-’ Aspekt große Bedeutung zu.

Beschäftigen wir uns an dieser Stelle näher mit Übertragung und Gegenübertragung und ihre Rolle in der Traumanalyse.

Menschen übertragen ihre traumatisierenden Beziehungserfahrungen aus früheren Lebensabschnitten auf andere Menschen, mit denen sie in der Gegenwart in Beziehung treten oder treten wollen. Der ursprüngliche unbewältigte Konflikt, der innerlich fixiert, festgehalten ist, drängt danach, sich zu reproduzieren. Das ist ein Mittel, um die Erinnerung abzuwehren. Wenn ich mit meiner Frau in der Gegenwart auf ähnliche Art und Weise im Konflikt liege wie seinerzeit mit meiner Mutter, dann bin ich mit diesem aktuellen Konflikt so beschäftigt, daß ich an den alten, schmerzhaften, ungelösten nicht erinnern muß. Dasselbe passiert in der Psychotherapie: KlientInnen übertragen auf die Beziehung zum/r Therapeuten/in ihre frühere Beziehungserfahrungen. Das geschieht außerhalb des Bewußtseins, aber es geschieht machtvoll und unwiderstehlich. Und es hilft, die ursprünglichen Traumatisierungen zu erkennen, bewußt zu machen und zu lösen.

Dieser Vorgang ereignet sich nicht nur im wachen Zustand der Therapiestunde, sondern er bildet auch einen wesentlichen Bestandteil der Träume des/der Klienten/in. Und ebenso ist die Art und Weise, wie er/sie die Träume erzählt, Bestandteil der Übertragungsbeziehung.

Die Träume, die ein/e KlientIn erzählt, sind ja bereits vorsortiert - er/sie erinnert nicht alle Träume, sondern nur solche, die ihm/ihr - zumindest unbewußt - bedeutungsvoll für mich als Therapeuten vorkommen. Und auch die bewußte, halbbewußte und unbewußte Zensur beim Erzählen der Träume hat mit der Übertragung auf mich zu tun. Während meiner eigenen Analyse kann ich mich erinnern, des öfteren aus einem Traum aufgewacht zu sein, in dem mein Analytiker eine Rolle spielte - und beim Aufwachen spontan gedacht zu haben: ‘Den Traum erzähle ich ihm bestimmt nicht.’

In dem Fallbeispiel, das ich Ihnen später vorstellen werde, werden wir auf diesen Gesichtspunkt noch zu sprechen kommen.

Theoretisch ist die Sache damit relativ klar: indem wir sowohl den Übertragungskontext des Erzählens als auch die Übertragungsinhalte des Traums analysieren (zuerst einmal für uns selbst), kommen wir sowohl dem Wiederholungs- als auch dem Heilungsaspekt auf die Spur. Wir erkennen damit einerseits, was der Klient unter Einbeziehung unserer Person an traumatischer Lebenserfahrung wiederholt - und andererseits, was er idealisierend und wunscherfüllend von uns möchte.

Aber, wie gesagt, das ist die Theorie. Wie kann die Traumanalyse in der Praxis aussehen? Wie kann man mit diesem komplexen, verdichteten, verschobenen, kompliziert verschlüsselten Material, mit diesem rätselhaft verwobenen Teppich aus frühen Geschichten, Tagesresten, Liebes- und Haßerklärungen an den/die Therapeuten/in, aus Hilferuf, Trotz, Ironie, Erotik, Todesangst, Hoffnung und Verzweiflung genügend respektvoll und doch genügend zielgerichtet umgehen?

Das Hilfsmittel dafür ist nicht primär die Kognition, der Verstand oder die Kenntnis spezifischer Traumsymbole, sondern unsere Intuition - unsere Art, uns auf die Beziehung zum/r Klienten/in einzulassen, unsere Gegenübertragung.

Wenn KlientInnen übertragen, dann tun sie das nicht nur so nebenbei und beiläufig, sondern entwickeln mit ihren Projektionen einen starken, ihnen nicht bewußten Sog, der bewirken soll, daß das Gegenüber sich ihren projizierten Wünsche anpassen soll. Die Impulse und Gefühle, die dann beim Therapeuten entstehen, nennt man Gegenübertragung.

Diese Impulse aufzunehmen, uns selbst und unsere durch Eigentherapie, Supervision und Intuition geschulte Wahrnehmung als Instrument für die Übertragung des Klienten zu benutzen, das ist die Methode der Wahl in der therapeutischen Beziehung. Dann erzählt uns unser Impuls zur Langeweile eine Menge darüber, wie der Klient als Kind kein Interesse bei seinen Eltern fand. Unsere Angst vor ihnen erzählt uns etwas darüber, wie sie es gelernt haben, ihre eigene Angst dahinter zu verstec­ken, selber jemandem Angst einzujagen.

Wenn ein/e KlientIn also einen Traum erzählen, dann ist der erste Schritt der, sich auf die intuitiven Gegenübertragungsgefühle und -impulse einzulassen.

Nehmen wir als Beispiel einen der Träume, die ich im Leitvortrag dargestellt habe.

Frau A. ist auf einem riesigen Schiff, das die Grachten von Amsterdam befährt. Das Schiff ist viel größer, als die Schiffe, die in Amsterdam wirklich fahren können. Es sind Tausende Leute da, auch ihre Familie. Überall auf diesem Schiff sind große und kleine Wohnungen, die numeriert sind, aber es ist ihr unmöglich, sich zu orientieren. Schließlich gelingt es ihr unter vielen Mühen doch, sich eine Wohnung einzurichten, aber sie ist sich überhaupt nicht sicher, ob ihr die überhaupt zusteht. Es bleibt weiterhin ein einziges Herumirren, und verwirrt wacht sie auf.

Wenn ich mir diesen Traum anhöre, entsteht in mir als erstes ein emotionelles Bild von Hilflosigkeit, Ratlosigkeit. ‘Vergebliche Liebesmühe’ fällt mir ein, Bilder von riesengroßen Türen mit rätselhaften Lettern darauf tauchen auf. Kurzfristig gibt es so etwas wie Hoffnung, aber dann ist es wieder das gleiche wie vorher. Da gibt es etwas, das viel zu groß ist, überhaupt alles ist sehr groß, auch die Menschen. ‘Wer bin ich?’, ‘Wo gehöre ich hin?’, ‘Was soll das alles?’ und ‘Warum hilft mir denn keiner, ich bin ja noch so klein!’ sind Sätze, die mir dazu einfallen.

Diese ersten Impressionen bilden dann die Grundlage meiner Deutung des Traumes - daß es um ein kleines Mädchen geht, daß sich in einer für sie viel zu großen und viel zu verwirrenden Welt verzweifelt zu orientieren versucht, daß sich dann irgendwie scheinbar zurechtfindet - aber die trotzdem keine wirkliche Zugehörigkeit zu sich und ihrem Leben finden kann.

Das ist der, wie ich es genannt habe, ‘Wiederholungsaspekt’ des Traumes: der unverarbeitete kindliche Konflikt, keine wirkliche Identität und keine wirkliche Zugehörigkeit zu haben, überfordert zu sein, wird verschlüsselt und symbolhaft wiederholt.

Zugleich bietet mir der Schlüssel der Gegenübertragung aber auch Zugang zum Tor des ‘Heilungsaspekts’: Frau A. sucht jemanden, eine Elternfigur, die sie sozusagen an der Hand nimmt und ihr hilft, sich in dieser Welt zurechtzufinden.

Wenn ich diese Position in der Übertragungs-Gegenübertragungsbeziehung einnehme und von ihr aus mit ihr den Traum analysiere, deute und bearbeite, dann nehme ich direkten verändernden Einfluß nicht auf ihr Bewußtsein, sondern auch auf ihr Unbewußtes.

Ich möchte Ihnen an dieser Stelle eine kurze Übung vorschlagen, um sich ein wenig auf Ihre Gegenübertragungsgefühle einzulassen.

Stellen Sie sich vor, Sie wären mein Therapeut oder meine Therapeutin, und ich erzähle Ihnen - als Klient - einen Traum. Hören Sie einfach zu, belasten Sie sich nicht damit, sich alle Details zu merken oder schnell zu Deutungen zu kommen. Gehen Sie einfach mit Ihren spontanen intuitiven Einfällen.

 

Ich fahre im Zug, und ich bin auf der Flucht. Der Teufel ist hinter mir her und will mich erwischen. Er ist ganz nah, und kann mich immer wider fast greifen. Schließlich komme ich auf der Flucht im hintersten Waggon an, der eine Mischung aus Gepäckwagen und Speisewagen darstellt. Es gelingt mir, mich in einen Kaugummi zu verwandeln, trotzdem ist mir klar, daß mich der Teufel finden wird. Aber da im Gepäckwagen ist ein großer Bär, der mir anbietet, mich in seinem Fell zu verstecken, was ich auch tue. Der Teufel ahnt etwas und verlangt von dem Bären, an ihm eine Leibesvisitation vorzunehmen. Da wird der Bär furchtbar wütend und verabreicht dem Teufel eine schallende Ohrfeige, so daß dieser durch mehrere Waggons weggeschleudert wird. Plötzlich sind an diesem vorher letzten Waggon noch andere Waggons angehängt, und die Hilfe des Bären ermöglicht mir - immer noch als Kaugummi - in diese Waggons zu flüchten, wo ich genügend Zeit haben werde, mich unauffindbar zu verstecken, bis sich der Teufel von dem Schlag erholt hat und zurückkommen wird. Erleichtert wache ich auf.

 

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Ich möchte Ihnen meine Arbeitsweise mit Träumen an der Fallgeschichte eines meiner Patienten erläutern; diese Geschichte zeigt auch in sehr anschaulicher Weise, wie über die Arbeit mit dem Unbewußten allmählich Veränderungen in der Persönlichkeit und im Verhalten vor sich gehen - die sich dann wieder in veränderten Träumen ausdrücken. Zugleich möchte ich darauf hinweisen, daß ich um der Verständlichkeit willen den Prozeß oft sehr verkürzt darstelle, Elemente aus den Träumen auslasse, die oft sehr verschlüsselt und unzugänglich waren, daß der Deutungs- und Analyseprozeß oft viel Zeit in Anspruch nahm und mit viel Vor und Zurück verbunden war. Der Vorgang der Entwicklung der eigenen Gegenübertragung, den ich Ihnen gerade nahezubringen versucht habe, ist in dieser Schilderung oft weggelassen oder auf zwei, drei Worte verkürzt. In Wirklichkeit nahm er aber viel Zeit in Anspruch und meine Deutungen gingen nicht so knapp und prägnant vor sich, wie es im Text scheinen könnte, sondern bestanden aus einem langwierigen Prozeß des Abwägens, Ausprobierens und auch des gemeinsamen Entwickelns.

 

Herr J. ist seit ziemlich genau zwei Jahren bei mir in Einzeltherapie; er ist Anfang 30, lebt alleine und hatte auch noch nie eine längere Beziehung. Er kommt aus bäuerlichen Verhältnissen und ist in einer sehr rigiden, lieblosen Welt aufgewachsen. Er hat einen kaufmännischen Beruf; er kommt in Therapie, weil er ein Jahr vorher eine Stellung aufgegeben hatte, weil seine Versagensängste so groß waren, daß ihm die Arbeit nicht mehr möglich war. Nun hat er nach einem Jahr der Arbeitslosigkeit eine neue Stelle und große Angst, er könne sie wieder verlieren, weil er Fehler machen könne. Tatsächlich hat er sich nie etwas Gröberes zu schulden kommen lassen, aber seine Angst lähmt ihn so, daß er sich nur sehr schwer auf die Arbeit konzentrieren kann und dadurch sehr langsam ist - was wiederum seine Angst verstärkt.

Das erste Jahr der Therapie gestaltet sich sehr zäh, die Versagensängste sind fast nicht antastbar, und schon gar nicht über den Verstand. Andere Problembereiche - wie seine Einsamkeit, seine Kontaktschwierigkeiten - sind so gut wie kein Thema. Das erscheint ihm im Vergleich zu seiner Angst in der Arbeit geringfügig. An seine Kindheit hat er wenig bis gar keine Erinnerungen, daß seine Eltern streng waren und hohe Anforderungen stellten, bagatellisiert er (‘Das wird ja anderen auch nicht anders gehen’).

Gleichzeitig beschäftigt ihn eine ungeheure Angst, irgend jemand könnte merken, das etwas mit ihm ‘nicht stimmt’, man könnte ihn beobachten, wenn er zur Stunde ins Institut kommt und ähnliches.

 

1. Der Konflikt wird bewußt

Nach etwas mehr als einem Jahr erzählt Herr J., daß er vermehrt träume und fragt mich, ob er die Träume aufschreiben und mitbringen solle. Ich stimme dem zu.

Ab da erzählt er fast in jeder Stunde mindestens einen Traum, wobei seine Haltung dazu anfangs eine vollständig passive ist: er erzählt, und ich soll ihm sagen, was der Traum bedeutet. Erst viel später fängt er an, eigene Ideen und Deutungen dazu zu entwickeln.

Im allerersten Traum, den er berichtet, versucht ein Betrunkener, in J.s Wohnung einzudringen.

Meine - vorsichtig geäußerte - Vermutung, ob er die Therapie so erleben könne wie ein Eindringen in seinen innersten Bereich, noch dazu von jemandem, der anscheinend nicht recht bei Sinnen ist, weist er entschieden zurück. Der nächste Traum weist aber in eine ganz ähnliche Richtung:

J. ist auf einem hohen, steilen Dach und hat große Angst und das Gefühl: es geht nicht so schnell, ich kann nicht.

Meine Deutung dazu kleide ich in eine Frage: „Könnte dieser Traum ausdrücken, daß ich Sie auf ein hohes, steiles Dach führe und Sie das Gefühl haben, es geht Ihnen zu schnell, Sie sind überfordert?“

Dieser Frage stimmt er vorsichtig zu, und auch meiner Feststellung, daß es sich dann möglicherweise um eine Wiederholung seines Lebensthemas ‘Überforderung’ handeln würde.

Anschließend folgt eine Reihe von Träumen, in denen sich die Überforderung  abbildet: immer wieder ist in verschiedener Form seine Arbeit und die Unzufriedenheit seiner Vorgesetzten mit ihm das Thema - und immer wieder taucht in verschiedenster Form eine große Anstrengung auf, die er zu bewältigen hat.

Dazu drei Beispiele:

J. ist in einem Lokal bei einer Firmenfeier;. der Chef kritisiert einen Mitarbeiter (der auch Betriebsrat ist), sagt dann etwas zu J., daß dieser zuerst nicht verstehen kann, dann sagt er:’ Das geht nicht, daß Sie sich am Gespräch nicht beteiligen, Ihre Kündigung wird überlegt’.

J. sitzt allein am Tisch, die anderen sitzen 10 m weit weg; der Chef ist provokant. Eine Geldtasche wird ihm zurückgegeben, die aber gar nicht seine ist. Darin sind kleine, dreckige Bälle mit Reißverschluß. Er läßt das Ganze unauffällig unter dem Tisch verschwinden.

Neben dem deutlich transparenten Angstthema (die Kündigung droht, die anderen distanzieren sich von ihm) taucht hier zum ersten Mal ein bedeutsames anderes Element auf: es gibt etwas dreckiges, das er verbergen muß, etwas, das ein Makel ist und das die anderen nicht sehen dürfen. Aber - und das ist besonders bemerkenswert: jemand anderer hat es ihm gegeben! Damit beginnt er zum ersten Mal, nicht ausschließlich - wie es seine Eltern getan haben und sein Vorgesetzter immer noch tut - die Schuld bei sich selbst zu suchen.

 

Ganz ähnlich auch ein weiterer Traum:

J. ist in seiner Arbeit und will zusammenräumen, aber der Müll ist in einem durchsichtigen Müllsack. Er stellt beunruhigt fest, daß es schon 11 ist und er immer noch nichts verkauft hat.

Klar hier die Angst vor dem Versagen - deutlich aber auch hier wieder der ‘Müll’, den er zusammenräumen muß: er muß sich mit dem Mist beschäftigen, den andere angerichtet haben (was für ein deutliches Bild für den psychotherapeutischen Prozeß); und er hat große Angst, jeder könnte diesen Müll, diesen Makel sehen; er ist ja in einem durchsichtigen Sack.

 

Im dritten Traum kommt noch ein Element dazu, das in vielen späteren Träumen auftauchen wird: Bilder aus seiner ländlichen Heimat, die allmählich mehr und mehr den Bezug zu seiner Herkunft, d.h. den Zusammenhang seiner Probleme mit seiner Lebensgeschichte und seiner Kindheit auf dem Land herstellen.

Vor einem Berg stehen ein Pferdewagen und noch ein Wagen, auf den Holz aufgeladen wird; eine Frau spannt zwei Pferde an und führt sie zu dem anderen Wagen, um umzuladen. Der andere Wagen kommt nur mühsam ein Stück den Berg hinauf, fast wäre es nicht gegangen. Nach dem Umladen kommen die Pferde fast nicht mehr weg.

Hier drängt sich als Assoziation die Last auf, die ihm aufgeladen wird, mehr noch, die von einer Frau - möglicherweise seiner Mutter - umgeladen wird, sodaß der andere, sein Wagen fast nicht mehr weiterkommt.

Die Träume machen also etwas deutlich, was ihm im wachen Bewußtsein vorher in der Therapie völlig unzugänglich war: ihm wurde etwas aufoktroyiert, das sein Leben unendlich schwer und mühsam gemacht hat, das aber gar nicht Seins ist. Einerseits hat das zu tun mit seiner Herkunft, also seiner Kindheitsgeschichte, andererseits muß er das sorgfältig vor allen Menschen verbergen.

Prompt verstärkt sich auf diese Deutungen - die von ihm auch als sinnvoll akzeptiert werden - in den nächsten Träumen der Widerstand gegen die Therapie:

Er sitzt nach einem Gasthausbesuch im Auto, nur mit der Unterwäsche bekleidet, fährt rückwärts in einen Gastgarten und kann nicht mehr bremsen.

 

Offensichtlich befürchtet er, von mir in der Therapie entblößt, bis auf die Wäsche ausgezogen zu werden - und dann rückwärts, also in die Vergangenheit, in die Kindheit, geschickt zu werden, was er dann nicht mehr bremsen kann.

Anschließend folgt der Traum, den ich schon im Leitvortrag geschildert habe:

J.  fährt mit einem Bus zur Arbeit, kommt aber nicht hin, sondern zur Endstation an einem Berg, muß zu Fuß weitergehen und kommt zu einer Baustelle, aus der er nicht mehr herausfindet, weil der Ausgang verstellt ist. Ein Arbeiter hilft ihm heraus und will dafür Geld. J. sagt, er sei nicht bereit, über 2000,- Schilling zu zahlen und gibt ihm schließlich gar nichts.

 

Fassen wir diese erste Traum-Therapie-Phase unter den eingangs genannten Aspekten zusammen:

Die frühen Konflikte von Herrn J., überfordert und rigid eingeschränkt worden zu sein, bilden sich deutlich in diesen Träumen ab. Es geht um Angst, Aussichtslosigkeit, etwas Fremdes, das ihm aufgebürdet worden ist. Dieser Konflikt wird in den Träumen immer und immer wiederholt.

Das allein zu deuten und J. plausibel zu machen ist noch nicht das große Kunststück. Wo aber verbirgt sich der Heilungs-, der Hoffnungsaspekt? Was will er in der Übertragung von mir haben?

Zum einen bittet er mich nahezu immer wieder mittels seiner Träume, ihn nicht zu überfordern, ihm Zeit zu geben, ihn nicht ‘ohne Bremsen’ auf seine Reise in die Vergangenheit zu schicken. Und zum andern taucht immer wieder der Wunsch nach höchster Vertraulichkeit, höchster Diskretion auf: niemand anderer soll die schmutzigen Dinge sehen, mit denen er sich befassen muß.

Hier wird deutlich der Wunsch nach einem gewährenden, erklärenden und vor allem ihn nicht beschämenden Vater sichtbar. Und so gehe ich in dieser Phase mit ihm und vor allem seinen Träumen um: daß ich meine Deutungen sehr vorsichtig formuliere, ihm viel Platz und Zeit lasse, sie nachzuvollziehen, sie zu ergänzen oder ihnen zu widersprechen, daß ich viel Verständnis für seine Belastung, seine Angst und vor allem seine Angst vor dem Entdeckt- und Beschämtwerden formuliere. Auf diesem Boden kann das Unbewußte mehr und mehr von diesem so schamhaft Verborgenen freigeben: die Träume, die ich geschildert habe, sind deutlicher und deutlicher geworden.

In diesem Schutz, den er durch sein allmählich wachsendes Vertrauen in die Beziehung zu mir spürt, entwickeln sich die ‘traumhaften’ Dinge zusehends dramatisch.

2. Die Aggression wird zum Thema

Nach einem Schiurlaub, den Herr J. allein verbracht hat und in dem er seine Einsamkeit und seine Kontaktunfähigkeit schmerzlicher denn je gespürt hat, erzählt er drei Träume:

Im ersten erzählt er einem Bekannten, daß er sich für die Tätigkeit des roten Kreuzes interessiere. Daraufhin teilt ihn dieser, ohne J. zu fragen, sofort für Wochenend- und Nachtdienst ein.

Im zweiten Traum ist er in einer Disco, in der er sich langweilt. Beim Hinausgehen stellt sich heraus, daß der Eintritt übermäßig hoch ist, worauf er sich entschließt, zu bleiben, wenn er schon zahlen muß.

Im dritten Traum schließlich sitzen vier Männer mit Koffern in der Stube in seinem Elternhaus, die sehr freundlich sind und sich als Versicherungsvertreter ausgeben. Er hat jedoch den deutlichen Verdacht, es könnten Diebe oder Trickbetrüger sein.

Es würde sich lohnen, die diffizile Symbolik dieser Träume ausführlich zu entschlüsseln - zum Beispiel, was Rotes Kreuz, Disco und Versicherungsvertreter bedeuten könnten, was es heißt, daß diese vier Männer in seinem Elternhaus sitzen. Aus Gründen der Knappheit und um den roten Faden nicht allzusehr aus den Augen zu verlieren, will ich hier nur auf einen Punkt fokussieren: in allen drei Träumen wird J. ausgenützt, ist er zu gutgläubig; meine damals geäußerte Vermutung, daß das eine innere Rechtfertigung für seine Einsamkeit im Urlaub war - wozu mit Menschen Kontakt aufnehmen, wenn sie einen doch nur betrügen - kommt Herrn J. sehr plausibel vor, da er diese Rechtfertigung im Grunde ja auch im wachen Bewußtsein vornimmt.

In der weiteren Arbeit an diesen Träumen, die noch etwa zwei Therapiestunden in Anspruch nimmt, weise ich J. auf zwei Punkte hin:

  • zum einen, daß dieser Glaubenssatz - ‘ich meide Menschen lieber, denn sie nützen mich aus und betrügen mich’ - wohl mit seiner Geschichte, seiner Kindheit, seinen Eltern zu tun haben müsse,
  • und zum anderen, daß ja statt Resignation und Rückzug auch aggressive Gefühle eine mögliche Reaktion auf das Ausgenützt- und Betrogenwerden seien.

Prompt tauchen beide Elemente in den nächsten Träumen auf:

In J.s Heimatort findet ein großes Fest statt; J. steht in der Gegend herum und redet mit zwei Leuten. Dabei lehnt er sich an ein Geländer und klemmt einer Frau den Finger ein. Dann wechselt die Szene in seine jetzige Wohnung in der Stadt, wo alles sehr schmutzig ist und Essensreste am Boden liegen. J. denkt sich: ‘Das wird viel Arbeit, da fange ich heute nicht mehr damit an.’

Ein faszinierender Traum: beide Elemente sind da, von denen ich vorher gesprochen habe - sein Heimatort als Symbol für den Ursprung seiner Probleme, und die Aggression. Einer Frau wird der Finger eingeklemmt - wir haben diese unbekannte Frau bereits als Verschlüsselung für seine Mutter kennengelernt. Noch geschieht die Aggression scheinbar unabsichtlich und zufällig, aber auch das scheint bereits zu viel für sein Unbewußtes: ‘Das wird viel Arbeit, da fange ich heute nicht mehr damit an.’  Und zugleich kehrt auch das Element von Schmutz und Müll wieder, den er wegräumen muß. Noch eine Symbolik findet sich in dem Traum: der Anfang ist in seinem Heimatort, da, wo er aufgewachsen ist, aber ausbaden muß er die Probleme da, wo er jetzt lebt, nämlich in seiner Gegenwart.

 

Im nächsten Traum ist J. wieder daheim in seinem Elternhaus. Er sieht durchs Fenster, daß der Krieg ausgebrochen ist. Panzer walzen alles nieder und rollen aufs Haus zu. J. empfindet unbändige Wut auf die Politiker, die ihr Versprechen gebrochen habe.

Deutlicher ist es jetzt kaum mehr möglich: in seinem Elternhaus herrscht Krieg, und Schuld sind ‘die Politiker’ - eine kaum mehr verschlüsselte Metapher für Elternfiguren, für seine Eltern, die ihr ‘Versprechen’ gebrochen haben, das heißt, ihre Verantwortung, für ein optimales Aufwachsen ihres Sohnes zu sorgen, nicht wahrgenommen haben.

Wie schnell hat sich das Bild gewandelt: von der passiven Resignation über ein anonymes Betrogenwerden zu aktiver Wut auf Eltern, die einen Krieg vom Zaun gebrochen haben.

 

Den nächsten Traum deutet J. bereits selbst:

Er muß in seiner Arbeit für einen Mafiaboß einen Safe mit Geheimdokumenten öffnen. Im Saferaum sitzt bereits ein Rechtsanwalt, der den Safe schon aufgebrochen hat. J. ist wütend und sagt: ‘Sie haben mich in Gefahr gebracht!’, worauf der Rechtsanwalt entgegnet: ‘Den hätten wir sowieso aufgemacht!’

J.s Deutung ist, daß die Mafia - dieser mordende, betrügende, menschenverachtende Klüngel - seine Eltern sind. Damit nimmt er zum ersten Mal von seinem wachen Bewußtsein aus deutlich Stellung gegen sie, was ein sehr bedeutungsvoller Schritt ist.

Zugleich hat dieser Traum meiner Vermutung nach aber noch einen anderen Inhalt: die Eltern - die Mafia - treten in Konkurrenz mit mir, der sich durch den Rechtsanwalt symbolisiert bin, der den Safe aufgebrochen hat. Offensichtlich will (vielmehr: muß) er für seine inneren Eltern die Geheimnisse, den ‘Müll’ früherer Träume rechtzeitig in Sicherheit bringen, bevor ich sie entdecken und weiter gegen die Eltern verwenden kann. Ich behalte diese Deutung für mich, nehme diesen Traum aber - auch aus der Erfahrung der ersten Traumphase - als Indiz, vorsichtiger und behutsamer vorzugehen, die Eltern nicht zu frontal und zu direkt anzugreifen. Nicht umsonst hat J. zum Rechtsanwalt im Traum gesagt: ‘Sie haben mich in Gefahr gebracht!’  Die inneren elterlichen Instanzen scheinen im Moment noch zu mächtig für seine aggressiven Gefühle zu sein.

Wieder hat Herr J. mir über die Gegenübertragungsschiene deutlich gemacht: Ich brauche einen Vater, der mich vor Gefahr schützt und nicht überfordert!

 

3. Kann es überhaupt Veränderung geben?

Kurz danach gibt es einen bedeutsamen Themenwechsel in J.s Träumen. Jetzt, wo ihm der Faden zu seiner Kindheit bewußt und damit der Ursprung seiner Probleme deutlich geworden ist, wo erstmals deutlich wird, daß es eine Möglichkeit gibt, den Hebel anzusetzen, jetzt scheint sich Herr J. in seinem Unbewußten mit seinem Wunsch nach Veränderung, aber auch mit seiner Angst davor, auseinanderzusetzen.

J. hat eine Wohnung am Land, eine Art notdürftig hergerichteten Schuppen. Ihm fällt ein, daß er mit der Mieterin wegen der Vertragsverlängerung reden muß, da ein Mann und eine Frau kommen, um das Haus zu besichtigen, weil sein Vertrag ja ausläuft.

Die Frau sagt, das Haus sei gar nicht so schlimm, wie sie geglaubt habe. J. entdeckt, daß in dem Haus außer seiner noch eine neue ‘Super-Wohnung’ ist, in der er riesengroßes Zimmer mit alten Schränken und Betten findet. Wegen des schwierigen Geländes hat man mit Fertigteilen bauen müssen. Auf einmal kommt alles ins Rutschen, er kann sich gerade noch festhalten.

J. wohnt also in einem ‘alten Schuppen, der notdürftig hergerichtet ist’. Es fällt nicht schwer, in diesem Bild eine Metapher für sein Leben zu sehen, in dem er sich nach überholten inneren Richtlinien bewegt und das gerade notdürftig hergerichtet ist. Sein ‘Mietvertrag’ läuft aber aus; es scheint, als ob seine Zeit, sein Leben so zu gestalten, zu Ende ginge - was ihm aber zugleich Angst macht. Dann entdeckt er voller Überraschung, daß in dieser ‘Wohnung’, in diesem Leben, doch einiges drin zu sein scheint - aber dieses große Zimmer ist mit altem Gerümpel vollgestopft, steht auf schwierigem Gelände und kommt ins Rutschen. Der Traum drückt sehr deutlich sein Gefangen-Sein zwischen der Sehnsucht nach Veränderung und der Angst davor aus. Sein altes Leben ist zwar unbequem, aber immerhin doch auf eine bestimmte Art sicher.

 

Ganz ähnlich, aber mit einem neuen Aspekt der unmittelbar nächste Traum:

J. hat eine Wohnung am Stadtrand mit wunderbarer Aussicht, aber alles ist aus Holz, sogar die offene Feuerstelle und der Kamin, und J. hat große Angst vor einem Feuer. Er entdeckt, daß im Erdgeschoß eine Reihe von Pensionisten wohnt. In der Nähe ist eine Sportanlage, und J. denkt: ‘Für die Alten wäre ein Schwimmbad gescheiter.’

Dann bemerkt er, daß es eine Anbau aus Ziegeln im Rohzustand gibt. Er überlegt, ob er den mieten und seine Sachen im alten Zimmer lassen soll, hat aber Bedenken, ob er sich die große Wohnung überhaupt leisten kann.

Ein Installateur überprüft die neue Wohnung auf Widerstände bei den elektrischen Leitungen und auf ein Loch in der Wasserleitung, das er aber nicht finden kann.

Wieder haben wir die Elemente des vorigen Traums: eine alte, diesmal sogar gefährliche Wohnung, in der man eigentlich nur das ereignislose Leben eines Greises führen kann, der nicht einmal Sport betreiben kann (Sport ist für J. sehr wichtig), sondern nur beschaulich vor sich hin schwimmen. Demgegenüber eine neue, schöne, große Wohnung, noch im Rohzustand, aber J. ist sich nicht sicher, ob er sich das leisten kann. Das neue Leben wird offensichtlich schon im Rohzustand sichtbar - aber er traut sich noch nicht recht.

Die Stelle mit dem Installateur amüsiert J. selbst,  der den Begriff ‘Widerstand’ oft von mir gehört hat. Seine eigene Deutung ist, daß dieser Installateur wohl ich sein muß, der sich mit seinen Widerständen auseinandersetzt.

Hier wird der Übertragungswunsch an mich intensiv verdeutlicht: ich soll mich mit seinen Widerständen, seinen Ängsten auseinandersetzen und ihm helfen, die ‘undichten Stellen’ zu finden - also ihn unterstützen, sich allmählich im Neuen zurechtzufinden.

Der letzte Traum aus diesem Abschnitt, den ich Ihnen vorstellen möchte, hat noch einmal J.’s Zweifel an der Veränderbarkeit seines Lebens zum Inhalt:

Er hat sich ein Schlauchboot gemietet, aber der Teich, auf dem er fahren will, ist nur zwei- bis dreimal so groß wie das Boot. Er ärgert sich über sich selbst, daß er so viel für etwas Sinnloses zahlen muß.

Zweifel über Zweifel: macht das überhaupt einen Sinn, daß er so viel Geld investiert? Ist Veränderung überhaupt möglich? Ist das nicht nur eine Illusion - so wie die Idee, auf einem winzigen Teich Schlauchboot zu fahren?

4. Kann das nicht alles von alleine funktionieren?

In dieser Phase steigen zunächst die Ängste vor der Veränderung deutlich an. Zeichen dafür ist, daß er in seinen Träumen immer wieder mit Gewalt oder der Androhung von Gewalt gegen ihn konfrontiert ist. Zuerst sind es unbekannte Personen, die ihn bedrohen, dann wird sichtbar, worum es geht:

J. ist in seinem Elternhaus, sein Vater schimpft mit ihm und schlägt nach ihm. J. schützt sich mit den Händen und sagt dem Vater, er solle damit aufhören. Daraufhin sagt die Mutter: ‘Du wirst schon noch sehen, was du davon hast!’ J. läuft weg, sein Vater verfolgt ihn mit einem Taschenmesser, er hat große Angst und schreit um Hilfe.

Vorbei sind die Zeiten, wo die Eltern innerlich geschützt wurden, zuerst kognitiv (‘Das war doch alles ganz normal, anderen geht es auch nicht anders’), dann in den Träumen durch andere Personen, als die die Eltern verschlüsselt wurden. Hier ist es schonungslos deutlich: die Gewalttätigkeit des Vaters, die Unterstützung dieser Gewalt durch die Mutter mit ihrem Verbot, sich zur Wehr zu setzen, und J.s große Angst davor.

 

Meine Intervention, daß es darum gehe, sich mit dieser Angst vor den Eltern und seiner Wut auf sie auseinanderzusetzen, und meine Zusicherung, ihn dabei zu unterstützen, hat Folgen: eine Serie von Träumen, in denen ein passiver Wunsch, jemand möge all das von ihm nehmen, im Zentrum steht.

Ein flüchtiger Bekannter hat - anders als im wirklichen Leben - graue Haare und einen ebensolchen Bart und verwandelt sich vor J.s Augen in einen grauen Löwen.

Ich deute den Traum so, daß J. sich wünscht, der Vater möge sich in einen sprichwörtlichen ‘alten Löwen’ verwandeln, also ungefährlich werden.

Er sitzt auf einer Waldlichtung und bemerkt, daß um ihn herum einige fein säuberlich in Plastikfolien verpackte Leichen liegen. Er verspürt eine gewisse Erleichterung darüber, daß sie so sauber verpackt sind, überlegt, zur Polizei zu gehen, kommt aber nicht wirklich weg von dieser Waldlichtung.

Dieser Traum stellt vermutlich eine Verschlüsselung seiner buchstäblich ‘mörderischen’ Wut auf seine Eltern (und seine als sehr ähnlich erlebten Vorgesetzten) dar, gleichzeitig aber auch den Wunsch, es möge alles - also die Verarbeitung seiner aggressiven und ängstlichen Gefühle - schon vorbei und sozusagen ‘sauber verpackt’ sein.

 

Er steht vor einem Hochhaus und merkt, daß von hoch oben jemand auf ihn uriniert. Er geht auf die Seite, das ändert aber nichts. Er ärgert sich ein bißchen, bekommt aber keine richtige Wut.

Deutlich spüre ich den an mich gerichteten Wunsch: mach für mich, daß es mir besser geht, sorge dafür, daß die anderen (die Eltern) aufhören, mich so behandeln.

5. Ich kann selber aktiv werden!

Diese Phase wird durch meinen und J.s gleichzeitigen Urlaub beendet. Für diesen Urlaub hat er - aufgrund der quälenden Einsamkeit in seinen letzten Ferien - einen Cluburlaub in der Türkei gebucht. Er hat aber große Angst davor, wieder mit niemanden in Kontakt zu kommen, und wir sprechen in den Stunden davor viel über diese Angst und seine Fantasien, was die Leute dort im Club über ihn denken könnten.

Zuvor nimmt er an einem Therapieseminar unter meiner Leitung teil, auf dem er sich sehr wohl fühlt und sich sozial gut in die Gruppe einfügt. Auf die Diskrepanz zwischen seinen Ängsten, allein zu bleiben, und seinen mittlerweile gut entwickelten tatsächlichen Fähigkeit angesprochen, meint er, auf dem Seminar sei das ja nicht so schwierig gewesen, da habe ich ja sozusagen auf ihn aufgepaßt. Im Urlaub aber sei er auf sich selber angewiesen.

Der erste Traum, den er nach dem Urlaub berichtet, spiegelt dieses Thema wieder. J. hat ihn in der Nacht vor dem Abflug geträumt.

Er ist in seiner Arbeit und soll von einem menschlich sehr unangenehmen Reporter befragt werden, vor dem er sich nicht richtig wehren kann. Der Bürgermeister kommt herein und ignoriert J. und seine Nöte mit dem Reporter. Dann ist er in einer fremden Stadt, hat Angst, sich zu verlaufen und findet sich dann in einem Garten wieder, in dem er mit mir eine Therapiesitzung hat. Er will seinen Traum vom Reporter erzählen, aber die Stunde ist aus, und ich gehe mit einigen Kindern fort. Es ist, als ob ich auf einem Spaziergang nur kurz Pause für diese für ihn unzureichende Therapiestunde gemacht hätte.

Der ‘Bürgermeister’ - hier taucht wieder die Vaterfigur ‘Politiker’ auf - kümmert sich nicht um ihn; wahrscheinlich ist diese Person beides: sein ihn und seine Bedürfnisse ignorierender Vater und ich, der ich auf Urlaub gehe und nicht auf ihn ‘aufpasse’. Ich geben ihm zwar eine Therapiestunde, gehe aber, bevor er zum Wesentlich komme, und zwar mit Kindern, fast könnte man sagen, mit anderen Kindern fort. Bedeutsam ist, daß J. mich in der Stunde vor den Ferien gefragt hat, was ich im Urlaub machen werde. Ich gebe ihm die Antwort, ich werde ihn mit meinen Kindern verbringen (!).

Aus dieser Angstsituation heraus - ich habe ihn verlassen, und er muß sich ganz allein einer ihn sehr ängstigenden Aufgabe stellen - fliegt J. in seinen Urlaub. Vier Tage lang fühlt er sich dort elend, einsam und unfähig, Kontakt aufzunehmen. In der Nacht nach dem vierten Tag hat er folgenden Traum:

Er erhält die Verständigung, daß er im Jänner zwei Tage ins Krankenhaus müsse und ist besorgt, daß das Schwierigkeiten in der Arbeit geben könnte. Er hat nämlich entdeckt, daß ein Kollege einen Arbeitsbereich übernehmen soll, für den J. zuständig ist. J. wehrt sich und sagt: ‘Das ist meine Verantwortung!’, worauf sich der Kollege zurückzieht.

Anschließend ist er in seinem Elternhaus und erzählt seiner Mutter, daß es ihm in der Arbeit gut gehe. Sein Chef und ein Kollege kommen dazu, und J. stellt fest, daß eine Menge Nachbarn im Hof seines Elternhauses stehen und die Unterhaltung mitbekommen, was ihn sehr stört. Der Chef und der Kollege beleidigen J., und er setzt sich zur Wehr. Er will nicht, daß die Nachbarn das mitbekommen und drängt sie beim Hoftor hinaus. Ein besonders lästiger will immer noch herein, und J. schließt mit Gewalt das Tor und zerquetscht den neugierigen Nachbarn.

Noch bevor ich über die Deutung dieses Traums spreche, soll hier berichtet werden, wie J.’s Urlaub weiterging: am nächsten Tag, unmittelbar nach dem Traum, faßte er sich ein Herz und beteiligt sich an sportlichen Gruppenaktivitäten. Über diese knüpfte er rasch Kontakt zu anderen Gästen, mit denen er dann in der zweiten Hälfte des Urlaubs eine gute Zeit verbrachte. Wörtlich sagte er: „Ich habe das abendliche Beisammensitzen richtig genossen!“ - das erste Mal, daß ich überhaupt von etwas hörte, daß er genossen hatte und das nicht nur ‘ganz nett’ oder ‘schon angenehm’.

Wie ist nun dieser Traum - der einen Wendepunkt in Herrn J.s Entwicklung und im psychotherapeutischen Prozeß markiert und der zugleich der bisher letzte ist, den er in die Sitzung mitbrachte - zu verstehen?

Das Auffälligste ist, daß er sich gleich zwei Mal zur Wehr setzt - gegen den Arbeitskollegen und gegen die neugierigen Nachbarn. Am Anfang beider Traumteile stehen seine alten Ängste: was wird in der Firma geschehen, was werden die Leute sagen? Bis dahin endeten solche Träume mit dieser Angst. In diesem Traum haut er sozusagen auf den Tisch, im zweiten Teil sogar mit brutaler Aggression: er zerquetscht den Oberneugierigen unterm Tor und sagt damit: es geht euch gar nichts an, wie ich bin und wie ich lebe. Die ‘Leute’, die schlecht oder abwertend über ihn denken oder reden könnten, die sich penetrant einmischen, stehen natürlich stellvertretend für seine Eltern.

Und entsprechend der Erkenntnisse dieses Traumes verhielt er sich dann ab dem nächsten Tag in seinem Cluburlaub: er setzte sich darüber hinweg, was irgend jemand über ihn sagen oder denken hätte können und machte sich selbst zum Gradmesser für sein Handeln.

In den Wochen seither sind spannende Dinge passiert: J. hat sich um eine neue Stellung beworben, hat ein erfolgreiches Bewerbunsgespräch hinter sich gebracht und ist in der engeren Auswahl für diesen Job. Zusätzlich wurden ihm - zufällig? - zwei weitere Stellen angeboten. Die Aussicht, die quälende Enge seines jetzigen Arbeitsplatzes zu verlassen, an dem er vieles berechtigterweise ähnlich wie in seinem Elternhaus erlebt, belebt ihn sehr, und seine gut absolvierten Vorstellungsgespräche stärken sein Selbstvertrauen. Nicht umsonst berichtet er zur Zeit keine Träume: im Moment setzt er im wachen Bewußtsein so viele lebensverändernde Handlungen, daß es ‘klug’ von seinem Unbewußten ist, sich mit tieferen, noch unbearbeiteten Dingen vorläufig im Hintergrund zu halten.

6. Ausblick

Wie kann es mit Herrn J. weitergehen? Im Augenblick geht es darum, seine eindrucksvollen Erfolge zu bestärken, zu verfestigen, zu verarbeiten, ihm zu helfen, sie nicht wieder entsprechend dem alten Skript einzuordnen.

Diese Erfolge dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß sein Unbewußtes in diesen vielen Träumen zwar enorme Bewältigungsarbeit geleistet hat, daß aber wesentliche Schritte noch fehlen: zum einen das bewußte Ertragen und Mitteilen der schmerzlichen ursprünglichen Skriptgefühle, um damit unter anderem eine neue Beziehungs- und Kommunikationsqualität im Kontakt mit mir herzustellen, zum anderen ist der ganze Bereiche Sexualität - Partnerschaft - Frauenbeziehungen noch nahezu vollständig im Dunkeln.

Ob Herr J. seine Entwicklung weiter in großen Teilen träumend vollziehen wird oder ob das Träumen - zeitweise oder ganz - in den Hintergrund treten wird, ist offen. In jedem Fall bleibt dieses Jahr ein für ihn und mich beeindruckender Abschnitt, in dem sich frappierend sowohl die heilende und verändernde Macht des Unbewußten gezeigt hat, als auch die Möglichkeiten deutlich wurden, durch therapeutische Interventionen im Übertragungs-Gegenübertragungs-kontext das Unbewußte fördernd zu beeinflussen.

 

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