14. NARZISSMUS: DAS FALSCHE UND DAS WAHRE SELBST
Dynamik und Diagnose des pathologischen Narzissmus
Vortrag auf dem Psychotherapietag
‚Borderline und Narzissmus – Aspekte und Sichtweisen‘
Institut INITA
Hannover, Februar 2010
Et maintenant que vais je faire
De tout ce temps que sera ma vie
De tous ces gens qui m'indiffèrent
Maintenant que tu es partie
Toutes ces nuits pourquoi pour qui
Et ce matin qui revient pour rien
Ce coeur qui bat pour qui pour quoi
Qui bat trop fort trop fort
Et maintenant que vais je faire
Vers quel néant glissera ma vie
Tu m'as laissé la terre entière
Mais la terre sans toi c'est petit
Vous mes amis soyez gentils
Vous savez bien que l'on y peut rien
Même Paris crève d'ennui
Toutes ces rues me tuent
Et maintenant que vais je faire
Je vais en rire pour ne plus pleurer
Je vais bruler les nuits entières
Puis au matin je te hairai
Et puis un soir dans mon miroir
Je verrai bien la fin du chemin
Pas une fleur et pas de pleurs
Au moment de l'adieu
Je n'ai vraiment plus rien à faire
Je n'ai vraiment plus rien
(Gilbert Bécaud: Et maintenant)
Und jetzt – was werd‘ ich denn jetzt machen
Mit all der Zeit, die mir noch zum Leben bleibt
Mit all den Menschen, die mir nichts sagen
Jetzt, wo du gegangen bist
All diese Nächte – wofür und für wen
Und noch ein Morgen, der kommt ohne Sinn
Mein Herz, es schlägt – für wen und wofür
Es schlägt zu fest, zu fest
Und jetzt – was werd‘ ich denn jetzt machen
In welches Nichts zerrinnt mein Leben jetzt?
Die ganze Welt hast du mir hiergelassen
Aber ohne dich ist diese Welt so klein
Ach, Freunde, seid jetzt nett zu mir
Ihr wisst genau, dass gar nichts hilft
Sogar Paris krepiert vor Langeweile
All seine Straßen öden mich an
Und jetzt – was werd‘ ich denn jetzt machen
Ich werd‘ lachen, um nicht mehr zu weinen
Die Nächte, die mir bleiben, werd‘ ich brennen
Und jeden neuen Morgen dann dich hassen
Und eines Abends dann, vor meinem Spiegelbild
Werd‘ ich es wissen, dass mein Weg zu Ende ist
Dann keine Blume mehr und keine Träne
An diesem Abschiedstag
Ich habe wirklich nichts mehr hier zu tun
Ich habe wirklich nichts
Mit welchem Pathos beschreibt hier Gilbert Bécaud etwas ganz Alltägliches: Ein Mensch hat sich von einem anderen Menschen getrennt. Aber was löst das bei ihm aus! Da wird ‚gehasst‘, ‚gebrannt‘, ‚gelacht, um nicht zu weinen‘, das Leben ‚zerrinnt ins Nichts‘, alle anderen Menschen sind ‚gleichgültig‘, sogar Paris ‚stirbt vor Langeweile‘ – und es gibt für ihn ‚wirklich nichts mehr‘, so allumfassend ist sein Leid, so tief ist seine Leere. Auf Französisch geht das ja runter wie Butter – aber man wagt fast nicht, den Text auf Deutsch zu lesen, so peinlich wirken da die Theatralik, das Selbstmitleid, die Rührseligkeit, die Unechtheit.
Genau so fühlt sich Narzissmus an: niemals, niemals vorher ist einem Menschen solches Leid widerfahren wie mir, nichts, gar nichts, kann diese Kränkung wieder heilen lassen, kein Gefühl ist zu übersteigert, zu pathetisch, um meiner einzigartigen Seelenqual Ausdruck zu verleihen. Ich habe jedes Recht, von wem auch immer zu verlangen, dass dieses Leid wieder gut werden muss. Ich selbst habe ganz sicher nichts falsch gemacht, mir widerfährt wieder einmal unfassbar tiefes Unrecht.
Das hört sich von außen unpassend, übersteigert, unecht, peinlich, falsch an. In seinem Inneren erlebt das der narzisstische Mensch als die einzige und berechtigte Möglichkeit, er oder sie selbst zu sein: ich kann gar nicht anders, als das zu denken, zu fühlen, zu tun, was ich gerade tue, denke, fühle. Es ist die einzige Möglichkeit in der gegebenen Situation. In der gegebenen kränkenden Situation, muss dazu ergänzt werden, denn: nach all dem, was ich für den anderen Menschen getan habe, tut er oder sie mir das an. Ich habe alles gegeben, was ich konnte und hatte, ist es da nicht mehr als begreifbar, wenn ich so verletzt bin? Erlebte und befürchtete ‚Kränkung‘ ist schlechthin das ausschlaggebende Movens in der Welt des narzisstischen Menschen.
Nicht, dass Bécauds ‚Et maintenant‘ das einzige Chanson, der einzige Popsong wäre, die sich mit der Pflege einer unverwindbaren narzisstischen Verwundung beschäftigen (im Gegenteil: meistens ist das die Basis ihres Verkaufserfolges…). Ich habe das Lied ausgewählt, weil es so prototypisch fünf im Verhalten sichtbare und erlebbare Kriterien illustriert, die auftreten, wenn wir von ‚pathologischem Narzissmus‘ sprechen.
Dazu eine kurze Zwischenbemerkung: es ist üblich geworden, auf Schritt und Tritt bei jedem Anzeichen von Ich-Verliebtheit oder Eitelkeit schon von ‚Narzissmus‘ oder einem ‚narzisstischen Menschen‘ zu sprechen, das Wort hat Eingang in die Alltagssprache gefunden. In der klinischen Praxis geht es dabei aber um tiefgreifende und schwerwiegende Persönlichkeitsstörungen, die ein Funktionieren im Sinne persönlicher und sozialer Normalität über weite Strecken sehr erschweren, wenn nicht verunmöglichen. Wenn alle fünf Charakteristika, zu denen ich gleich komme, deutlich auftreten, kann man davon sprechen, dass bei der betreffenden Person ein ‚falsches Selbst‘ das wahre überwiegt – dass sie also in ihrer Echtheit, ihrer Autonomie und ihrer Wahlfreiheit entscheidend eingeschränkt ist. Erst dann sollte man tatsächlich die Diagnose ‚Pathologischer Narzissmus‘ mit den entsprechenden Behandlungsindikationen stellen. Natürlich gibt es Abstufungen in der Ausprägung des Narzissmus, deutlichere oder weniger deutliche Aspekte davon in vielen verschiedenen Störungsbildern. Das Verführerische am Narzissmus ist, dass er sich gerne so in den Vordergrund drängt, dass andere Psychodynamik leicht übersehen werden kann. Beispielsweise können eine reaktive Depression, eine heftige Trauerreaktion, eine posttraumatische Belastungsstörung viele narzisstische Aspekte in sich tragen, ebenso eine Angstneurose. Aber sie sind eben eine Depression, eine Trauerreaktion, eine Angstneurose – das Leiden des Menschen rührt nicht an der Basis aus einem falschen Selbst her. Das Selbst ist in diesen Fällen grundsätzlich echt und intakt, es kann Kränkungen und Verletzungen schlussendlich gesund verarbeiten.
Das falsche Selbst kann das nicht; warum, das zeigen diese erwähnten fünf Punkte.
Zu allererst finden wir eine große und fast ausschließliche Bezogenheit auf sich selbst. Die ganze Welt wird als etwas gesehen, das dazu da ist, für mein Wohlergehen zu sorgen, und wenn sie das nicht tut, ist es als persönliche Gemeinheit mir gegenüber gemeint: ganz Paris erfrecht sich, von Bécauds Leid nicht groß Notiz zu nehmen, all (!) seine Straßen – und das werden wohl einige tausend sein – fühlen sich nicht dafür zuständig, ihn zu unterhalten und zu trösten. Das Wort ‚wir‘ wird sich im Sprachschatz des narzisstischen Menschen kaum finden, es sei denn im Sinne einer Erweiterung des Ichs („wir wollen doch nicht, dass meine Frau mich verlässt!“ bat mich einmal der Mann einer Patientin am Telefon). Die Bezogenheit von Menschen aufeinander, im Sinne eines dem Ich gleichwertigen Du, ist keine emotionell wirklich erfassbare Kategorie, das Du steht nur im Dienste der Stärkung des eigenen Ich. „Du bist gegangen, ohne dich ist die Welt leer (genauer müsste es heißen: bin ich leer – aber schließlich bin ja ich die Welt)“.
Zweites Charakteristikum des pathologischen Narzissmus ist das Fehlen der Fähigkeit zur Selbstreflexion. Schuld sind immer andere, einen persönlichen Anteil gibt es nicht, im Gegenteil, der Gedanke an eigene Fehler wird als massive Bedrohung gesehen, auf die mit völligem Unverständnis und oft mit großer Aggression reagiert wird. Hören Sie bei Bécaud auch nur eine Silbe der Selbstkritik? Könnte es sein, dass es mit ihm vielleicht auch schwierig auszuhalten war? Dass er so erpresserisch wie in dem Chanson auch vorher schon war? Alternierend zu diesem völligen Zurückweisen eigener Mitverantwortung („ich habe garantiert nichts falsch gemacht“) gibt es die ebenso verallgemeinernde und ebenso wenig reflektierende Gegenvariante: „ja, ich weiß, ich habe alles falsch gemacht, immer bin ich an allem schuld“.
Diese Ambivalenz zwischen ganz gut oder ganz böse ist auch das dritte Kennzeichen: ‚Narzissmus‘ bedeutet Kompromisslosigkeit: Alles oder Nichts, schwarz oder weiß, wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Grautöne, Nuancen, Relativierungen, Differenzierungen sind nicht die Sache des narzisstischen Menschen. So sieht er oder sie die Welt, so erlebt sie oder er andere Menschen – aber auch sich selbst: wenn du mich liebst, anerkennst, bewunderst, würdigst, dann bin auch ich ein wundervoller Mensch. Wenn du mir das entziehst, dann falle ich in die Leere (aber schuld daran bist du). Wie bei Bècaud ‚zerrinnt das Leben ins Nichts‘ - aber dafür muss er die Frau, die ihm das angetan hat, auch ‚jeden Morgen hassen‘. Trauern, loslassen, verabschieden, sehen, was in dieser zu Ende gegangenen Beziehung auch schön war, aus den eigenen Fehlern lernen – was für eine unendlich komplizierte Alternative! Mit einem so bedürftigen und schwachen Selbst – wie soll ich diesen steinigen Weg bewältigen?
Überhaupt: wer ist die Frau, die Bécaud das angetan hat? Diese so im Übermaß geliebte und begehrte Person, deren Weggang sein Leben so leer macht – wie sieht sie aus, was denkt, fühlt, tut sie, wie kleidet sie sich, worüber lacht oder weint sie? Wir erfahren absolut nichts über sie, in uns entsteht nicht das geringste Vorstellungsbild eines anderen Menschen. Der Grund dafür liegt in der geringen Fähigkeit zur Empathie, die wir als viertes Charakteristikum der narzisstischen Persönlichkeit diagnostizieren können. Und damit ist nicht gemeint, dass es nicht immer einfach ist, sich in Andere hinein zu versetzen, nein, es geht um viel mehr. Dem narzisstischen Menschen ist es nahezu gänzlich fremd und kaum nachvollziehbar, dass andere Menschen Empfindungen, Motive, Wünsche, Ziele, Hoffnungen, Kränkungen kennen, vor allem aber, dass sie von ihm oder ihr getrennte Menschen mit einem eigenen Leben und einer eigenen Persönlichkeit sind.
Und fünftens, natürlich: narzisstische Menschen sind extrem leicht kränkbar, es dreht sich fast alles um die Kränkungen, die ihnen zugefügt wurden, zugefügt werden könnten und sicher noch zugefügt werden. Das Entscheidende, das Pathologische dabei ist nicht so sehr die Empfindsamkeit an sich, sondern die Tatsache, dass die erlebten Kränkungen niemals verziehen werden. Sie können gar nicht verziehen werden – dazu wären Empathie und das Bewusstsein über ein echtes und leidensfähiges Selbst erforderlich.
Noch einmal also zusammengefasst die fünf Merkmale, an denen wir narzisstische Persönlichkeit in ihrem Verhalten erleben können:
• Selbstbezogenheit
• schwache Selbstreflexionsfähigkeit
• wenig Differenzierung (Schwarz-Weiß-Denken)
• kaum Empathie und
• extreme Kränkbarkeit.
Der erste Indikator für die klinische Diagnose ist das Verhalten eines Patienten oder einer Patientin; sie wird gewissermaßen aus der beobachtenden Position heraus gestellt. In einem zweiten diagnostischen Schritt verlasse ich diese eher neutrale Rolle, gehe unmittelbar in die soziale Beziehung mit der Person und befasse mich mit den Impulsen, Emotionen, Assoziationen, Intuitionen, die sie in mir auslöst. Jedes klinische Erscheinungsbild ruft eigene und spezifische Reaktionen beim therapeutischen Gegenüber hervor, die so helfen können, die Verhaltensdiagnose zu erhärten.
Sehen wir uns das für die narzisstische Persönlichkeitsstörung an einem Beispiel näher an.
Frau B. kommt mit ihrem Lebensgefährten zu mir in meine psychotherapeutische Praxis. Auf meine übliche Gesprächseröffnung – der Wunsch, die beiden mögen separat erzählen, was sie denn zu mir führe – ergreift sie unmittelbar und ohne Zögern das Wort:
B.: Mir ist es wichtig, dass er endlich verstehen soll, wie schwer ich es mit ihm habe, und dass Sie ihm dabei helfen. Ich wünsche mir, dass er beziehungsfähig wird und mich endlich wirklich lieben kann. Wir haben uns entschlossen, zu Ihnen zu kommen, damit ich in unserer Beziehung endlich glücklich werde.
Sie merken, wie sehr Frau B. auf sich bezogen ist: ihr Partner – den sie nur in der 3. Person per ‚er‘ tituliert, weder bekommt er einen Namen noch redet sie ihn direkt an - soll sich für sie verändern, er soll sie verstehen und ‚wirklich‘ lieben. Das Pronomen ‚wir‘ kommt nur als Erweiterung des Ich vor: ‚wir kommen, damit ich glücklich werde‘, sagt sie. Auch ich als Psychotherapeut soll diesem Zweck dienen: mit meiner Hilfe soll ihr Lebensgefährte befähigt werden, sie glücklich zu machen.
Gehen wir weiter im Gesprächsprotokoll:
Th.: Das hört sich für mich danach an, dass Sie sich wünschen, in Ihrer Beziehung besser verstanden zu werden.
Gewissermaßen als diagnostischen Test habe ich eine leichte Redifinition ihrer Aussage vorgenommen: ich habe ihr absolutes ‚so ist es, das muss er tun‘ abgeschwächt zu einem subjektiven ‚wünschen, besser verstanden zu werden‘. Damit will ich herausfinden, wie bereit sie ist, sich selbst zu relativieren.
B. (lächelt melancholisch): Ach Gott, verstanden fühlen… es würde ja schon genügen, wenn er begreifen würde, dass ich auch ein Mensch mit Gefühlen bin. Aber das ist mit dem Georg wohl nicht zu machen. Was ich schon alles versucht habe, im Guten wie im Bösen, und immer, wenn ich glaube, jetzt bemüht er sich wirklich, dann tut er mir wieder so weh, das können Sie sich nicht vorstellen.
Th.: Wie zum Beispiel?
B.: Gerade gestern, da ist es mir nicht so gut gegangen, die Kinder waren wieder extrem anstrengend. Und was macht er? Kommt wieder erst um neun nach Hause, obwohl er doch versprochen hat, dass es nicht später als halb neun sein wird. Und dann sagt er, ich soll nicht aus einer Mücke einen Elefanten machen!
Nicht immer, aber oft zeigen sich narzisstische Persönlichkeitsmuster rasch und prototypisch. Nach kaum 5 Minuten haben wir die Selbstbezogenheit, den Mangel an Selbstreflexion, das ‚Schwarz oder Weiß‘, die geringe Empathie und die hohe Kränkbarkeit gesehen.
Th.: Diese halbe Stunde Verspätung ist für Sie eine unerträgliche Verletzung?
B. (scharf): Glauben Sie mir vielleicht nicht?
Th.: Ich möchte gerne verstehen, wie Sie empfinden, Frau B.
B. (mit zittriger Stimme): Ja, das ist für mich eine solche Rücksichtslosigkeit, dass ich es einfach nicht mehr aushalte! Aber es sind eben nicht seine Kinder, und um die braucht er sich nicht zu scheren! (beginnt zu weinen) Aber ich habe es satt, dass ich ein Niemand bin und jeder mich herum schubst!
Was geht in Ihnen vor, während sie meinen kurzen Dialog mit Fr. B. hören? Was fühlen Sie, was denken Sie, was sind Ihre Handlungsimpulse? Was würden Sie – jenseits professioneller Reflexion – gerne zu ihr sagen?
In mir – und das ist typisch für die Arbeit mit narzisstischen Personen – haben bereits diese ersten Minuten der ersten Sitzung erstaunlich intensive und erstaunlich widersprüchliche Emotionen ausgelöst.
Lassen Sie mich an dieser Stelle einige Überlegungen zur Dynamik von Übertragung und Gegenübertragung einfügen. Menschen projizieren immer wieder unbewusst frühere, ungelöste Beziehungserfahrungen auf gegenwärtige Beziehungen. Wir übertragen frühere Muster, frühere Bilder von Menschen und frühere Bilder von uns selbst in die Gegenwart, ohne dass wir merken, dass wir das tun. Dieser Vorgang hat einen doppelten Zweck: er soll uns helfen, verdrängtes traumatisches Geschehen nicht erinnern zu müssen, steht also im Dienst der Abwehr. Und er hält die Hoffnung am Leben, dass heute endlich etwas gut werden kann, indem es wiederholt wird. „Die unbewussten Regungen wollen nicht erinnert werden, (...) sondern sie streben danach, sich zu reproduzieren.“ (S. 491) sagt Sigmund Freud schon 1912 – an was ich mich nicht erinnern will, muss ich wiederholen. Und so erlebe ich meinen Beziehungspartner, meinen Vorgesetzten, meinen Arbeitskollegen beispielsweise ganz genau so abweisend, so kalt, so angsteinflößend und so verständnislos wie seinerzeit meinen Vater. Und ich erlebe mich in dieser gegenwärtigen Beziehung ebenso klein und hilflos wie in der damaligen. Ich muss mich also wohl oder übel im Hier und Jetzt mit dem unfähigen Arbeitskollegen, dem lieblosen Partner, dem rücksichtlosen Chef herumschlagen – mit meinen Erinnerungen an meine Traumatisierungen muss ich mich nicht beschäftigen.
Und Übertragungsprojektionen passieren ja nicht nebenbei und beiläufig – Menschen wollen ja (unbewusst), dass ihr Gegenüber in die alten Muster passt, dass es ihnen die Beziehungserfahrung bestätigt, die sie von vorneherein erwarteten. Es entsteht also gewissermaßen ein Sog: ohne dass uns das wirklich bewusst wird, tendieren wir dazu, uns der Übertragung anzupassen und in den Wiederholungszwang einzusteigen – auch so kalt, so verständnislos, so angsteinflößend zu werden.
Noch heftiger und gleichsam unverfälschter als im Alltag tritt dieses Phänomen von Übertragung und Gegenübertragung in der Psychotherapie auf. Dort aber kann es zu einem wertvollen Schlüssel zur inneren Dynamik des Patienten/ der Patientin und ihren/ seinen traumatisierenden Beziehungserfahrungen werden. Es kann sehr hilfreich sein, diesen Sog anhand der dadurch ausgelösten eigenen Impulse und Gefühle wahrzunehmen (ohne ihnen natürlich nachzugeben) und von daher diagnostische Rückschlüsse ziehen zu können. Diesen Vorgang kann man ‚soziale Diagnose‘ nennen: indem ich dazu tendiere, kalt, verständnislos, angsteinflößend zu werden, kann ich diagnostisch beispielsweise den frühen Ursprung einer Angstneurose erahnen.
Ich pflege mir meine Gegenübertragungsreaktionen während des Gesprächs zu notieren, durchaus auch unzensiert. Das erlaubt mir, ihrer bewusst zu werden und sie dosiert auf die eine oder andere Weise in die Psychotherapie einzubringen.
Zu Beginn, bei der Begrüßung, bin ich positiv beeindruckt von einer sympathischen und attraktiven Frau, die mir warmherzig im Kontakt erscheint, und ich bin gespannt auf die Sitzung. Der Mann, der mit ihr kommt, scheint eher in ihrem Schlepptau zu segeln, er wirkt blässlich und uninteressant. Ich bin überrascht von dieser meiner spontanen bewertenden Reaktion, mit der ich meine Neutralität und Äquidistanz zu den beiden Teilen des Paares unterlaufe, bevor wir auch nur im Behandlungsraum sitzen.
Als sie dann zu sprechen beginnt - Mir ist es wichtig, dass er endlich verstehen soll, wie schwer ich es mit ihm habe, und dass Sie ihm dabei helfen – ändert sich die positive Gegenübertragung schlagartig. Ich spüre Ärgerlichkeit und Ungeduld. Auf meinem Notizblock steht: „Glaubt sie wirklich, dass ich ihr darauf einsteige?“ Die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihren Partner und mich in ihr System, ihr Weltbild einbaut, löst Distanziertheit bei mir aus. Am liebsten wäre ich belehrend und würde Dinge sagen wie „Glauben Sie nicht, dass Ihr Partner es auch mit Ihnen schwer haben könnte?“ oder „Sie missverstehen anscheinend, um was es in einer Paartherapie geht!“
Ihre nächsten Aussagen – der Wunsch, ihr Partner möge doch sehen, dass sie auch ein Mensch ist und sie nicht unausgesetzt verletzen – verstärken meine innere Distanziertheit, aber der Ärger weicht eher einem Anflug von Ironie. Meine Notizen vermerken: „Große Kränkung!! Eine halbe Stunde! Falsches Selbst – Narzissmus!“
Und dann gibt es noch einen Wechsel: Ihr Satz „Aber ich habe es satt, dass ich ein Niemand bin und jeder mich herum schubst!“ lässt mich weich werden und ihre tiefe Verletztheit hinter ihrer Ichbezogenheit ahnen. Die notierte Frage „Schmerz ansprechen – Empathie?“ beantworte ich mir gleich selbst mit „Viel zu früh!“
Nun, in solchen Situationen bin ich froh, dass ich doch schon seit 27 Jahren psychotherapeutisch arbeite. Ansonsten hätten mich diese meine inneren Schwankungen vermutlich ratlos gemacht, ich hätte sie – die ambivalenten Gefühle - entweder beiseitegeschoben und mich intensiv (und vergeblich) um Neutralität und Objektivität bemüht oder - noch weniger konstruktiv – ich wäre womöglich den jeweiligen Impulsen gefolgt und hätte mir sehr bald (nicht ganz zu Unrecht) anhören müssen, dass auch ich nicht imstande sei, Frau B. zu verstehen. So aber helfen mir diese spontanen Reaktionen, mein diagnostisches Verständnis zu erweitern.
Drei Aspekte finden sich in meiner Gegenübertragung:
- eine Ambivalenz zwischen Sympathie und Antipathie
- ein Gefühl der Unechtheit und der Peinlichkeit
- und schließlich, überraschend plötzlich, eine empathische Berührtheit.
Alle drei sind Hinweise darauf, dass wir es tatsächlich mit einer narzisstischen Persönlichkeit zu tun haben.
An dieser Stelle wird es Zeit, auf die Begriffe ‚Falsches‘ und ‚Wahres Selbst‘ einzugehen.
Der Ursprung des von Freud geprägten Terminus ‚Narzissmus‘ ist bekannt: der Jüngling Narkissos aus der griechischen Sage verliebt sich so sehr in sein eigenes Spiegelbild im Wasser, dass er sich nicht davon lösen, es aber auch nicht erreichen kann – bei dem Versuch, es zu küssen, ertrinkt er.
Genau so ist der narzisstische Mensch – oder eigentlich: der narzisstisch verletzte Mensch – in sich selbst gefangen: gefangen von der Sehnsucht, geliebt zu werden und doch unerreichbar für diese Liebe. Weil niemand sie/ ihn wirklich liebt, versucht er – oder sie – sich diese Liebe selbst zu geben Aber es ist immer nur das eigene Spiegelbild, nie die Liebe in den Augen eines anderen Menschen.
Die Psychoanalytikerin Margaret Mahler hat die berührende Formulierung geprägt, dass ein Kind sich, um sich wirklich geliebt fühlen zu können, ‚in den Augen seiner Mutter wiederfinden‘ müsse. Die Mutter (und andere wichtige Bezugspersonen) fungieren als Spiegel, in dem der kleine Mensch sich, ihre Identität, sein Selbst finden kann. Dieser kleine Mensch ist (vorerst) in seiner kindlichen Unschuld überzeugt von der Makellosigkeit des eigenen Ich und will in dieser Vollkommenheit bedingungslos und absolut geliebt werden. Wenn dieser primäre, entwicklungspsychologisch gesunde und normale Narzissmus mit seinem unendlichen Bedürfnis nach Liebe auf eine Mutter, einen Vater trifft, die nicht bereit oder nicht fähig dazu sind, diese bedingungslose Liebe zu geben; wenn Eltern das Kind als Mittel zum Zweck der Erfüllung eigener (narzisstischer) Bedürfnisse missbrauchen; wenn sie, statt dem Kind ein Spiegel zu sein, sich selbst in ihm spiegeln wollen – dann sprechen wir von ‚narzisstischer Kränkung‘ oder exakter von ‚narzisstischer Wunde‘.
Herr L., ein anderer Patient von mir, wurde mit 6 Jahren ins Kinderheim gebracht, wo er blieb, bis er 15 war. Grund dafür war, dass seine Mutter einen anderen Mann heiratete, der an ihrem Sohn nicht interessiert war. Herr Z. musste seiner Mutter im Alter von 8 Jahren an der Leiche seines eben am Herzinfarkt verstorbenen Vaters mit erhobener Hand schwören, immer bei ihr zu bleiben und ihr nie Kummer zu bereiten.
Dort, wo in der Liebe geliebter Personen das Selbst wachsen sollte, dort ist in der Seele des narzisstisch verletzten Menschen nur ein tiefes Loch, eine riesige Wunde, die alles sinnlos erscheinen lässt – diese Sinnleere, die Bécaud am Ende seines Chansons als das ultimativ Letzte stehen lässt:
Ich habe wirklich nichts mehr hier zu tun
Ich habe wirklich nichts
Stattdessen, statt eines wahren, sich allmählich differenzierenden und relativierenden Selbst, ist der narzisstisch gekränkte Mensch gezwungen, ein falsches, sich den Erwartungen des Gegenübers anpassendes Selbst zu entwickeln.
Stephen Johnson, ein amerikanischer Psychoanalytiker, formuliert „(...) wenn das, was ich bin, zu viel oder zu wenig ist, wenn ich zu viel oder zu wenig Energie habe oder zu sexuell oder nicht sexuell genug bin, zu stimulierend oder nicht stimulierend, zu frühreif oder zu langsam, zu unabhängig oder nicht unabhängig genug... dann kann ich mich nicht frei selbst verwirklichen. Das ist die narzisstische Kränkung.
Der Versuch des Kindes, so zu sein, wie die Umwelt es haben möchte, ist das falsche Selbst.“ (Johnson 1988, S.56)
Dabei, sich den Vorstellungen ihres Gegenübers anzupassen, ein seinen Wünschen entsprechendes falsches Selbst zu präsentieren, entwickeln Menschen mit narzisstischer Problematik eine hohe Intuition und ein hohes Fingerspitzengefühl. Das lässt sie oft charmant, sympathisch, manchmal sogar beeindruckend charismatisch erscheinen (bei nicht wenigen Menschen des öffentlichen und des veröffentlichten Lebens zu beobachten). Dieser Aspekt findet sich wieder in meiner anfänglich positiven Gegenübertragungsreaktion auf Frau B.: sie hat ein instinktives Gespür dafür, wie sie sich im Erstkontakt mit einem Psychotherapeuten gibt. Noch mehr: wie ich es mir im positiven Fall von einer neuen Klientin wünschen würde. Das spielt sie nicht als Rolle, das wird in diesem Moment zu einem von ihr (und auch mir) als durchaus authentisch empfundenen Selbst.
Doch diese Identität ist höchst fragil: spürt der narzisstisch verwundete Mensch, dass sie (er) nicht in dem Ausmaß auf die begeisterte Anteilnahme stößt, die er (oder sie) sich wünscht, dann bröckelt die Fassade. Dahinter wird dann eine überempfindliche, latent aggressive und oft als übertrieben, unecht und theatralisch empfundene Person sichtbar. Dementsprechend wechselt die Gegenübertragungsreaktion rasch zu Ärger, Ablehnung, Distanziertheit, einem Gefühl, da sei etwas Unechtes, Unpassendes im Gange, etwas, das darauf hinauslaufen würde, selbst benützt zu werden.
Wenn wir also die fünf erwähnten diagnostischen Signale im Verhalten eines Menschen beobachten können – Selbstbezogenheit, schwache Selbstreflexionsfähigkeit, Hang zum Schwarz-Weiß-Denken, wenig Empathie und hohe Kränkbarkeit – und wenn wir in unserer Gegenübertragung, der sozialen Diagnose, Ambivalenz und ein wiederkehrendes Gefühl der Unechtheit feststellen, dann können wir mit einiger Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass uns eine Person mit narzisstischen Problemen gegenüber sitzt.
Nicht immer zeigt sich Narzissmus so schnell und spektakulär wie in meinem Beispiel, nicht immer ist die Diagnose so rasch und ziemlich zweifelsfrei möglich. Dazu ist das falsche Selbst oft zu feinfühlig, zu sehr imstande, die wirklichen Brüche und Defizite in der Persönlichkeit zu verbergen. Die Diagnose wird meist länger brauchen und eher ein prozessuales als ein punktuelles Geschehen werden.
Zum Abschluss noch einige Gedanken zur Behandlung des pathologischen Narzissmus. Ausführlich darauf einzugehen würde meinen Rahmen hier und heute sprengen. Eine Implikation aus dem bisher Geschilderten möchte ich aber noch aufzeigen.
Sie erinnern sich, dass ich Ihnen – neben der Ambivalenz aus Sympathie und Distanziertheit – noch eine dritte Emotion aus meinem Gespräch mit Frau B. geschildert habe: zu Ende des kurzen Dialogs, als sie sagte: „Aber ich habe es satt, dass ich ein Niemand bin und jeder mich herum schubst!“, spürte ich überraschend schnell Mitgefühl mit ihr. Diese empathische Reaktion erahnt intuitiv das tiefe narzisstische Bedürfnis und die tiefe narzisstische Wunde.
Patienten und Patientinnen mit narzisstischen Problemen werden uns in der Psychotherapie viele Nüsse zu knacken geben. Sie werden sich gekränkt fühlen, von uns und von den Menschen in ihrem Berufs- und Privatleben. Sie werden die immer gleichen Themen mit der immer gleichen Empörung schildern und sie werden in ihre immer gleichen Mechanismen der Ambivalenz zwischen Anziehen und Wegstoßen verfallen (auch und gerade uns gegenüber). Sie werden uns von ihrer Lebensgeschichte wegziehen, wo sie nur können, und sie werden sich standhaft weigern, Emotionen zu ihren traumatisierenden Erfahrungen zu entwickeln.
Wir als Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sind es, die hinter all dieser hochkomplexen Abwehr dieses unendliche Loch, das vor langer Zeit durch die narzisstische Kränkung in die Seele des Kindes gerissen wurde, mit unserer Empathie erahnen und erfühlen müssen. Letztlich ist die Behandlung des falschen Selbst ein langwieriger Prozess der Trauer über all das, was dem Menschen in seinem Leben angetan und um all das, was ihm oder ihr vorenthalten wurde. Dabei werden wir zum Spiegel, unsere Augen sind es, in denen unser Gegenüber sich emotional wiederfinden und in seinem oder ihrem Selbst bestätigt werden kann. Wenn ich mich auf die therapeutische Reise mit einem Menschen mit narzisstischer Persönlichkeit einlasse, weiß ich, dass ich bereit sein muss, mit ihr oder ihm durch seine oder ihre ganz persönliche Hölle zu gehen. Indem ich ihr oder ihm dann mein Mitgefühl für dieses tiefe Leid zurück spiegele, kann die Person sich und ihr wahres Selbst in der Beziehung mit mir finden und die narzisstische Betrachtung des eigenen Spiegelbildes aufgeben.
Die geplante Paartherapie von Frau B. und ihrem Lebensgefährten wurde schon bald zu zwei Einzeltherapien, ihn überwies ich an eine Kollegin, sie blieb bei mir.
Worte würden nur unzureichend beschreiben, von was für Verletzungen ihr ganzes Leben begleitet wurde: eins ihrer Kinder ist durch Verschulden ihres damaligen Partners zu Tode gekommen, Männer misshandelten und verließen sie. Ihre Mutter war eine grausame Sadistin, die sich ständig neue psychische und physische Qualen für sie und ihre jüngere Schwester einfallen ließ, der Vater wurde zum Erfüllungsgehilfen eines wahrhaftigen Infernos an Torturen.
Viel später in der Psychotherapie von Frau B. sagte sie den Satz, den ich seither immer wieder in Psychotherapien verwende und den ich auch schon vorher angedeutet habe: „Dort, wo andere Menschen eine Mutter haben, dort ist bei mir nur eine große Leere.“
Das falsche Selbst soll helfen, diese Leere zu überdecken und dafür zu sorgen, dass sie endlich gefüllt wird. Im Akzeptieren dieses Nichts, im Trauern um all das, was war und um das, was niemals sein durfte, wird allmählich das wahre, das echte Selbst sichtbar. Es ist ein verletztes und zutiefst gekränktes Selbst, aber eines, dass all das überstanden und ertragen hat, ein Ich, dass sich all dessen bewusst sein darf und das auf sich selbst stolz sein kann.
Ein letztes Zitat von Frau B. zum Schluss:
„Heute Morgen habe ich mich lange im Spiegel angesehen, ganz ungeschminkt, so, wie ich aus dem Bett gekommen bin. Was für traurige Augen sind das, habe ich mir gedacht, was für ein trauriges Mädchen bin ich doch. Was für ein liebes Mädchen bist du, hab‘ ich dann zu mir gesagt, aber keiner hat das gesehen. Und dann hab‘ ich so sehr weinen müssen – und hab‘ mir gedacht, was das Leben doch für ein merkwürdiges Ding ist, aber es ist mein Leben, und ich will es genauso haben, wie es ist!“