2014: Der Bockerer (Becher/Preses)

„Die Vertilgung als solche is ganz einfach“: Kain und wir

Die Geschichte des Karl Bockerer und der Figuren um ihn herum zeigt uns viele Seiten des Menschen: Heldentum, Humor, Liebe, Sehnsucht, Verzeihen, Illusionen, Verführbarkeit,  Verleugnung, Angst, Kriechertum und mehr. Aber am schonungslosesten zeigt sie uns die Seite, die wir am wenigsten an uns sehen wollen: das Böse.
Wie viel ist schon geschrieben und gedacht worden über ‚Furcht und Elend des Dritten Reiches’ (Bertolt Brecht), und wie viel wird im kommenden Jahr noch dazu kommen, wenn sich das Ende des 2. Weltkriegs und die Befreiung von Auschwitz zum 70. Mal jähren. Über die Angst der Menschen wird zu lesen und zu hören sein, über ihre Verblendung, über den historischen Kontext, über die Sehnsucht nach Führer- und Vaterfiguren. Und all das wird eines nicht erklären: wie wenig es braucht, um das Böse, die dunkle Seite in uns auszulösen.
Das Nazi-Regime war für all seine (überzeugten und weniger überzeugten) Parteigänger die Möglichkeit, uneingeschränkt und staatlich legitimiert böse sein zu dürfen, gnadenlos böse. Am eindringlichsten wird uns dieses schrankenlos ausgelebte Böse in zwei Szenen des ‚Bockerer’ vor Augen geführt: In den emotionslos geschilderten Massenmorden der Wehrmacht in Russland durch den SA-Mann und Gestapohandlanger Gstettner, und im Bericht des Berliner Flüchtlings Knabe über den schrecklichen Tod des Dichters und Anarchisten Erich Mühsam im KZ Oranienburg.
‚Mühsam. Er war een Dichter. Dem ham se die Ohren abjeschnitten, dann ham se’n totjeprügelt, dann ham se die Leiche in seiner Zelle uffjehängt, und dann ham se behauptet, er hätt sich selber das Leben jenommen.“
Erich Mühsams Schicksal ist authentisch, er hat wirklich gelebt und ist genau so gestorben, wie Knabe es berichtet. Ernst Jünger hat ihn beschrieben als „einen der besten und gutmütigsten Menschen, denen ich je begegnet bin.“ Was bringt Menschen dazu – und zwar ausdrücklich nicht pathologische Psychopathen, sondern ganz ‚normale Menschen’ – so etwas zu tun? Offensichtlich mit Lust zu tun? Hier scheitert auch die Psychologie, so effektiv sie auch in der Analyse innerer psychodynamischer Prozesse des Menschen und seiner sozialen System ist. Hier bleibt uns nur mehr fassungslose Betroffenheit. Und die Erkenntnis, dass es offensichtlich ‚normal’ ist – das Böse in uns. Es ist Teil unseres Menschseins, so sehr wir es auch gerne verleugnen würden, so gerne wir auch glauben würden, dass es immer nur die Anderen sind. Auch im ‚Bockerer’  geht alles nur scheinbar gut aus. Zum Ende des Stückes sagt der aus der Emigration zurückkehrende Jude Rosenblatt: „Man trifft hier so gut wie keine Nazi mehr. Und alle anderen sind nie welche gewesen oder haben von allem nichts gewusst. Ganz formidabel.“
Eure geballten Fäuste schrecken mich nicht
                                                noch eure strengen, satzunggebundenen Ruten.
              Ihr - ich erkenn es - seid die Gerechten und Guten,
        und nur euch strahlt lächelnd das Sonnenlicht.
     Speit mich an! Verachtet mich! Werft mich mit Steinen!
      Zeigt euern Kindern mein häßliches Gottesmal!
               Lehrt sie, daß ich ihn erschlug, den vortrefflichen Abel,
           meinen Bruder, erkeimt an dem nämlichen Nabel!                                          (...)Brudermörder ihr selbst — und tausendfach schlimmer!
 
Aus euerm Scheiterhauf raucht meines Herzbluts Dampf.
      Trag ich so gut als ihr nicht Menschengesicht?
         Aufrecht steh ich vor euch und fordre mein Teil!      Gebt mir Freiheit und Land! — Und als Bruder für immer            
 kehrt euch Kain zurück, der Menschheit zum Heil!                                      
    Erich Mühsam, Kain (1911)

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