2015: Fouls (Rathke)
„I möchte gar ned wissen, wer i bin. Weil, vielleicht bin i a einzige Enttäuschung“: Das wahre und das falsche Selbst
Von Anfang unseres Lebens an wollen wir die Menschen sein und werden, die wir sein und werden können: wir wollen unsere Identität, unser Selbst finden. Das ist ein komplizierter und mühsamer Prozess, in dem wir auf die Menschen in unserer Umgebung und die Beziehung zu ihnen angewiesen sind. Sie teilen uns in unserer Kindheit mit, wer wir sind und wer wir ihrer Meinung nach sein sollen. Wenn wir Glück haben, dann sind die Grenzen, die man uns setzt, flexibel und sie werden liebevoll gegeben. Dann können wir unser „wahres Selbst“ entdecken. Wir erproben unsere Möglichkeiten, können die verschiedenen Rollen einnehmen, die das Leben von uns verlangt und in die wir uns selbst freiwillig begeben: als Mann, als Frau, als Mutter oder Vater, als Nachbar, als Freundin, in unseren Berufen. Doch viele von uns haben diese Möglichkeit nicht: sie werden in Vorstellungen, Bilder und Wunschprojektionen ihrer Eltern oder anderer Bezugspersonen hinein erzogen.
„Wenn das, was ich bin, zu viel oder zu wenig ist, wenn ich zu viel oder zu wenig Energie habe oder zu sexuell oder nicht sexuell genug bin, zu stimulierend oder nicht stimulierend, zu frühreif oder zu langsam, zu unabhängig oder nicht unabhängig genug... dann kann ich mich nicht frei selbst verwirklichen. (...) Der Versuch des Kindes, so zu sein, wie die Umwelt es haben möchte, ist das falsche Selbst“ sagt der amerikanische Psychoanalytiker Stephen M. Johnson.
Genau um das geht es In „Fouls“ - um die verzweifelten Versuche von Menschen, ihre Identität zu finden. Gabi, die weibliche Hauptfigur, bringt es gegen Schluss des Stückes auf den Punkt: „I weiß ned, was i bin. I bin, was die andern g’sagt haben, was i sein soll. Was die Mama g’sagt hat, hart soll ma sein und stark und keine Tränen.“ In der grotesken Umkehrung der traditionellen Rollen im Stück – Frauen sind so, wie sonst Männer und umgekehrt – wird deutlich, wie schwierig es für uns ist, zu unserem wirklichen Mensch-Sein zu finden. Die starren weiblichen und männlichen Rollen zementieren uns im „falschen Selbst“ ein. Sie sind die ersten, die uns vermittelt werden: „Ein Bub weint doch nicht!“, „Sei nicht so wild, du bist doch ein Mädchen!“ – und sie sind die maßgeblichsten für unser Leben. Wir sind ja nicht neutrale Menschen an sich, sondern wir sind Menschen als Männer und Frauen. Daher brauchen wir gewisse Regeln dafür.
Je mehr wir im „falschen Selbst“ leben, umso größer wird das Unbehagen damit. Unbewusst fühlen wir eine Sehnsucht nach mehr, eben nach dem „wirklichen Selbst“, unserem ganzen Menschsein. Die Grenzen, an die wir dabei stoßen, sind schmerzhaft. Fast in jedem Satz von „Fouls“ werden sie deutlich. Dadurch wächst die Angst, nicht geliebt zu werden, und für Liebe bringen Menschen so gut wie jeden Preis, wenn es sein muss, auch ihr wirkliches Menschsein. Also klammern sie sich umso entschiedener an ihre starren Rollen und kommen in diesem Teufelskreis nicht aus dem „falschen Selbst“ heraus.
Was wir in „Fouls“ sehen, ist gewissermaßen Theater im Theater: die Schauspielerinnen und Schauspieler spielen Menschen, die wiederum spielen, allerdings nicht freiwillig: sie spielen geradezu zwanghaft ihre Geschlechtsrollen, versuchen verzweifelt, auszubrechen und zu sich selbst zu finden – und landen doch wieder dort, wo sie angefangen haben: beim „falschen Selbst“.
Niemand trifft dieses Dilemma so gut wie William Shakespeare, der Meister des Theaters und der vielleicht größte Kenner der Abgründe der menschlichen Seele:
Die ganze Welt ist Bühne
Und Frau’n und Männer bloße Spieler.
Sie treten auf und wieder ab,
Sein Leben lang spielt einer manche Rollen,
Durch sieben Akte hin.
(Wie es Euch gefällt, 2. Aufzug, 7.Szene)