2019: In der Löwengrube (Felix Mitterer)
„Ich verfluche diesen Tiroler Golem, den ich aus mir geschaffen habe.“
Wie das Böse uns zum Bösen verführt
Das Theater in der Josefstadt in Wien in den Jahren 1938/39. Die Nationalsozialisten haben die Macht übernommen, auch in der Welt des Theaters. Bisher wenig profilierte Schauspieler haben nun als „Betriebszellenorganisation“ das Sagen. Es ist die Stunde der Underdogs und der Mitläufer. Sie sorgen dafür, dass die Schauspieler sich am Ende der Vorstellung nicht mehr „hündisch“ verbeugen, sondern mit Hitlergruß abgehen. Vor allem wird das Theater arisiert, die Stücke, aber und besonders das Ensemble. Der jüdische Schauspieler Arthur Kirsch, der Held von Felix Mitterers Stück, wird verspottet, gedemütigt und entlassen, er muss den Boden des Theaters schrubben. Besonders zwei Männer können nun, in der Stunde des an die Macht gekommenen Bösen, alle bisherigen sozialen Tabus überwinden und selbst hemmungslos böse und menschenverachtend werden: der im Grunde selbstunsichere Strassky („Ich fühl mich wohl, wenn ich herumbrüllen kann“) und der „alte Schmierenkomödiant“ Polacek. Empört werden wir Zeugen von Kirschs Erniedrigung, nachdem er vorher als Shylock in Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ dessen flammendes Plädoyer für die Menschlichkeit berührend deklamiert hat: „Hat nicht ein Jude Augen? (…) Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?“
Doch Kirsch nimmt grausame Rache. Getarnt als das schauspielerische Tiroler Naturtalent Benedikt Höllrigl, als hundertprozentiger Arier und systemtreuer Nazi, kommt er zurück an die Josefstadt und wird dort als Wilhelm Tell bejubelt. Selbst der Reichspropagandaminister Goebbels ist begeistert. Mit Befriedigung erleben wir, wie er den SA-Mann Strassky der „Rassenschande“ überführt und wie er Polaceks angeblich „jüdisches Aussehen“ anprangert. „Ich diffamiere das ganze System“, sagt er, und wir empfinden Genugtuung, als Strassky und der halbverrückt gewordene Polacek von der Gestapo abgeführt werden. Böses wird mit Bösem vergolten, und ist das nicht in Ordnung so?
Doch da erkennt Kirsch, dass er als Höllrigl das System des Bösen nicht entlarvt hat, sondern selbst Teil davon geworden ist. Auch die an die Macht gekommenen Underdogs ließen sich dazu verführen, etwas zu tun, was ihnen als „Gerechtigkeit“ suggeriert wurde. Fast alttestamentarisch ruft er: „Ich verfluche diesen Tiroler Golem, den ich aus mir geschaffen habe.“ Wir können uns vorstellen, was mit den beiden Abgeführten geschehen wird: Strassky kommt ins Gestapo-Hauptquartier im Hotel Metropol am Morzinplatz zu Folter und Misshandlung, und Polacek auf die Psychiatrie, wo er das Opfer von Menschenversuchen werden wird. Auch wir haben uns so wie Arthur Kirsch zum Bösen verführen lassen – denn auch Strassky und Polacek sind Menschen, die bluten, wenn man sie sticht. Auch sie sind Menschen.
„Die beste Vergeltung ist es, nicht zu werden wie dein Feind.“ (Marcus Aurelius, römischer Kaiser und Philosoph)