2021: Der Revisor (Nikolai Gogol)
„Wir stecken fest in diesem Kaff!“– und in uns selbst.
Sein und Schein: Echte Identität oder nur äußere Hülle
„In unsrer Familie war nie wer was. Der Urgroßvater war Bauer, sein Sohn war auch nicht mehr. Und mein Vater war auch ein Niemand. Von mir will ich gar nicht reden.“ Der Bürgermeister der kleinen (fiktiven? oder doch nicht so realitätsfernen?) Mühlviertler Marktgemeinde bringt in diesen Sätzen das Dilemma all der Personen auf den Punkt, die die Neufassung von Nikolai Gogols „Revisor“ bevölkern. Sie sind auf der Suche nach dem, was wir alle finden wollen: unser Ich, unsere unverwechselbare persönliche Identität, die Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ Wenn Sie selbst sich diese Frage stellen, werden Sie vielleicht wie viele Menschen zuerst Antworten auf die Frage „Was bin ich“ finden: Frau, Vater, Oberösterreicher, Angestellte, Obfrau, Selbständiger… Doch in all dem sind Sie ja nicht unverwechselbar, noch nicht besonders und individuell. Auch die Protagonisten unseres Stücks definieren sich als Bürgermeister, Amtsleiter, IT-Techniker, Gemeinderätin, Gattin, Tochter. Sie versuchen, diese ihre Rollen durch Einfluss und Macht zu unterstreichen, vor allem durch schmutzigen Einfluss und illegal ausgeübte Macht. So verfolgen sie die Wunschvorstellung, „mehr“ zu werden, mehr sie selbst. Natürlich funktioniert das nicht, so finden sie nicht ihr wirkliches und stimmiges Ich, sondern nur eine äußere Hülle, die sie sich in leuchtenden Farben ausmalen. So wollen sie ihre innere Leere, ihr Minderwertigkeitsgefühl kompensieren und das Feststecken in sich selbst überspielen.
Dieses innere Gebäude gerät gefährlich ins Wanken, als die Ankunft eines Revisors angekündigt wird, der die Gemeinde auf Herz und Nieren prüfen soll. In ihrer Angst halten sie alle den Schmarotzer Gernot Perowitzer, der eigentlich zufällig im Ort ist, für diesen mächtigen Mann. Jeder und jede für sich wollen sie ihn skrupellos bestechen, ihm schmeicheln und gleichzeitig alle anderen betrügen und entlarven. Doch Gernot beherrscht die gleiche Kunst wie sie, nur viel besser: die innere Leere durch eine äußere Hülle zu übertünchen. Wir erleben, wie jede der Personen auf der Bühne von der Angst besessen ist, ihre geheimen Machenschaften könnten ans Tageslicht kommen. Wir sind dabei, wie sie ihre flüchtigen Triumphe auskosten, vielleicht doch ihre Macht und damit ihre Schein-Identität wahren und womöglich ausbauen zu können. Und während wir amüsiert diese Verwicklungen beobachten, können wir vielleicht Ähnlichkeiten mit machen Personen des öffentlichen Lebens und der Psychodynamik hinter ihrem Handeln entdecken.
Wohin man auch geht, sich selbst entkommt man nicht.
Haruki Murakami, japanischer Schriftsteller