28 Geschichten von Liebe und Nicht-Liebe
GESCHICHTEN VON LIEBE UND NICHT-LIEBE
Märchenhafte Wege in das Skript und aus dem Skript
Vortrag auf der Märchentagung 2016 des VPA
Linz, April 2016
Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes,
Welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung,
Vieler Menschen Städte gesehn, und Sitte gelernt hat,
Und auf dem Meere so viel' unnennbare Leiden erduldet,
Seine Seele zu retten, und seiner Freunde Zurückkunft.
So beginnt eine der wohl berühmtesten und meistgelesensten Geschichten der Weltliteratur: die Odyssee, die Gesänge Homers über die Irrfahrten des listenreichen Odysseus. Zehn Jahre belagerte er mit dem griechischen Heer Troja, zehn weitere irrte er über das Meer, bis er nach vielen Abenteuern endlich heimkehrte zu seiner treu auf ihn wartenden Frau Penelope.
Sie war meine Lieblingsgeschichte, die Odyssee, seit ich ein Volksschüler war – denn ihr Held musste Unglaubliches erdulden und meistern, stark und tapfer sein, bis er endlich ein glückliches Ende erleben durfte. Dieses Thema ist mir auch in vielen anderen Büchern begegnet. Geht es nicht beispielswweise auch im Herrn der Ringe um das gleiche Thema oder in vielen Romanen von Charles Dickens? In Goethes „Faust“ finden wir es ebenso wie in Shakespeare Komödien.
Als ich in meiner Ausbildung zum Transaktionsanalytiker schon bald über das Konzept des Skripts hörte, diesen unbewussten Lebensplan, war ich von einer Idee dazu besonders fasziniert: Eric Berne, der Begründer der TA, meint, dass Menschen mit diesem Lebensplan dem Muster von bekannten Mythen, Märchen und Sagen folgen – Sisyphus zum Beispiel oder auch Herakles. Wir alle in der Ausbildungsgruppe diskutierten über unsere Skriptvorbilder; für mich war die Antwort klar: es war Odysseus.
So weit war ich in meinem Manuskript zu diesem Vortrag vor etwa einem Jahr gekommen, dann rückten andere Dinge in den Vordergrund: meine Bücher über Führung und über Paare wollte fertiggestellt werden. Im letzteren griff ich das Märchenkonzept wieder auf und brachte es in Verbindung mit einem anderen Aspekt aus der Transaktionsanalyse: den fünf Antreibern. Odysseus dient in dem Buch einem der Protagonisten aus den Fallbeispielen als Vorbild für seinen Antreiber „ich muss stark sein und alles ertragen“. Wunderbar, dachte ich, das kann ich in dem Vortrag für die Märchentagung 2016 verwenden.
Wieder musste ich die Weiterarbeit daran verschieben. Das Buch musste endredigiert werden, der Verlag wollte unmittelbar danach ein weiteres Buch, wieder über Führen, und möglichst gleichzeitig noch eines über Skript, mein Vortrag auf der Kinder- und Jugendtagung des VPA im Herbst hatte Priorität, ebenso meine Teilnahme an einem Kongress in Frankreich. Keine Sorge, dachte ich mir, ich greife auf mein bewährtes Konzept zurück: ich erzähle Geschichten, mische sie mit Theorie und Fallbeispielen. Und dann, über die Weihnachtsfeiertage, kamen mir Zweifel. Was tust du da, dachte ich mir? Auf einer Tagung über Märchen und Geschichten erzählst du wieder Märchen und Geschichten? Noch dazu, wo du erst am zweiten Tag dran bist? Ist das nicht so, als ob man jemandem, der einen Tag lang jede Menge Kuchen gegessen hat, am zweiten Tag dann eine richtig schwere Malakofftorte anbieten würde?
Ich brauche einen anderen Einstieg, dachte ich mir. Ich will die Menschen, die zu meinem Vortrag kommen, aus ihrer Kuchen-Komfortzone holen. Ich könnte mit einer völlig unkonventionellen Übung beginnen. Ich könnte ... Nein, meldete sich da eine andere Stimme in mir zu Wort, das geht nicht. Die kommen mit der berechtigten Erwartung auf einen interessanten Vortrag, manche, die mich vielleicht schon kennen oder von mir gehört haben, kommen, weil sie genau das wollen: mich Geschichten erzählen hören, um sich aus der Theorie etwas für ihre eigene Arbeit mitnehmen zu können. Ich habe nicht das Recht, sie aus ihrer Komfortzone zu holen. Also machte ich mich wieder an die Arbeit. Aber ich war nicht mehr mit dem gleichen Spaß dabei wie damals, als ich den Anfang schrieb, den Sie vorher gehört haben. Nutzt nichts, dachte ich mir, da musst du durch. Diszipliniere dich, das kannst du.
Und da wurde mir klar, was ich da tat: ich war schon wieder Odysseus, der sich durch ein neues Abenteuer kämpft und stark sein und alles ertragen muss. Aber da fühlt er sich sicher, so paradox das klingen mag: er ist in seiner Komfortzone. Stark sein und durchhalten, das kann er.
Ich kann Ihnen natürlich jetzt Geschichten erzählen, über Antreiber, über Skript, über Märchen, über meine Arbeit mit Menschen. Ich kann Sie in Ihrer Tagungs-Komfortzone lassen und mich selbst in meiner Geschichtenerzähler-Komfortzone. Und keine Sorge, ich werde das auch tun. Aber vorher möchte ich Ihnen einen Gedanken mitgeben: wie wollen wir den Menschen, mit denen wir als Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten arbeiten, helfen, die Komfortzone ihres Leidens, ihrer Konflikte, ihres Skripts zu verlassen – wenn wir selbst nicht immer wieder aus unserer eigenen Komfortzone herausgehen? Und bedenken Sie: solange wir in unserem Antreibersystem, in unserem Skript insgesamt drin sind, sind wir in unserer Komfortzone. Es ist nur more of the same, nichts Neues.
Was läge für Odysseus jenseits seiner Komfortzone? Doch nicht immer neue Abenteuer mit der Zauberin Kirke, dem Riesen Polyphem, den Meeresungeheuern Skylla und Charybdis. Daheim zu bleiben und nicht in den Trojanischen Krieg zu ziehen: was für ein undenkbarer Schritt für den König von Ithaka im Griechenland um das Jahr Tausend vor Christus! Einfach abzuhauen nach Jahren der erfolglosen Belagerung der Stadt – wie weit heraus aus der Komfortzone eines Helden!
Wie bitte? Das Skript, der unbewusste und destruktiv ausgedrückte Lebensplan, soll eine Komfortzone sein? Menschen zerstören ihre Paarbeziehungen, ihren beruflichen Erfolg, ja manchmal sich selbst, leiden unter qualvollen Ängsten, sind nicht die, die sie sein können? Das soll eine Komfortzone sein? Eric Berne sagt dazu in seinem letzten Buch, Menschen kämen im Grunde zur Therapie mit dem Wunsch „Wie lebt man komfortabler, während man sich an den beiden Seitenwänden eines Tunnels festklammert?" Und wahrscheinlich kommen Menschen auch zu Vorträgen und Tagungen mit dem Wunsch, durch einige Anregungen ein wenig komfortabler dasselbe eigene Konzept ihres therapeutischen Berufes ausüben zu können, indem sie vielleicht ein bisschen weniger stark sein, sich ein bisschen weniger anstrengen, ein bisschen weniger beeilen, ein bisschen weniger perfekt sein oder es anderen ein bisschen weniger recht machen müssen. Wahrscheinlich wollen auch Vortragende sich ein bisschen komfortabler in ihrem Tunnel festklammern, indem sie ihre eigenen Ideen oder die anderer noch ein bisschen eleganter wiederkäuen und daraus wohschmeckende Kuchen formen.
Wir bilden unser Skript in äußerst unkomfortablen und einschränkenden frühen Lebens- und Beziehungsbedingungen. Wir bekommen zu wenig Liebe, uns werden zu viele oder zu wenig Grenzen gesetzt, wir sollen nicht die sein, die wir sind, sondern anders. Wir werden seelisch und manchmal auch körperlich misshandelt, wir werden allein gelassen, wir werden beschämt und verängstigt, wir sollen nicht fühlen, was wir fühlen, sondern etwas Anderes. Mit diesem finsteren Tunnel sollen wir zurechtkommen, und wir tun das, indem wir zuerst Mechanismen zur Abwehr unserer Gefühle entwickeln. Wir spalten sie ab, wir verdrängen sie, wir ersetzen sie durch andere. Wir versuchen, uns das alles mit einem Überbau an Glaubenssätzen erträglich zu machen: so ist es eben, für mich gibt es halt in diesem Leben nicht genug Liebe.
Sehen Sie? Jetzt sind wir alle wieder in unserer Komfortzone. Ich habe begonnen, Ihnen eine Geschichte zu erzählen, die ich in dieser oder anderen Form schon unzählige Male erzählt habe. Und Sie haben Sie schon oft gehört: in Ihren Ausbildungen, in Ihren Lehranalysen, von Ihren Klientinnen und Klienten. Vielleicht in anderen theoretischen Bezugsrahmen, mit anderen Worten - aber neu ist es für uns alle nicht. Es ist auch nicht mein missionarisches Ziel, Sie und mich unentwegt aus der Komfortzone zu führen. Ich will sie nur darauf hinweisen, wie schnell wir uns hineinbewegen, um am Ende zu glauben, Sie hätten etwas Neues gelernt und ich hätte Ihnen etwas Neues erzählt.
Und es ist ja auch nichts Schlechtes, sich eine Komfortzone einzurichten. Das brauchen wir, um uns in dieser schwierigen Welt zurechtzufinden. Der Mensch, der unter einer Angstneurose leidet, leidet natürlich darunter, Angst ist ja nichts Angenehmes. Aber er oder sie fühlt sich in dieser stereotypen Reaktionsweise auf jede Art von subjektiver oder objektiver Bedrohung sicher, sie oder er kann sich Vermeidungsstrategien überlegen, die sein oder ihr Leben natürlich einschränken - aber sie oder er muss es nicht verändern. Und Geschichten sind ein ganz wichtiger Faktor für unsere Komfortzone. Erinnern Sie sich beispielsweise an Ihre Lieblingsserie im Fernsehen, als sie ein Kind waren. In Folge auf Folge wurden Ihnen die Geschichten von Heidi, von Wicki, von Pippi Langstrumpf erzählt, und Sie fühlten sich darin wohl und sicher. Denken Sie an die Titelmelodie, das Titellied. Ich bin mir sicher, dass Sie es sofort singen könnten. Merken Sie, wie schon der Gedanke daran Sie wohlig in Ihre Komfortzone bringt?
Kinder sind immer empfänglich für Geschichten, sie leben in ihnen und sie erzählen sie sich selbst weiter. Ob sie ihnen vorgelesen werden, ob sie sie selbst lesen, ob sie sie im Fernsehen sehen: manche dieser Geschichten erinnern sie an sich selbst. Sie fangen an, sich damit zu identifizieren. Denn diese Geschichten gehen ja gut aus. Pinocchio kommt zum alten Gepetto zurück und Heidi wieder auf die Alm. Aschenputtel bekommt ihren Prinzen und Odysseus seine Penelope und sein Königreich Ithaka. Sie müssen natürlich dafür Besonderes vollbringen, sie müssen Zeiten der Nicht-Liebe ertragen und schwierige Aufgaben meistern, aber am Schluss bekommen sie dann dieses wunderbare hingebungsvolle Gefühl des Geliebtwerdens und des Liebens.
Ich habe Ihnen vorher einen kurzen Abriss der Geschichte eines Kindes in seinen ersten etwa acht bis zehn Lebensjahren gegeben, die ersten Kapitel seiner Geschichte von Liebe und Nicht-Liebe. In dieser Zeit findet es heraus, wie es mit seinem finsteren Tunnel zurechtkommen kann. Es ist mit subtilen und weniger subtilen Botschaften seiner Beziehungspersonen konfrontiert (in der TA nennen wir sie „Einschärfungen“), die zum Beispiel heißen können:
- Sei nicht so, wie du bist!
- Sei kein Mädchen (oder kein Junge)!
- Werde nicht erwachsen!
- Sei kein Kind!
- und andere.
Die authentischen Gefühle, die es darüber empfindet, wehrt es durch Mechanismen wie z.B. Verdrängung, Abspaltung, Introjektion, Projektion ab und ersetzt sie durch andere. Um das Ganze verständlich zu machen, entwickelt es Glaubenssätze über sich selbst, über andere Menschen und die Welt. In der Transaktionsanalyse sagen wir: es bildet sein Skript, seinen unbewussten Lebensplan, heraus.
Haben Sie noch Platz für ein weiteres Stück Kuchen? Eine Geschichte in der Geschichte? Es ist die Geschichte von Julia, die grausam aus ihrer kindlichen Komfortzone gerissen wurde und sehr darum kämpfen musste, sich wieder eine neue zu schaffen.
Julia ist das zweite von zwei Kindern, sie hat einen vier Jahre älteren Bruder. Über ihre ersten Jahre weiß ich bisher nichts, denn als sie dreieinhalb war, verunglückte ihr Vater tödlich, und dieses Ereignis ist in ihrer Therapie – sie ist mittlerweile zwanzig - so dominant und sie hat so wenig Informationen über die Zeit davor, dass wir darauf noch keinen Blick werfen konnten. Die einzigen Dinge, die ihr erzählt wurden, waren, dass sie nach dem Tod ihres Vaters lange Zeit noch täglich am Fenster auf sein Kommen gewartet und immer wieder die Frage gestellt habe: wann kommt denn der Papa wieder? Und: sie sei ein erstaunlich fröhliches Kind gewesen. Erst gegen Ende des Volksschulalters setzen eigene Erinnerungen ein. Sie war damals in psychotherapeutischer Behandlung, weil sie (ihrer Erinnerung nach) nächtliche Alpträume gehabt habe und schlafgewandelt sei. In dieser Behandlung wurde auch der Tod ihres Vaters bearbeitet. Ihre Pubertät sei dann „normal“ verlaufen, sie sei halt immer ein schüchternes Mädchen gewesen. Jetzt kommt sie auf Vorschlag ihrer Mutter zu mir, weil sie möglicherweise depressiv sei. Sie erlebe sich als lustlos, könne sich nicht zum Studium motivieren, beende Beziehungen nach nur kurzer Zeit. Ihre Mutter und ihr Stiefvater seien besorgt, weil sie immer so ein braves und leistungswilliges Mädchen gewesen sei.
Julia kann sich auf all das keinen Reim machen. Mit dem Tod ihres Vaters könne das alles wohl nicht mehr zusammenhängen, das sei ja in der Kinderpsychotherapie verarbeitet worden, und die Alpträume und das Schlafwandeln hätten ja auch aufgehört.
Ich denke, es ist an der Zeit, Sie wieder aus der Zuhörerinnen-Komfortzone zu holen, bevor ich Ihnen meine therapeutischen Hypothesen und meine Vorgangsweise schildere. Nehmen Sie sich bitte einige Augenblicke Zeit und denken Sie sich in dieses Kind hinein, das Julia vor 17 Jahren war. Vielleicht schließen Sie die Augen und stellen sich vor, Sie stehen da am Fensterbrett und fragen „Wann kommt denn der Papa wieder?“ Und Sie bekommen keine Antwort, die Sie zufriedenstellt. Nie wieder, er ist im Himmel bei den Engeln – was soll ein noch nicht vierjähriges Kind damit anfangen? Sie versuchen, sich – so gut das ein kleines Kind eben kann – an ihn zu erinnern, aber da kommen keine wirklichen Bilder. Man zeigt Ihnen Fotos, aber der Mann darauf, der Sie als Baby hält, löst nichts in Ihnen aus. Sie können ja nicht einmal begreifen, dass Sie dieses Baby waren. Die Erwachsenen beobachten Sie mit merkwürdigen Blicken. Manchmal schnappen Sie Gesprächsfetzen auf wie: sie versteht das ja noch nicht, gut, dass sie noch so klein ist. Da kann sie sich ja gar nicht mehr erinnern. Sie fühlen sich – ja: wie fühlen Sie sich?
Mutmaßungen, Hypothesen, Erklärungsversuche. Mehr bleibt uns nicht, um einen Zugang zu Julia zu finden. Wir haben nicht viel mehr als diese vereinzelten biografischen Puzzleteile – und ihre Gegenwart. Ihre Gegenwart, in der sie sich leer, allein und ohne Lebensfreude empfindet. Und sich keinen Reim darauf machen kann. Aber vielleicht ist das ja genau das, was dieses kleine Mächen in seinem Inneren erlebt hat. Vielleicht hat sie ja genau darauf ihr Skript aufgebaut: auf der Abwehr ihrer Gefühle von tiefer Trauer und Zorn darüber, dass ihr niemand sagt, was los ist. Auf Glaubenssätzen wie: ich werde immer allein bleiben. Und noch mehr: ich bin dumm, ich verstehe nicht, was los ist. An einer Stelle in der Therapie sagt sie: ich bin sowieso zu dumm für ein Studium. Tatsächlich aber ist sie eine ausgesprochen kluge junge Frau, die sehr viel und scharfsinning über das nachdenkt, was wir in den Therapiesitzungen besprechen.
Komfortzone? Sehr komfortabel ist das nicht, wie sich die kleine Julia in ihrem Leben einrichtet. Und doch: es ist aus ihrer Sicht die sinnvollste Lösung. Soll sie aufbegehren? Sagen, dass die Menschen endlich mit ihr reden sollen? In Trauer verfallen – mit einer Mutter, die selbst tief trauert? Was würde das helfen? Nein: sie wird ein braves und fröhliches Kind, das all die Leere in seinem Inneren versteckt, wenig Anforderungen an ihre Umwelt stellt, in der Schule brav leistet, auch den neuen Stiefvater widerspruchslos akzeptiert. Ihr revoltierendes Unbewusstes, das sich in Alpträumen und im Schlafwandeln manifestiert, stellt sie selbst wieder ruhig, indem sie ebenso brav alles tut, was die Kindertherapeutin ihr rät (und ich will jetzt nicht die Kompetenz dieser Kollegin in Frage stellen, die ich gar nicht kenne; niemand von uns kann weitergehen, als unsere Klientinnen und Klienten uns lassen).
Natürlich spürt die kleine Julia, dass diese Komfortzone einen entscheidenden Nachteil hat: sie bekommt nicht die Aufmerksamkeit, die Beachtung, die Liebe für ihr So-Sein, die sie – wie jeder Mensch – braucht. Das ist genau der entscheidende Punkt, an dem vermutlich ihre Schlafstörungen und ihr pavor nocturnis ausgebrochen sind. Der nicht mehr so kleine Mensch spürt, dass seine Skript-Strategien nur momentane Erleichterung verschaffen, aber zu wenig Zukunftsperspektive haben. Wir alle durchleben so eine Phase in unserer Skriptentwicklung; es ist die Stelle, an der die Antreiber, die ich vorhin erwähnt habe, ins Spiel kommen. Die Antreiber, aber vor allem die Märchen, die Geschichten, die Sagen.
„Antreiber“ nennen wir in der Transaktionsanalyse die mächtigen Motivatoren, die Menschen sich zu eigen machen, um einen Ausweg aus dem Skript zu finden, der sie letztlich doch nur weiter hineinführt. Sie sollen eine Strategie sein, um diesen Geschichten von Nicht-Liebe zu entrinnen und sie zu Geschichten von Liebe zu machen. Unser prototypisches Kind ist mittlerweile – wie auch Julia – größer geworden, irgendwo zwischen acht und zwölf Jahren alt. Es kann gut logisch und schlussfolgernd denken und verknüpft das mit der ihm vertrauten magischen Welt, in der Wunder, gute Feen und starke Helden noch möglich sind. Es reflektiert, teils bewusst, teil unbewusst, seinen Tunnel, in dem es feststeckt, und es erkennt zum Beispiel:
- ich muss stark sein und ganz viel erdulden – dann kommt eines Tages alles zu einem guten Ende und ich werde geliebt, so wie ich bin
- oder: ich muss immer alles perfekt machen, dann wird die Welt endlich sehen, was für ein liebenswerter Mensch ich bin
- oder: ich muss es allen immer recht machen, dann werden sie mich lieben, wie ich bin
- oder: ich muss mich immer anstrengen, dann werde ich eines Tages endlich Liebe erringen
- oder: ich muss mich ständig beeilen, dann wird mir Liebe geschenkt werden.
Verkürzt in ihrer populären Form heißen die fünf Antreiber:
- Sei stark!
- Sei perfekt!
- Mach’s allen recht!
- Streng dich an!
- Beeil dich!
Warum habe ich Odysseus zu meiner Lieblingsgeschichte gemacht – und Winnetou zu meiner zweiten? Ja, und natürlich auch Donald Duck! Warum waren für Sie in Ihrer Kindheit Heidi, Wicki, Aschenputtel, das häßliche kleine Entlein oder was oder wer immer ihre Lieblingsfigur? Warum finden wir uns in diesen Gestalten wieder, warum identifizieren wir uns mit ihnen? Lassen Sie mich diese Geschichte unserer Geschichten an der Geschichte von Julia beschreiben – als ich ihr eine Geschichte erzählte. Das ist eine Technik, die ich manchmal spontan in Therapien anwende und die ich der Hypnosetherapie entnommen habe, wie ich sie von Milton Ericksons Schüler Jeff Zeig gelernt habe. Und manchmal gehe ich dabei aus meiner Therapeuten-Komfortzone heraus und komme selbst in diesen Geschichten mit meiner eigenen Geschichte vor.
In einer Therapiesitzung, als Julia wieder vergeblich ihre Erinnerungen danach durchforschte, wie denn ihr Leben als Schulkind gewesen sei, sagte ich:
Therapeut: Julia, wir müssen vielleicht gar nicht wissen, wie es wirklich gewesen ist. Wir können uns ja vorstellen, wie es sein könnte.
Julia: Wie meinen Sie das?
Therapeut: Wir können uns ja einfach eine Geschichte vorstellen. Ich kann Ihnen eine Geschichte erzählen. Oder genauer gesagt den Beginn.
Julia: Ja?
Therapeut: Eine Geschichte von einem kleinen Mädchen, das gerade auf dem Nachhauseweg von der Schule ist. Sie ist vielleicht sechs oder sieben, und auf ihrem kleinen Rücken trägt sie eine große Schultasche. Sie geht da an der Straße entlang –
Julia: Sie wartet auf den Schulbus.
Therapeut: Sie wartet auf den Schulbus. Ganz alleine steht sie da an der Haltestelle. Keine anderen Kinder sind da.
Julia: Die anderen Kinder sind eh nicht so interessant. Die lenken sie immer ab von ihren Gedanken.
Therapeut: Und so wird sie heute nicht abgelenkt, und sie steht da und denkt. Sie denkt –
Julia: - über das Leben nach. Und warum alles so komisch ist.
Therapeut: Aber sie kommt zu keiner Lösung. So wie immer. Sie denkt und denkt, denn sie ist ein kluges Mädchen, aber sie kommt zu keiner Lösung. Vielleicht ist sie noch zu klein, um das alles zu verstehen. Aber die Großen erklären es ihr nicht. Auch ihr Bruder nicht.
Julia: Dazu müsste sie ja fragen.
Therapeut: Damit hat sie schon längst aufgehört, weil sie sowieso keine Antworten erhält. Aber wie sie so dasteht, kommt ein anderes Schulkind des Weges, ein größerer Bub. Auch mit einer Schultasche am Rücken. Und er sagt: Hallo, dich kenne ich doch! Ich wohne gleich ein paar Häuser weiter. Gehst du in die erste Klasse?
Julia: Ja. Und du?
Therapeut: In die vierte. Wie heißt du denn?
Julia: Julia.
Therapeut: Ich bin der Klaus. Ich bin neun, und du?
Julia: Sechs.
Therapeut: Julia, du schaust immer so.
Julia: Wie?
Therapeut: So wie Menschen schauen, die etwas verloren haben. Etwas, das ihnen kostbar war.
Julia: Woher weißt du denn das?
Therapeut: Weil ich weiß, wie man sich fühlt, wenn man etwas verloren hat.
Julia: Wie denn?
Therapeut: Traurig. Sehr traurig.
Julia (nickt)
Therapeut: Und einsam. Weil keiner mit einem redet.
Julia (nickt): Keiner.
Therapeut: Wen hast du denn verloren?
Julia (sehr leise): Meinen Papa. Und du?
Therapeut: Meinen kleinen Bruder.
Julia (nickt): Das ist voll blöd.
Therapeut: Voll.Und keiner redet mit einem.
Julia: Hat er auch einen Unfall gehabt, dein Bruder?
Therapeut: Nein. Er war krank. Ist deine Mama auch so traurig?
Julia: Immer.
Therapeut: Und du?
Julia: Ich versuche lustig zu sein. Damit sie lacht. Und du? Auch?
Therapeut: Auch. Aber vor allem muss ich tapfer sein.
Julia: Warum sterben denn Menschen?
Therapeut: Das weiß ich auch nicht, Julia. Aber weißt du was: wir, mit denen keiner redet, wir können doch zusammenhalten.
Julia: Wie denn?
Therapeut: Wir können miteinander reden.
Julia: Kannst du Geschichten erzählen?
Therapeut: Natürlich. Ich kann welche erfinden, ich kann welche vorlesen, ich kann welche nacherzählen.
Julia: Kannst du mir eine erzählen? Mein Lieblingsmärchen?
Therapeut: Was ist denn dein Lieblingsmärchen?
Julia: Sterntaler. Aber ich kann noch nicht so gut lesen. Und meine Mama mag ich nicht fragen, die weint immer beim Vorlesen. Kennst du Sterntaler?
Therapeut: Sicher. Erzählen oder Vorlesen?
Julia: Vorlesen.
Ich habe einige Märchen- und Geschichtenbücher in meiner Praxis, und Grimms Märchen sind natürlich dabei. Ich nehme es aus dem Regal und lese vor:
Die Sterntaler
Es war einmal ein kleines Mädchen, dem war Vater und Mutter gestorben, und es war so arm, daß es kein Kämmerchen mehr hatte, darin zu wohnen, und kein Bettchen mehr hatte, darin zu schlafen, und endlich gar nichts mehr als die Kleider auf dem Leib und ein Stückchen Brot in der Hand, das ihm ein mitleidiges Herz geschenkt hatte. Es war aber gut und fromm. Und weil es so von aller Welt verlassen war, ging es im Vertrauen auf den lieben Gott hinaus ins Feld. Da begegnete ihm ein armer Mann, der sprach: »Ach, gib mir etwas zu essen, ich bin so hungerig.« Es reichte ihm das ganze Stückchen Brot und sagte: »Gott segne dir's«, und ging weiter. Da kam ein Kind, das jammerte und sprach: »Es friert mich so an meinem Kopfe, schenk mir etwas, womit ich ihn bedecken kann.« Da tat es seine Mütze ab und gab sie ihm. Und als es noch eine Weile gegangen war, kam wieder ein Kind und hatte kein Leibchen an und fror: da gab es ihm seins; und noch weiter, da bat eins um ein Röcklein, das gab es auch von sich hin. Endlich gelangte es in einen Wald, und es war schon dunkel geworden, da kam noch eins und bat um ein Hemdlein, und das fromme Mädchen dachte: »Es ist dunkle Nacht, da sieht dich niemand, du kannst wohl dein Hemd weggeben«, und zog das Hemd ab und gab es auch noch hin. Und wie es so stand und gar nichts mehr hatte, fielen auf einmal die Sterne vom Himmel, und waren lauter blanke Taler; und ob es gleich sein Hemdlein weggegeben, so hatte es ein neues an, und das war vom allerfeinsten Linnen. Da sammelte es sich die Taler hinein und war reich für sein Lebtag.
Hier sehen Sie noch einmal die fünf Antreiber:
- Sei stark!
- Sei perfekt!
- Mach’s allen recht!
- Streng dich an!
- Beeil dich!
Warum findet sich Julia in der Figur des Sterntalermädchens wieder? Sie versucht auch, zu geben und wieder zu geben. Sie ist lieb und lustig zur Mama, sie lernt brav in der Schule, sie findet sich still und schweigsam damit ab, dass keiner mit ihr über das redet, was sie nicht versteht – den Tod ihres Vaters. Sie hat unbewusst beschlossen: ich muss – so wie das Sterntalermädchen - es allen immer recht machen, dann werde ich eines Tages belohnt werden: sie werden mich lieben, wie ich bin. Dann werde ich nicht mehr einsam sein. Mit dieser Geschichte glaubt sie, für sich einen Weg gefunden zu haben, der sie aus ihrem Skript-Tunnel herausführt. Doch er vergrößert nur ihre Skript-Komfortzone: sie hat einen Weg gefunden, wie sie sich etwas komfortabler an den Wänden des Tunnels festklammert.
Wie viele von uns sind jetzt wieder in genau dieser Antreiber-Komfortzone? Strengen Sie sich gerade an, Ihren persönlichen Antreiber, Ihr Skriptmärchen zu finden – und mir gleichzeitig zuzuhören? Suchen Sie gerade nach perfekten Lösungen für dieses Dilemma, weil ja alle fünf Antreiber für Sie maßgeblich sind? Wenn ich Sie jetzt ansehe, wollen Sie mir dann signalisieren, dass Sie aufmerksam zuhören und von meinem Vortrag ganz hingerissen sind? Und ich? Bin ich jetzt wieder auf einer meiner Irrfahrten und will Sie stark und tapfer mitnehmen auf meiner Irrfahrt zwischen den Meeresungeheuern meines Vortrages? Wir entkommen Ihnen nicht, unseren Antreibern, es geht ganz schnell, dass wir Odysseus, Heidi oder Aschenputtel sind. Diese Märchenfiguren sind nicht die Ihren? Sie sehen mich zweifelnd an? Da muss ich aber jetzt ziemlich stark und tapfer sein, das aushalten und mir andere ausdenken, die besser zu Ihnen passen könnten!
Und das alles ist überhaupt nicht schlimm. Waren diese Vorbild-Figuren nicht unglaublich wichtig für uns, war es nicht eine unglaublich kreative und entlastende Leistung, uns in ihnen wiederzufinden? Strahlt Julia und in ihr das kleine Mädchen, das sie damals war, mich nicht glücklich an, als ich ihr das gute Ende der Geschichte vorlese? Hat uns das alles nicht Hoffnung gegeben, als wir so jung und hoffnungslos waren?
Die Frage ist doch nicht, wie ich aufhöre Odysseus zu sein und wie Julia aufhört, das Sterntalermädchen zu sein. Uns beiden haben diese Gestalten viele wichtige Fähigkeiten ins Leben mitgegeben: Julia ist ein sehr einfühlsamer Mensch, der anderen helfen kann. Ich weiß, dass ich, wenn es notwendig ist, viel aushalten und durchstehen kann. Die Alternative ist ja nicht, dass das Sterntalermädchen egoistisch und narzisstisch wird. Das würde Julia vermutlich nicht einmal schaffen, wenn sie es wollte. Und die Alternative ist auch nicht, dass Odysseus ein fauler Feigling wird. Das würde ich nämlich nicht schaffen, selbst wenn ich es wollte. Wie können wir die Fähigkeiten unserer Antreiberfiguren dann nützen, wenn wir sie brauchen, ohne dass wir stereotyp in dieses Muster verfallen, wann immer irgendeine Anforderung an uns gestellt wird (oder wir sie selbst an uns stellen)? Dazu müssen wir aus unserer unkomfortablen Komfortzone gehen. Das bedeutet: unsere Skriptmärchen, Skriptsagen, Skriptgeschichten, Skript-TV-Serien umzuschreiben und auch unsere Heldinnen und Helden aus ihrer Komfortzone zu führen. Der Haken ist ja immer: wir haben uns diese Figuren unbewusst zu Leitmotiven gemacht. Daher hilft uns unser Bewusstsein allein nicht wirklich weiter, wir brauchen wieder das Unbewusste. Dabei ist die Technik des Umerzählens ein eleganter Weg.
Nein, stürzen Sie sich nicht sofort auf diese Aufgabe. Sie müssen sich jetzt nicht anstrengen, perfekt und stark und schnell es wem auch immer recht zu machen und jetzt schon ein neues Ende für Ihre Geschichten von Liebe und Nicht-Liebe zu finden. Sie können mir auch einfach zuhören, wie ich Ihnen Julias Geschichte weitererzähle und darauf vertrauen, dass Ihr Unbewusstes schon längst begonnen hat, die Arbeit für Sie zu erledigen. Sie müssen auch nicht angestrengt, perfekt, schnell, stark sein und im Geiste Ihre wirklich schwierigen Klientinnen und Klienten durchscannen, um diesen gleich in der nächsten Sitzung auszuprobieren. Sie können auch einfach dieses Stück Malakofftorte genießen, das ich Ihnen jetzt noch vorsetze. Ja, ich weiß, Sie haben gestern schon eine Sachertorte mit Schlag gegessen, einen Guglhupf und natürlich dem Geist des Ortes hier entsprechend eine schwere Linzer Torte. Und heute morgen ja auch schon eine wirklich köstliche Erdbeertorte ...
Wie ist es also mit Julia weitergegangen?
Die Geschichte habe ich ja als neunjähriger Klaus der sechsjährigen Julia vorgelesen. Die Rahmenhandlung für die Sterntaler-Geschichte ist also eine neue Geschichte, eine, die in Julias realem Leben nie passiert ist: die Geschichte von zwei Kindern, die einander verstehen können. So erfinden wir beide ein neues Märchen, das im Unterschied zu den Sterntalern keinen magischen Ausgang hat, sondern einen, der in einer menschlichen Beziehung geschieht, wie sie tatsächlich stattfinden könnte. Zu ihren Geschichten von Nicht-Liebe kommt eine von Liebe dazu: von der Zuneigung dieser zwei seelenverwandten Kinder. Dieser Schritt ist ein ziemlich großer aus der therapeutischen Komfortzone heraus: das eigene kindliche Ich so deutlich ins Spiel zu bringen. Ihn zu tun erfordert einiges an Selbtreflexion. Ich hätte ihn nicht getan, wenn ich das erzählte Trauma meines Lebens, den Tod meines Bruders, nicht schon gründlich in meinen Eigenanalysen verarbeitet hätte. Doch der wesentliche Punkt ist, dass Julia aus ihrer Komfortzone kommt, zu der als wesentlicher Bestandteil gehört, sich niemandem anzuvertrauen und es allen recht zu machen.
Nachdem ich das Buch geräuschvoll zugeklappt habe (was Julia lächeln lässt), bleibe ich noch in der Rolle, indem ich sie weiter duze (wenn wir beide erwachsen sind, sind wir per Sie).
Therapeut: Hat’s dir gefallen, Julia?
Julia: Ja, sehr. Du hast schön vorgelesen. Es war sehr spannend.
Therapeut: Was war denn so spannend für dich?
Julia: Dass das Mädchen so eine Liebe ist. Und dass sie belohnt wird.
Therapeut: Mit den goldenen Talern.
Julia: Genau.
Therapeut: Sie ist fast so eine Liebe wie du.
Julia: Ich?
Therapeut: Ja. Du gibst ja auch allen Leuten, was sie brauchen: deiner Mama Fröhlichkeit, deiner Lehrerin gute Noten ...
Julia: Mit meinem Bruder spiele ich immer genau das, was er will. Auch wenn es Bubenspiele sind.
Therapeut: Und niemandem stellst du unangenehme Fragen. Denn das soll ja eines Tages deine Belohnung sein: alle deine Fragen werden beantwortet.
Julia (denkt lange nach): Sie meinen, ich bin wie das Sterntalermädchen?
Julia ist wieder erwachsen geworden. Es ist Zeit, in die gewohnte therapeutische Situation zu gehen und die beiden Geschichten zu reflektieren.
Therapeut: Ja, es sieht so aus, als ob Sie sich das Sterntalermädchen damals als Kind zum Vorbild genommen hätten.
Julia: Das kann schon sein. Ich hab mir immer ausgemalt, was ich mit all dem Geld machen würde.
Therapeut: Und das ist der Haken an der Geschichte. Was immer es sich für die goldenen Taler kaufen kann - seine Eltern kann es nicht ins Leben zurückkaufen.
Julia: Und ich meinen Papa auch nicht.
Therapeut: Nein, Julia. Der Papa kommt nicht wieder.
Julia (beginnt zu weinen) Aber warum hat er denn sterben müssen?
Therapeut: Das weiß ich nicht. Das weiß niemand.
Julia: Sie wissen es bei Ihrem kleinen Bruder auch nicht?
Therapeut: Nein, natürlich nicht.
Julia: Wie lange ist das her?
Therapeut: Mehr als fünfzig Jahre.
Julia: Dann kann ich ja aufhören brav zu sein. Wenn alle die Taler nichts nützen, nicht einmal in fünfzig Jahren...
Therapeut: Lassen Sie uns etwas überlegen, Julia. Wir könnten das Märchen umschreiben und das Mädchen anders sein lassen, nicht so brav.
Das ist der entscheidende Teil des Prozesses, und zugleich auch der schwierigste: die Märchenfigur muss aus ihrer Komfortzone, das heißt aus ihrem Antreiberverhalten, herausgeführt werden. Aber gerade der Antreiber (und die zu erwartende) Belohnung sind es ja, die die Geschichte spannend machen. Odysseus ohne seine Abenteuer - er baut Wein an in Ithaka und plaudert mit den Bauern? Ziemlich langweilig. Das Sterntalermädchen - es gibt nichts von seinen Sachen her und sucht sich einen Platz im Waisenhaus? Auch nicht sehr prickelnd. Nicht angetrieben sein, also nicht recht machen oder nicht stark sein ist noch kein Konzept. Wir brauchen eine Geschichte, die das innere Kind fesselt, sonst wird die Komfortzone immer die interessantere Alternative sein. Julia trifft das genau, indem sie sagt:
Julia: Nicht brav, das wäre ja schlimm. Zu allen armen Menschen nein sagen - das wäre doch herzlos.
Sie hat natürlich recht. Jeder unserer Antreiber hat hohe konstruktive Qualitäten. Es ist wichtig, stark sein und durchhalten zu können, wenn das Leben das erfordert. Sich anzustrengen, um etwas erreichen zu können - ohne das wird kein wirklicher Erfolg und schon gar kein Flow-Erlebnis möglich sein. Pünktlich zu sein und Dinge rechtzeitig zu erledigen - wie könnten wir sonst unsere Therapiestunden sinnvoll abschließen und unsere Therapien nicht zu endlosen Geschichten werden lassen? Empathie ist die andere Seite des „Ich muss es anderen immer recht machen“. Und natürlich ist der Wunsch, etwas so gut wie möglich zu machen, wichtig und sinnvoll: wenn Sie Ihr Auto in die Werkstatt geben oder sich unter das Skalpell des Chirurgen legen, dann soll das professionell so gut wie menschenmöglich erledigt werden.
Therapeut: Stimmt. Das ist ja die andere Seite des Bravseins: das Mädchen kann sich gut in Menschen einfühlen. Aber Einfühlen bedeutet nicht, ihnen alle Wünsche erfüllen zu müssen und auf die eigenen Bedürfnisse zu verzichten.
Julia: ich glaube, daran ist auch die Beziehung zu meinem Exfreund gescheitert. Ich war immer für ihn da, aber wenn es mir schlecht gegangen ist, war er ratlos.
Therapeut. Also die Belohnung, die Sie erhofft haben, indem Sie es ihm recht gemacht haben, ist nicht eingetroffen.
Julia: Die Frage ist, was könnte in der neuen Geschichte die Belohnung sein?
Therapeut: Die Belohnung wofür?
Julia: Wie fängt die Geschichte nochmal an?
Therapeut (liest vor): Es war einmal ein kleines Mädchen, dem war Vater und Mutter gestorben, und es war so arm, daß es kein Kämmerchen mehr hatte, darin zu wohnen, und kein Bettchen mehr hatte, darin zu schlafen, und endlich gar nichts mehr als die Kleider auf dem Leib und ein Stückchen Brot in der Hand, das ihm ein mitleidiges Herz geschenkt hatte. Es war aber gut und fromm.
Julia: Stopp! Ab da schreiben wir jetzt um. Erstens ist nur der Vater gestorben. Die Mutter war so traurig, dass es für das Kind fast so war, als ob sie auch tot gewesen wäre. Es war sehr einsam und traurig und hatte keinen Menschen, mit dem es reden konnte. Dass es nichts hatte, war nicht so schlimm, denn alles Geld der Welt hätte ihr nicht geholfen, den Vater zurückzubringen und die Mutter wieder fröhlich zu machen. Sie beschloss daher, in die Welt hinauszuziehen, um jemanden zu finden, der ihr sagen könnte, wo ihr Vater hin verschwunden war und wann er wiederkommen würde. - Jetzt sind Sie dran!
Therapeut: Aber alle Leute, denen sie begegnete, wollten etwas von ihr: etwas zu essen, weil sie hungrig waren oder etwas anzuziehen, weil ihnen kalt war. Zu jedem sagte das Mädchen das Gleiche: du kannst mein Brot gerne haben, aber kannst du mir sagen, wo mein Papa ist? Und wann er wiederkommt? Aber alle antworteten ausweichend. Da war das Kind auch nicht bereit, etwas von seinen Besitztümern herzugeben und ging weiter.
Julia: Obwohl sie ein schlechtes Gewissen hatte. Was, wenn die Leute ihr doch geholfen hätten, nachdem sie ihnen das Gewünschte gegeben hätte? Sollte sie umkehren und einfach ein guter Mensch sein? Und die Hoffnung auf Antworten aufgeben?
Das ist ein zentraler Punkt in der neuen Geschichte, die aus dem Skript herausführen soll: der innere Konflikt wird deutlich, der entsteht, wenn Menschen aus ihrer Komfortzone gehen.
Therapeut: Das war wirklich ein schwieriger Kampf in ihrem Inneren. Doch schließlich erkannte sie eines: die Hoffnung musste sie gar nicht aufgeben, nur ...
Julia: ...nur den Glauben, dass sie Antworten kriegen würde, wenn sie brav wäre. Sie musste auch nicht schlimm sein, es ging nur darum ... darum...
Therapeut: Darum?
Julia: Sie selbst zu sein! (sie beginnt zu weinen): Nur sie selbst sein dürfen! Nur ein kleines Mädchen, das seinen Papa so, so sehr vermisst. (weint) Wann kommt denn der Papa wieder? Kann sie denn niemand einfach trösten? (lächelt unter Tränen) Ich weiß jetzt das Ende der Geschichte: eines Tages, nachdem sie lange gewandert war, kam sie zu einer Bushaltestelle. Dort wollte sie sich ausrasten, als auf einmal ein Bub des Weges kam. Ein Bub, der ein wenig älter war als sie, und der nichts von ihr geschenkt haben wollte. Er sagte nur einfach: ich kenne dich doch. Du schaust traurig aus. Und der Rest ist Geschichte. (beide lachen) Ich wollte Ihnen danke sagen, dass Sie der Erste sind, der mir zuhört. Sie - und der neunjährige Bub.
Das wäre jetzt natürlich ein sehr effektvoller Schluss für meinen Vortrag - und wir wären alle wieder in unseren Komfortzonen gelandet. Julia wäre die einzige, die sich herausbewegt hat. Diese Art von Arbeit mit Märchen, um aus dem persönlichen Antreibersystem herauszufinden, wirkt natürlich intensiv auf das Unbewusste. Aber ohne die Umsetzung durch das bewusste Fühlen, Denken und Handeln verlassen Menschen ihre Skriptkomfortzone nicht dauerhaft. Julia entscheidet sich daher, ihr ‚braves’ Schweigen aufzugeben und beginnt, in der Familie nachzufragen - bei der Mutter, beim älteren Bruder, der Schwester des Vaters, seiner Mutter (also ihrer Großmutter). Sie willen wissen, was für ein Mensch ihr Vater war, was sie mit ihm erlebt hat, ob er sie geliebt hat, wie er ums Leben gekommen ist. Das stellt sich als ein mühsames Unterfangen heraus, sie muss wieder und wieder nachbohren. Und es ist qualvoll für sie, weil es mit einem ungeheuren Ausmaß an Traurigkeit verbunden ist.
Julia: Es sind so traurige Geschichten, aber das Schlimmste ist, dass es nicht meine Erinnerungen sind. Ich war einfach zu klein. Ich kann mich nicht erinnern.
Therapeut: Doch, Julia. Nicht in ihrem verbalen Erinnerungsvermögen, nicht in Ihrem Bewusstsein. Aber unbewusst ist es da.
Julia: Da ist nur ein Loch. Da müsste etwas gewesen sein, aber ich kann es nicht fassen. Wann kommt denn der Papa wieder - diesen Satz soll ich gesagt haben. Kommt wenigstens die Erinnerung an ihn wieder?
Therapeut: Sie ist ja schon da, wenn Sie dieses Loch fühlen.
Julia: Und kann ich das jemals vergessen? Oder muss ich damit leben?
Therapeut: Sie können damit leben. Und Sie können darüber reden.
Julia: Das ist alles?
Therapeut: Ja. Und es genügt.
Und in der nächsten Sitzung erzählt sie von einer Entdeckung, die ihrer Geschichte Worte gibt.
Julia: Meine Mutter hat mir die Schallplattensammlung meines Vaters gezeigt, zum Teil noch alte auf Vinyl, zum Teil auf CD. Und da sind eine Menge von so einem alten Sänger dabei, Leonard Cohen heißt er. Den muss er geliebt haben. Kennen Sie den?
Ob ich den kenne? Ich lebe mit ihm, seit ich fünfzehn war! Ich weiß nicht mehr, wie oft ich ihn live gesehen habe, es gibt keinen Text den ich nicht mitsingen kann. Das sage ich natürlich nicht, sondern ich nicke nur.
Julia: Ich hab’s mir angehört und hab mir die Texte herausgesucht. Und da gibt es einen Titel, der sagt genau, wie es mir geht: I can’t forget but I don’t remember what.
Therapeut: Ich kann nicht vergessen, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was.
Julia (beginnt zu weinen): Genau. Das ist meine Geschichte, und das wird auch so bleiben. Ich kann nicht vergessen, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was. Und das ist so. Und ich kann dieses Lied hören und mir vorstellen, wie er es gehört hat. Ich glaube, das hilft mir, erwachsen zu werden, mit seiner Botschaft. Darf ich es Ihnen vorspielen? Können wir es gemeinsam hören?
Therapeut: Gerne, Julia. Sehr gerne.
Sie zieht ihr Handy heraus und spielt ‚I can’t forget’. Dabei weint sie bitterlich und sieht mich gleichzeitig klar und offen an. Aus dem Sterntalermädchen ist eine erwachsene Frau geworden.