34 "Nie sollst du mich befragen..." Das Paar und sein unbewusstes Geheimnisse
Vortrag auf der Paartagung 2018 des VPA
Linz, Oktober 2018
Elsa, soll ich dein Gatte heißen,
soll Land und Leut' ich schirmen dir,
soll nichts mich wieder von dir reißen,
mußt eines du geloben mir:
Nie sollst du mich befragen,
noch Wissens Sorge tragen,
woher ich kam der Fahrt,
noch wie mein Nam' und Art!
Richard Wagner, Lohengrin
Es war einmal vor mehr als tausend Jahren ein Paar, das mit einem Geheimnis leben musste: sie durfte seinen Namen und seine Herkunft nicht erfahren. Elsa und Lohengrin waren diese beiden, er heiratete sie zwar, aber sie sollte nie wissen, wer er wirklich war. Richard Wagner hat darüber eine Oper geschrieben, aus der sie jetzt zu Beginn ein paar Takte gehört haben.
Nein, ich halte Ihnen jetzt keinen Vortrag über Opern und auch nicht über Wagner. Ich habe im Grunde überhaupt nicht vor, Ihnen einen Vortrag zu halten. Ich möchte Ihnen lieber Geschichten erzählen, Geschichten über Menschen, über Paare und vor allem Geschichten über Geschichten. Geschichten über die Geschichten hinter den Geschichten und Geschichten noch einmal hinter diesen Geschichten. Und natürlich auch Geschichten über Geheimnisse. Nicht die üblichen Geheimnisse, die Menschen voreinander haben: mit wem er sich heute Abend getroffen hat – das waren nämlich nicht seine Arbeitskollegen. Wie viel Geld sie letzten Monat beim Shopping ausgegeben hat. Wie unzufrieden beide über ihre Beziehung sind, wie langweilig sie das Leben miteinander in Wirklichkeit finden, wie sehr sie einander nerven. Es geht um dasselbe Geheimnis, das auch Lohengrin vor Elsa hat: frag mich nicht, wer ich wirklich bin. Und frag mich schon gar nicht, wo ich herkomme, wo und wie ich meinen Weg herausgefunden habe, mit dir, mit mir selbst, mit dem Leben umzugehen. Ich bin ja jetzt schließlich erwachsen, und meine Kindheit hat mit dem allen so was von gar nichts zu tun. Und frag mich sicher nicht nach meiner unterdrückten Angst, nach meinem heimlichen Schmerz, meiner abgrundtiefen Traurigkeit, meiner heimlichen Wut und meiner verborgenen Scham.
Da sind wir schon mitten drin in der nächsten Geschichte, in der von Clemens und Clara, über tausend Jahre nach Elsa und Lohengrin, die einander auch nicht zeigen wollen, wer und was und wie sie wirklich sind. Und die es auch nicht wirklich voneinander wissen wollen, ja, nicht einmal von sich selbst. Sie kennen einander schon seit – nein, das stimmt nicht. Sie sind seit etwa zehn Jahren ein Paar, aber kennen, kennen tun sie sich nicht wirklich. Sie wissen natürlich ihre Namen, ihre Geburtsdaten, die Orte, aus denen sie stammen, ihre Berufe, vielleicht sogar ihr Körpergewicht und ihre Kleidungsgröße. Sie wissen auch, dass sie zwei kleine Kinder mitsammen haben. Und noch eines wissen sie. Das sagt Clara in der ersten Paartherapiestunde der beiden:
Clara: So kann es nicht weitergehen mit uns. Dieser Urlaub war eine einzige Katastrophe. Streit, immer nur Streit. Ich kann ihm überhaupt nichts recht machen, das fängt schon beim Packen an. Nicht einmal im Restaurant darf ich bestellen, was ich will.
Clemens: Da könnte ich dir jetzt in allen Punkten widersprechen. Ich bin es, dem du das Gefühl gibst, er macht alles falsch. Doch, an einem Punkt gebe ich dir recht: so kann es nicht weitergehen. Wenn die Kinder nicht wären, wäre ich schon längst gegangen.
Nun, um sich vorzustellen, wie dieser Streit weitergeht, brauchen Sie keinen Geschichtenerzähler. Das strapaziert die Fantasie nicht besonders, das haben Sie alle schon in ähnlicher Form mit Paaren erlebt, in Ihrem Beruf, in Ihrem privaten Umfeld und vielleicht auch in Ihren eigenen Beziehungen. Claras Resümee dazu lautet:
Clara: Und so geht es immer, tagein, tagaus. Dabei geht es um gar nichts. Ob wir den blauen oder den schwarzen Koffer mitnehmen, ist völlig wurscht, und die vergessenen Zahnbürsten der Kinder auch, die kann man überall kaufen. Manchmal glaube ich, es geht nur um die Macht.
Clemens: Um die Macht, ums Rechthaben, darum, wer sich durchsetzt. Wir behandeln uns gegenseitig so, als ob wir Feinde wären. Vielleicht sind wir das auch.
Ist es das jetzt, das unbewusste Geheimnis des Paares? Dass sie gar kein Paar sind, sondern Feinde? Nein, das sieht wohl an der Oberfläche so aus, und es ist überhaupt kein Geheimnis und schon gar nicht unbewusst. Es ist die erste Geschichte von Clara und Clemens, die Geschichte, wie sie sich in ihrem Labyrinth aus Alltagskonflikten, aus psychologischen Spielen verirren. Während sie das tun, was wir als Beobachterinnen und Beobachter auf der äußeren Ebene sehen können, erzählen sie sich beide gleichzeitig selbst fortlaufend innere Geschichten – und das sind schreckliche Geschichten.
Clemens‘ innere schreckliche Geschichte geht so:
„Jetzt geht das schon wieder los, nicht einmal beim Therapeuten kann sie aufhören. Ständig will sie mich kontrollieren und mich bloßstellen. Wenn ich nur an die Fahrt in den Urlaub denke. Beim Tanken: denk dran, dass der große Wagen Diesel braucht, kein Benzin! In Kroatien gibt es strenge Radarkontrollen, fahr‘ nicht so schnell! Bei der nächsten Ausfahrt müssen wir raus, die ist in einem Kilometer! Immer, immer, immer geht es nur um sie, ich bin überhaupt nicht wichtig. Dass mich ein Urlaub am Meer mit den Kindern überhaupt nicht interessiert, und mit meinem Bruder und seiner nervigen Frau schon gar nicht, das spielt keine Rolle. Sie will mich zur Marionette machen. Sie ist ganz genau so wie die Oma, die hat mich auch nie aus den Augen gelassen und allem herumgenörgelt.“
Gleichzeitig erzählt sich Clara ihre innere schreckliche Geschichte:
„Mein Gott, warum ist er denn so peinlich? Immer seine schlauen Erklärungen – ‚es ist ein Kampf um die Macht, denken Sie nicht auch, Herr Doktor?‘ Das sieht der schon selber, der ist ja nicht blöd. Um deine Macht geht es, alles willst du an dich reißen. Er hat keinerlei Interesse daran, wie es mir geht, was ich fühle, was ich brauche. Ich bin mir ziemlich sicher, dass da eine andere dahintersteckt, warum hat er sonst den ganzen Urlaub lang in sein Handy getippt? „Mein Schatz, ich vermisse dich so, viel lieber wäre ich hier mit dir.“ Es ist ganz einfach so, ich bin uninteressant als Frau und als Mensch, und er wird auch gehen, er ist ja jetzt schon weg. Genau wie mein unbekannter Vater und wie Harry. Alle gehen sie. Männer!“
Den Begriff „innere Geschichten“ habe ich von der US-amerikanischen Sozialforscherin Brené Brown übernommen, die vor allem für ihre Arbeiten über Scham und über Verletzlichkeit bekannt geworden ist. In der Psychologie nennen wir das oft „Fantasien“ oder „Interpretationen“, aber das Wort „Geschichte“ ist viel faszinierender und zutreffender. Menschen lieben Geschichten, seit es Menschen gibt. Wir erzählen sie einander, wir schmücken sie aus, wir erfinden sie neu und verfremden sie. Vor allem aber erzählen wir sie uns selbst - Geschichten über uns selbst und über andere, über unsere Vergangenheit und über unsere Zukunft. Das soll uns dabei helfen, uns als Ganzes zu begreifen, als ein konstantes Individuum im Fluss der Zeit und unserer Lebensgeschichte. Und wir tun das, um etwas zu verstehen, das wir nicht so ohne Weiteres begreifen und verstehen können. Wir versuchen es uns so zu erklären. Immer wieder merke ich beispielsweise, dass sich Klienten und Klientinnen Geschichten über mich erzählen, weil sie ja wenig über mich und mein Leben wissen. Da höre ich dann manchmal, dass meine Partnerbeziehung wahrscheinlich die beste nur denkbare sein muss, weil ich so ein geduldiger Mensch sei. Vor Jahren habe ich das selbst erlebt. Ich war drei Jahre lang selbst in Psychoanalyse auf der Couch – und vom Analytiker weiß man ja noch weniger, weil man ihn nur am Beginn und am Ende der Stunde sieht. Obwohl mir natürlich klar war, dass das nicht stimmen konnte, erzählte ich mir selbst die Geschichte, dass ich sein einziger Patient sei, niemand sonst würde auf dieser Couch liegen, nur die drei Stunden in der Woche würde er arbeiten, ausschließlich mit mir. In der Zwischenzeit würde er in seinem gemütlichen Behandlungsraum sitzen und hingebungsvoll in den Kunstbüchern blättern, die ich am Regal gesehen hatte. So wichtig war es mir, bedeutend für ihn zu sein und exklusiv wahrgenommen zu werden – da ich in einer kinderreichen Familie aufgewachsen bin, war das etwas, was ich nicht oft erlebt hatte.
Oft, so Brené Brown, haben diese unsere Geschichten eine „erste schreckliche Fassung“, vor allem in schwierigen Situationen. Warum tun wir das? Wir könnten uns doch für die Zukunft mit unserem Partner, unserer Partnerin, auch und gerade dann, wenn es schwierig ist, ein wunderschönes Traumschloss ausmalen, mit dem wir mit ihr oder ihm leben werden, wenn die ganze Streiterei vorbei ist. Aber nein, was malen wir uns stattdessen aus? Schloss Dracula aus, in den Bergen Transsylvaniens, in einer Vollmondnacht und mit heulenden Wölfen. Das ist nicht so unlogisch, wie es klingt. Wenn wir uns traumhaft schöne Geschichten erzählen würden, würden wir uns öffnen und wären verletzlich. Mit den schrecklichen Geschichten verschließen wir uns, um uns davor zu schützen. Wenn Clara sich liebevoll öffnen und zu Clemens, der gerade am Strand wieder sein Smartphone bearbeitet, sagen würde: „Ach Schatz, ich freue mich schon auf heute Abend, wenn wir wieder auf der Terrasse in unserem Appartement in den Sonnenuntergang schauen, und du hältst meine Hand“ – ja, wenn sie das sagen würde, dann, so zumindest in ihrer Geschichte, dann könnte er ja nur unaufmerksam grunzen und weiter tippen. Oder noch schlimmer, er könnte sagen, der blöde Sonnenuntergang könne ihm gestohlen bleiben und das Händchenhalten auch. Das wäre sehr verletzend, also verschließt sie ihr Herz gleich wieder und erzählt sich ihre schreckliche Geschichte von der anderen Frau und seinem Desinteresse und sagt mit scharfer Stimme: „Was tust du denn da die ganze Zeit am Handy? Kostet das nicht einen Haufen Geld?“ Er scheint ein Geheimnis vor ihr zu haben, sie weiß nicht, warum er so ist, wie er ist – und das, was sie nicht weiß, erklärt sie sich mit einer schrecklichen Geschichte.
Und Clemens – wenn er sich dann öffnen würde, wenn er aufschauen und Clara anlächeln und sagen würde: „Ja, du hast recht, mein Schatz, ist doch wirklich blöd, im Urlaub Mails zu bearbeiten. Magst du mit ins Meer kommen? Die Kinder sind ja mit meinem Bruder und seiner Frau unterwegs.“ Wenn er das sagen würde, so seine eigene innere schreckliche Geschichte, dann würde sie ihn wütend anfauchen und sagen: „Du weißt genau, dass ich gerade meine Tage habe. Aber so etwas kümmert euch Männer ja nicht.“ Und das wäre sehr verletzend, also verschließt er sein Herz gleich wieder und erzählt sich seine innere schreckliche Geschichte von der Marionette und der nörgelnden Oma. Clara scheint ein Geheimnis vor ihm zu haben, er weiß nicht, warum sie so ist, wie sie ist – und das, was er nicht weiß, erklärt er sich mit einer schrecklichen Geschichte.
Das sind also mittlerweile zwei Geschichten, die ineinander verflochten sind: die offenkundige Geschichte von den Streitereien der zwei, und die Geschichte von den inneren schrecklichen Geschichten dahinter. Dahinter gibt es noch eine Geschichte, die sich die beiden gleich selbst mit erzählen, und das ist eine sehr alte Geschichte. Clara erzählt ja nicht nur von Clemens und seiner von ihr vermuteten Geliebten, sie erzählt auch von ihrem nie gekannten Vater und davon, wie sie sich immer wieder verlassen erlebt hat. Und Clemens erzählt ja nicht nur von Clara und ihrem von ihm vermuteten Kontrollzwang, sondern von seiner Oma, die ihm nicht erlaubte, seinen eigenen Bedürfnissen nachzugehen.
In unseren schrecklichen inneren Geschichten erzählen wir uns bewusst und zu einem guten Teil unbewusst komprimiert unsere Lebensgeschichte mit ihren noch schrecklicheren Geschichten. Genauer gesagt kommen wir in Kontakt mit den Schlussfolgerungen, die wir aus unseren Lebenserfahrungen für unser Fühlen, unser Denken und unser Handeln gezogen haben. Wir kommen in Berührung mit dem, was wir in der Transaktionsanalyse das Skript, den unbewussten Lebensplan, nennen und spinnen diesen Faden in der konkreten Situation und der konkreten Beziehung weiter. Dieser Faden führt uns jetzt zu den Geschichten hinter den Geschichten hinter den Geschichten, zu den Geschichten vom kleinen und heranwachsenden Clemens und von der kleinen heranwachsenden Clara.
Clemens wird geboren, als seine Eltern noch sehr jung, keine Zwanzig, sind. Beide sind berufstätig und mit der frühen Verantwortung überfordert, daher kümmert sich im Wesentlichen seine Großmutter, die Mutter seiner Mutter, um ihn. Diese wiederum verliert kurz nach seiner Geburt ihren Mann, Clemens‘ Großvater, und steckt mitten in tiefer Trauer. Sie ist nahezu unansprechbar, gereizt und ungeduldig. Für die Lebendigkeit eines Kleinkindes bleibt da wenig, eigentlich gar kein Platz. Clemens erlebt sie als streng und unduldsam. „Alles, was mich interessiert hätte, war verboten“, erzählt er. „Bis ich lesen konnte, war das Leben unsagbar langweilig. Nicht einmal mit den Nachbarskindern durfte ich spielen. Erst als ich mich in die Welt der Bücher aus der Schulbücherei flüchten konnte, wurde es besser.“ Er wächst als Einzelkind auf und hat auch in der Schule wenig Anschluss. Auch zu jungen Mädchen findet er als Teenager kaum Kontakt. Er ist schon Anfang zwanzig, als er auf der Uni Clara kennenlernt, und sie ist seine erste Beziehung. „Da habe ich geglaubt, jetzt wird das Leben endlich spannend, jetzt bin ich endlich nicht mehr allein.“ Das geht auch einige Jahre gut, doch dann kommt die erste Tochter, und ab da erlebt Clemens ein fortgesetztes Déjà-vu seiner Kindheit: kein Platz für ihn, kein Interesse mehr an ihm, das Familienleben empfindet er als langweilig, und zum Lesen kommt er auch nicht mehr.
Clara hat ihren Vater nie kennengelernt, er hat ihre Mutter schon während der Schwangerschaft verlassen. „Er hatte überhaupt nichts für ein Kind übrig, hat mir meine Mama immer erzählt. Alle anderen Mädchen haben einen Papa gehabt, nur ich nicht“, berichtet sie. Die Mutter lernt wieder Männer kennen, zieht auch immer wieder mit einem zusammen, doch keine Beziehung hält länger als ein, zwei Jahre. „Manche von denen waren ganz nett, andere wieder weniger. Und alle hatten sie Streit mit der Mama. Manchmal war ich froh, wenn einer wieder weg war, manchmal auch traurig. Aber das alles hat meine Mama nicht gekümmert, sie war nur darauf aus, einen Mann für sich zu finden, keinen Papa für mich.“ Schon mit 14 hat Clara ihren ersten Freund, der fünf Jahre älter ist als sie. Immer wieder betrügt er sie mit anderen Frauen, trennt sich von ihr, kommt wieder zurück und trennt sich wieder. „Erst als ich 19 war und zum Studium weggezogen bin, war das endgültig vorbei. Dann war ich zwei, drei Jahre Single, das war eine schrecklich einsame Zeit. Bis ich Clemens kennengelernt habe. Der war so schüchtern und unerfahren, da habe ich mir gedacht, der bleibt mir treu.“ Nach einigen Jahren heiraten die beiden, und als das erste Kind geboren wird, glaubt Clara, ihr Glück sei jetzt perfekt. „Aber dann war alles ganz anders. Ich habe mich vom ersten Moment an mit dem Baby alleingelassen gefühlt. Clemens hat sich immer mehr in seine Arbeit zurückgezogen. Und mit der zweiten Tochter, drei Jahre später, ist das noch schlimmer geworden.“
Das Skript hat seine Anfänge früh in unserer Lebensgeschichte und beruht auf den Beziehungserfahrungen, die wir mit unseren Eltern und anderen wichtigen Menschen machen. Beide, Clara und Clemens, finden sehr früh in ihrem Leben sehr schnell heraus, dass ihre Bedürfnisse und damit sie selbst nicht wichtig sind. Und sie haben ja nicht die Möglichkeit, zu relativieren und zu differenzieren: das ist leider bei meinen überforderten jungen Eltern und meiner trauernden Großmutter so, aber es gibt auch andere Menschen, von denen ich Zuwendung bekommen kann. – Das ist bei meinem Vater so, aus Gründen, die ich nicht weiß, und bei meiner einsamen Mutter und ihren wechselnden Männern, aber das wird nicht immer so sein, es gibt auch andere Menschen. Nein, in der kleinen Welt eines kleinen Kindes ist es überall so und wird immer so sein. Es scheint ein Naturgesetz zu sein, mit dem man umgehen muss, so wie mit der Schwerkraft. Es wird zu einem Glaubenssatz, der ins weitere Leben mitgenommen wird und den jede schwierige Beziehungserfahrung zu bestätigen scheint. Doch vor allem ist es die immer wieder innerlich erzählte schreckliche Geschichte, die es bestätigt:
„Immer, immer, immer geht es nur um sie, ich bin überhaupt nicht wichtig“ hat sich Clemens erzählt, und in Claras Geschichte heißt es „Er hat keinerlei Interesse daran, wie es mir geht, was ich fühle, was ich brauche.“
In diesen Geschichten, in der komprimierten Fassung des Skripts, treffen wir nicht nur auf die destruktiven Botschaften, die uns als Kindern mitgeteilt werden (oder die wir so verstehen) und nicht nur die Glaubenssätze, die wir daraus extrahieren. Der Lebensplan wird wesentlich von Gefühlen bestimmt, von denen, die erlaubt und von denen, die verboten sind. Beide Kinder, die kleine Clara und der kleine Clemens, sind über das, was ihnen da geschieht, traurig, zornig, verletzt, ängstlich und wahrscheinlich auch beschämt. Das sind für das, was sie erleben, ganz normale Gefühle. Hören wir, was sie beide später in der Paartherapie auf meine Frage, wie sich als Kinder gefühlt haben, erzählen:
Clemens: Ich war sehr, sehr einsam. Aber ich habe nicht viele Erinnerungen daran. Wahrscheinlich werde ich schon traurig gewesen sein, aber das weiß ich nicht mehr so genau. Angst habe ich gehabt, das weiß ich noch, sehr viel Angst, vor allem vor der Oma Und vor den anderen Kindern, vor der Schule. Später vor den Mädchen. Zornig? Kann ich mir nicht vorstellen, dass ich mich das getraut hätte. Innerlich schon, aber heimlich. Schämen sicher, doch, eigentlich immer, das war ein ständiger Ausruf meiner Oma: schäm dich! Schäm dich für die schlechten Noten, schäm dich, dass du so wenig hilfst, schäm dich, dass dein Zimmer so aussieht.
Therapeut: Und wie sind Sie mit alle diesen Gefühlen umgegangen?
Clemens: Ich habe sie in mir versteckt.
Therapeut: Das heißt, sie waren ganz alleine damit?
Clemens: Ja, ganz alleine. Das war aber auch das Beste, da hat mir niemand wehtun können. Wenn ich gelesen habe, habe ich die ganze böse Welt vergessen. Nicht einmal das Rufen der Oma habe ich gehört.
Clara: Einsam war ich auch, aber ich kann mich an mehr Gefühle erinnern. Ich habe viel geweint, immer abends im Bett vor dem Einschlafen. Ich glaube, dass es jahrelang keinen Abend gegeben hat, an dem ich nicht weinend im Bett gelegen bin und nicht einschlafen konnte. Erst später, da war ich schon in der Pubertät, habe ich nicht mehr geweint. Da war ich vor dem Einschlafen immer furchtbar wütend auf alle und alles, auf meinen Vater, der einfach abgehauen ist, auf meine Mutter, die sich immer wieder mit so blöden Kerlen eingelassen hat. Auf die natürlich auch. Auf meinen Freund. Da habe ich mir immer vorgestellt, wie ich es ihnen heimzahle. Da war ich dann stark und mächtig, ganz anders als im wirklichen Leben. Und geschämt habe ich mich natürlich auch, dass ich so blöd bin und mir das alles gefallen lasse.
Scham, Traurigkeit, Angst und Zorn: daran können sie sich erinnern. Noch ein wichtiges Grundgefühl gibt es, und darüber sprechen sie nicht: ihren unmittelbaren Schmerz, ihre Verletztheit. Sie erzählen davon nur indirekt, wie sie es gelernt haben, sich davor zu schützen: durch Rückzug in sich selbst, Clara mit ihren aggressiven Fantasien und Clemens mit seiner passiven Aggression, in der er nicht auf seine Großmutter reagiert. All das spiegelt sich in ihrer Beziehung und in ihren schrecklichen Geschichten wieder.
Wir setzen unser Skript aus mehreren Bausteinen zusammen. In den inneren Geschichten aktivieren wir sie in Mikroform in kürzester Zeit: wir erleben uns in der Lebensgrundhaltung, die wir als Kinder eingenommen haben, und die heißt meistens in Kurzform: ich bin nicht OK als der Mensch der ich bin – andere sind OK, wie sie sind. Wir folgen den Grundbotschaften, die wir erhalten haben. Clara hat gelernt, dass sie und ihre Bedürfnisse nicht wichtig sind. Clemens‘ frühe Erfahrungen haben ihm gezeigt, dass es gefährlich und verletzend sein kann, Menschen nahe zu kommen. „Alle wollen mich kontrollieren und einschränken“ ist sein entsprechender Glaubenssatz; der von Clara heißt „Alle verlassen mich.“ Beide bemühen sich redlich, ihre Traurigkeit und ihre Angst zu unterdrücken und möglichst still und angepasst zu sein. Dabei hilft ihnen als Kompensation eine konstante innerliche Ärgerlichkeit, eine Art von aufgestautem Groll, der zu so etwas wie ihrem „Lieblingsgefühl“ wird. Trotz all dieser ziemlich aussichtslosen Bausteine haben sie es geschafft, nie die Hoffnung auf etwas Besseres, Glücklicheres zu aufzugeben. Dafür haben sie wie die meisten von uns Antreiber als Strategien dafür entwickelt. Beide haben sie gelernt, sich anzupassen, brav zu sein und sich mit ihren Bedürfnissen zurückzunehmen. Claras innerer Entschluss ist es, sich immer und immer wieder anzustrengen – dann würde schon alles gut werden. Clemens hilft sein Antreiber „Ich muss immer stark sein und alles ertragen“ dabei, die Hoffnung auf ein besseres Leben nicht aufzugeben.
Alle diese Bausteine entwickeln wir in unserem Leben weiter und weiter. Der Mechanismus dafür ist die Übertragung: wir transportieren unsere frühe Beziehungserfahrung ins Heute, wir übertragen sie auf unsere erwachsenen Beziehungen. So wird unsere Vergangenheit zu unserer Gegenwart. Dabei sind die schrecklichen inneren Geschichten so etwas wie der Motor, der den unbewussten Lebensplan am Laufen hält. Das alles dient dazu, unser unbewusstes Geheimnis vor dem Partner/der Partnerin und auch vor uns selbst zu verbergen.
„Nie sollst du mich befragen, woher ich kam der Fahrt“ singt Lohengrin. Genau darum geht es. Die versteckten Botschaften des Einen an die Andere und der Anderen an den Einen heißen:
Du sollst nie erfahren
- wie und wo und wann ich so verletzt wurde, dass ich dir heute so wehtue
- wieviel Angst ich vor neuen Verletzungen habe
- warum ich mich so vor dir schützen muss
- wie du Teil meines unbewussten Lebensplanes bist
- was ich alles auf dich übertrage
- dass ich dich dafür zuständig mache, dass meine Wunden heilen können und alles endlich gut wird.
Lassen Sie uns jetzt wieder ein Blick auf die Gegenwart von Clara und Clemens werfen. Dafür werde ich die Geschichte weitererzählen, wie es ihnen gelungen ist, das Geheimnis zu lüften und zu einem neuen Geheimnis, dem wirklicher Verbindung, zu gelangen. Mittlerweile, nach ungefähr 10 Sitzungen, ist es ihnen gelungen, ihre inneren selbst erzählten schrecklichen Geschichten wahrzunehmen. Clara erzählt:
Clara: Neulich war wieder so ein scheußlicher Abend, wo Clemens nicht und nicht heimgekommen ist. Bis 10 Uhr habe ich mir noch nicht viel gedacht, das lässt sich beim ihm schon mit der Arbeit erklären. Dann ist es 11 und 12 und noch später geworden. Ich wollte schlafen, aber ich habe mich rastlos im Bett gewälzt.
Therapeut: Wann haben Sie dann begonnen, sich Ihre schreckliche Geschichte zu erzählen?
Clara: Na ja, das hat allmählich begonnen, als der Film im Fernsehen so gegen 10 zu Ende war. Na typisch, habe ich mir gedacht, er weiß doch genau, wie es mir geht, wenn er so spät heimkommt. Dann habe ich versucht, mich zu beruhigen, aber die Rastlosigkeit ist immer größer geworden. Ab 11 bin ich dann am Fenster gestanden, um zu sehen, ob sein Auto um die Ecke kommt, und alle paar Minuten habe ich das Handy kontrolliert, ob er eine Nachricht geschickt hat. Und dann habe ich mich nicht mehr dagegen wehren zu können, mir vorzustellen, wie er mit einer anderen Frau zusammen ist. Zuerst habe ich die beiden, ihn und eine Frau ohne Gesicht, aber eine sehr attraktive, nur in einem Lokal beisammensitzen gesehen, bei schummriger Beleuchtung. Dann sind sie sich näher und näher gekommen und er hat sie geküsst.
Clemens: Du hast vielleicht Vorstellungen!
Therapeut: Warten Sie einen Moment, Clemens, lassen Sie bitte Clara ihre Geschichte weitererzählen.
Clemens: Aber muss ich mir diese absurden Verdächtigungen anhören?
Therapeut: Es ist Claras Geschichte. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie sich zur gleichen Zeit auch eine erzählt haben. Die werden wir uns anschließend anhören.
Clara: Dann hat das Bild gewechselt, da war es schon nach Mitternacht und ich bin am Fenster gestanden. Sie waren bei ihr in der Wohnung und sind miteinander ins Bett gegangen. Sie hat all das mit ihm getan, was er gerne hätte und was es bei uns schon lange nicht mehr gibt.
Therapeut: Was für eine schreckliche Geschichte!
Clara: Ja, wirklich. Und je länger ich sie mir erzählt habe, desto sicherer war ich, dass das alles wirklich passiert. Warum wäre er denn sonst nicht und nicht heimgekommen?
Therapeut: Das ist das Verzwickte an unseren schrecklichen Geschichten: je ausführlicher wir sie uns erzählen, umso mehr halten wir sie für die einzig mögliche Erklärung.
Wir sind jetzt mitten im ersten Schritt zur Lösung: das Reflektieren unserer inneren Geschichte in möglichst vielen Details und dem Erkennen, dass sie nur auf Vermutungen und Schlussfolgerungen beruht, die oft mehr mit uns selbst als mit dem anderen Menschen zu tun haben – die wir aber für wahr halten.
Auch Clemens erzählt seine schreckliche Geschichte.
Clemens: Ja, es ist später geworden im Büro, und dann war ich noch mit einem Kollegen im Lokal um die Ecke. Als er gegangen ist, war es halb elf, ich habe zwar auch schon gezahlt, aber dann habe ich mir gedacht: mein Gott, jetzt ist sie sicher schon sauer, weil ich nicht um Punkt 10 Uhr daheim war. Sie steht sicher schon am Fenster und tut dann zuerst ganz unverfänglich, aber ich merke, dass sie sauer ist. Das geht dann bis in die Morgenstunden, Schimpfen, Weinen, Drohen. Und ich bin total hilflos, weil sie mir sowieso nicht glaubt. Also bin ich sitzengeblieben und habe mir noch ein Bier bestellt, dann ein zweites. Und immer deutlicher habe ich mir ausgemalt, was ich mir anhören werde müssen. Am liebsten würde ich in einem Hotel übernachten, habe ich mir gedacht, und erst morgen Abend heimkommen. Oder gar nicht mehr. Keinen Raum für mich gönnt sie mir. Sicher habe ich schon zweitausend Anrufe in Abwesenheit, ich habe sicherheitshalber nicht aufs Handy geschaut. Bis ich dann wirklich gegangen bin, um halb eins, als das Lokal zugemacht hat, war ich dann erstens einigermaßen betrunken und zweitens voll in meiner Geschichte drin.
Therapeut: In Ihrer wirklich schrecklichen Geschichte.
Clara: Dabei habe ich gar nie angerufen!
Therapeut: Bleiben wir noch bei den Geschichten. Beide haben Sie Angst davor, vom Anderen verletzt zu werden. Und beide malen Sie sich Ihren Schrecken so intensiv aus, dass die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass er Wirklichkeit wird.
Clara: Was dann ja auch passiert ist. Als Clemens heimgekommen ist –
Therapeut: Einen Augenblick noch. Bleiben wir noch in der Zeit vor Ihrer wirklichen Begegnung. Versetzen Sie sich bitte noch einmal in die Situation. Clara, Sie sind zu Hause und sehen zum Fenster hinaus, Clemens, Sie sind in der Kneipe und haben Ihr Bier vor sich. Im Kopf laufen Ihre schrecklichen Geschichten. Sie, Clara, glauben ganz sicher zu sein, dass er bei einer anderen ist, dass er das Interesse an Ihnen verloren hat, dass er Sie verlassen wird. Sie, Clemens, sind sich ganz sicher, dass Clara Ihnen die Hölle heiß machen und Ihnen keinen Freiraum gönnen wird. Was fühlen Sie in diesem Moment.
Clara: Ich bin stinksauer.
Clemens: Ich auch.
Therapeut: Ja. Wollen Sie noch ein Stück tiefer in sich hineinschauen? Gibt es da noch Gefühle unter der Wut?
Clara: Wenn ich genau hin fühle, dann – aber eigentlich will ich das gar nicht. Das ist er gar nicht wert, dass ich…
Therapeut: Dass Sie?
Clara: …traurig bin. Sehr traurig, dass ich immer so alleine bin. Immer so alleine war. Aber das ist er gar nicht wert.
Therapeut: Wer ist es nicht wert?
Clara: Clemens. Harry, meine Jugendliebe. All die Männer von Mama. Mein Papa… (beginnt zu weinen)
Therapeut: Aber vielleicht sind Sie es sich wert.
Clara (weint)
Therapeut: Ein sehr, sehr trauriges kleines Mädchen, das endlich seine Traurigkeit zeigen darf.
Clara (nickt)
Clemens: Ach Gott… das will ich doch nicht. Ich bin doch auch traurig, da bei meinem Bier. Ich bin doch auch allein.
Therapeut: Ein ganzes Leben lang allein. Keine Mama, keine Oma, keine Freundin. Ein einsamer kleiner Bub. (Pause)
Therapeut: Eine Frage an Sie beide: wie ist das, wenn Sie, Clemens, das Clara zeigen? Und wenn Sie, Clara, das Clemens zeigen?
Clemens (schüttelt den Kopf): Nicht gut. Sie wird es nicht verstehen.
Therapeut: Jetzt beginnen Sie wieder mit einer schrecklichen Geschichte. Sieht so aus, als hätten Sie Angst, es ihr zu zeigen.
Clemens: Ja, wahrscheinlich.
Therapeut: Clara?
Clara: Ich hab‘ auch Angst.
Machen wir hier wieder einen Zwischenstopp. Wir sind am Ende des ersten Schrittes: die beiden erkennen ihre eigene schreckliche Geschichte und sehen, wie sehr sie – die Geschichte – aus ihrer Lebensgeschichte und ihrem Skript gespeist wird. Sie werden sich der Schutzfunktion der Geschichte und ihrer Angst bewusst, sich einander zu öffnen. Damit gehen sie zum zweiten, dem schwierigsten Schritt über: die eigene Verletzlichkeit zulassen und zeigen.
Therapeut: Wovor habe Sie Angst? Wovor wollen Sie sich mit Ihrer schrecklichen Geschichte schützen und verstärken die Angst gleichzeitig?
Clemens: Na ja, da ist schon viel Erfahrung dabei. Die Angst ist ja nicht grundlos. Clara hat mir oft genug eins übergebraten.
Clara: Und du? Du bist auch nicht gerade zimperlich mit mir!
Therapeut: Ja, diese Erfahrungen haben Sie gemacht. Und die Vergangenheit ist kein Beweis dafür, dass es auch in Zukunft so sein wird.
Clara: Das ist aber schwierig zu glauben.
Therapeut: Ja, das ist es.
Clara: Und was soll ich ihm sagen?
Therapeut: Was wollen Sie ihm denn sagen?
Clara: Dass ich Angst vor ihm habe. Dass er mir wieder wehtun könnte. Dass er mich verlassen könnte. Dass ich… (ihre Stimme zittert)
Therapeut: Wollen Sie Clemens in die Augen sehen und es ihm direkt sagen?
Clara: Das ist noch schwerer.
Therapeut: Wenn Sie ihn nicht ansehen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Sie sich wieder eine schreckliche Geschichte erzählen. Und er auch.
Clara (sieht ihn an): Clemens, ich habe solche Angst vor dir. Und ich (atmet heftig) ich hab‘ solche Sehnsucht nach dir. Und jetzt wieder Angst, dass du mich wieder zurückweist.
Clemens (schweigt)
Therapeut: Wie kommt das bei Ihnen an, Clemens?
Clemens: Ich bin überrascht. Ich hätte nicht geglaubt, dass sie – dass du Sehnsucht nach mir hast.
Clara (nickt unter Tränen)
Therapeut: Wie ist das bei Ihnen, Clemens?
Clemens: Ich – ich weiß nicht…
Das ist ein heikler Punkt. Oft geschieht es in der Arbeit mit einem Paar, dass eine Person sich öffnet und der oder die andere dann abblockt, weil die Angst vor neuer Verletzung so groß ist.
Therapeut: Lassen Sie sich Zeit, Clemens. Was geht gerade in Ihnen vor?
Clemens: Ich glaube, ich bin zwiespältig. Das, was Clara sagt, lässt mich nicht gleichgültig.
Therapeut: Sind Sie berührt?
Clemens: Ja, schon. Aber – aber, wie soll ich sagen –
Therapeut: Sie sind vorsichtig?
Clemens: Ja.
Clara (macht eine ungeduldige Handbewegung, schüttelt ärgerlich den Kopf)
Jetzt erleben wir spiegelverkehrt die Situation von vorher: Clemens beginnt, sich zu öffnen, und Clara ist dabei, sich wieder zu verschließen.
Therapeut: Clara, können Sie sich an Ihre eigene Angst vor fünf Minuten erinnern?
Clara (nickt)
Therapeut: Clemens hat genauso Angst wie Sie.
Clara: Es fällt mir so schwer, das zu glauben.
Clemens: Doch, es ist so. All die Jahre habe ich mir so gewünscht, dass du mich beim Heimkommen in die Arme nimmst.
Therapeut: Beide haben Sie die gleiche Sehnsucht, und beide verstecken Sie sich hinter Ihrer Schutzmauer. Frage an beide: wie fühlt sich das jetzt an, sich zu öffnen?
Clemens: Traurig. So viele Jahre. So viele Verletzungen (beginnt zu weinen).
Clara (nimmt seine Hand): Ja, Clemens.
Therapeut: Sie sind beide sehr verletzt. Können Sie sehen, wie verletzt Clara ist, Clemens?
Clemens (nickt)
Therapeut: Und können Sie sehen, wie verletzt Clemens ist, Clara?
Clara (sehr leise): Ja.
Therapeut: Und hinter diesen Verletzungen, die Sie sich beide zugefügt haben, stehen viele sehr alte Verletzungen. Ein verletztes einsames kleines Mädchen und ein verletzter einsamer kleiner Bub (beide nicken unter Tränen).
Nichts stellt so intensive menschliche Verbindung her wie das Zeigen unserer Verletzlichkeit. Das ermöglicht uns, tiefe Empathie mit dem Anderen zu empfinden. Das ist der dritte Schritt im Überwinden der Mauer, die durch die schrecklichen Geschichten des Paares entsteht. Und natürlich ist das jetzt kein Hollywood-Happy End für Clemens und Clara, sondern der Beginn eines neuen, sicherlich auch holprigen Weges – des Weges im gemeinsamen Beziehungsraum. Sie haben angefangen, das unbewusste Geheimnis zu lüften und sehen den Lebensplan, der sie beide in ihre Krise geführt hat. Im Erkennen ihrer jeweiligen Lebensgeschichten und ihrer frühen Verletzungen liegt ein neues, ein konstruktives Geheimnis: einander verstehen und in Verbindung miteinander gehen zu können.
Zum Ende meiner ineinander verflochtenen Geschichten, die ich Ihnen erzählt habe, kehre ich noch einmal zu der von Lohengrin und Elsa zurück, mit einer Zeile, mit der sie sich verzweifelt an ihn wendet. Diese Zeile bringt die Sehnsucht der beiden Partner in einer Paarkrise zum Ausdruck. Sie ist das, was diese beiden Menschen von uns als Paartherapeuten und -therapeutinnen und als Paarberaterinnen und -berater brauchen:
„Lass dein Geheimnis mich durchschauen, dass, wer du bist, ich offen seh!“