42. "Du verstehst mi ned" - Interventionen, die Menschen wieder zurück in ihre Beziehung helfen

Schlussvortrag auf der Paartagung des VPA

Linz, April 2023

… I red und red, i versuch zu erklärn.
I bin schon ganz hasrig, mir fallt nix mehr ein
Wos soll jetzt werdn?
Egal was i sag, es is alles ned woa,
Du glaubst ma ka Wuat, du siehst es ned ein,
Und mir is zum rean.
… I bin offn und ehrlich, wie seltn zuvua,
I sog, was i denk, oba du bist so stur,
I bin boid so weit, dass i nimmermehr was, was i tua.
Du verstehst mi ned, du verstehst mi ned,
Mir kummt sogoa vua, du huachst goa ned zua.
… Du schaust nur bled, ja du schaust nur bled
Und sagst immer, unsere Liebe vergeht,
Des begreif i ned, des begreif i ned,
Des kann doch ned sein, des geht ma ned ein,
Des kann doch ned sein, dass es immer so weitergeht.
Unser tägliches Spiel, es fangt an in da Fruah,
Gestern woas spät, wo woast denn so lang?
… Do hab i scho gnua.
I huach goa ned hin, es ist sinnlos wozu?
Du gibst ned nach, du suachst nach an Grund,
Geh gib doch a Ruah.
Wenn i ab und zu tua, wos i momentan wü,
Dann wirfst ma glei vua, i verletz dein Gefühl,
I sag besser nix, i was nur sovü.
… Du verstehst mi ned, du verstehst mi ned,
Mir kummt sogoa vua, du huachst goa ned zua.
Du schaust nur bled, ja du schaust nur bled
Und sagst immer, unsere Liebe vergeht,
Des begreif i ned, des begreif i ned,
Des kann doch ned sein, des geht ma ned ein,
Des kann doch ned sein, dass es immer so weitergeht.

Viele von uns kennen wahrscheinlich dieses Lied von Wolfgang Ambros aus dem Jahr 1984, und manche von uns haben sich vielleicht im Lauf dieser fast 40 Jahre damit identifizieren können. Ambros erzählt uns da eine Geschichte, nein, er erzählt sie nicht uns, er erzählt sie einer Frau, die wir nicht kennen. Und eigentlich erzählt er sie sich selbst.

Gestern habe ich Ihnen über die vier Vorträge des Tages hinweg vom Roten Faden der Narrative erzählt, der mehr oder minder hilfeichen und mehr oder minder sinnvollen Erzählungen, die Menschen sich selbst und uns Therapeuten und Therapeutinnen über sich und ihre Paarbeziehungen erzählen. Mit diesen Menschen und für sie arbeiten wir daran, neue Narrative mit ihnen zu finden, Narrative, die ihnen helfen, sich selbst und einander besser zu verstehen. Wir tun das mit unterschiedlichen psychologischen Hintergründen, mit unterschiedlichen Aspekten, auf die wir unseren Fokus legen, mit unterschiedlichen Interventionsansätzen. Gestern und heute haben Sie fünf Kolleginnen gehört, die das in ihrer jeweiligen Sicht dargestellt haben. Jetzt, zum Abschluss dieser Tagung, darf ich Ihnen meine Geschichten über insgesamt sechs therapeutische Interventionen erzählen, drei kürzere und drei längere. Das sind einige meiner Geschichten über den Umgang mit Narrativen in der Paartherapie. Eingebettet sind diese Geschichten in Geschichten aus der Arbeit mit einem Paar, Ausschnitte aus dem Prozess mit diesen zwei Menschen.

Viele Paare kommen mit einer ähnlichen Sichtweise zur Therapie, wie sie Wolfgang Ambros in seinem Lied beschreibt. Eine, meist beide Personen erleben sich unverstanden. So ist es auch bei Melanie und Julian, beide Mitte Vierzig und seit 15 Jahren ein Paar. Sie haben keine Kinder. Überspringen wir die Geschichten, die schon vor dem ersten Termin erzählt werden, am Telefon oder per Mail. Beginnen wir mit der Intervention, mit der ich in der Regel das Erstgespräch mit einem Paar beginne. Sie ist zugleich die erste von den sechs, von denen ich Ihnen erzählen werde.

Herzlich Willkommen! Zu Beginn möchte ich Sie einladen, mir aus Ihrer jeweiligen persönlichen Sicht zu erzählen, was Sie zu mir führt. Das kann natürlich unterschiedlich sein, wer immer von Ihnen beginnen möchte.

Mit der Verwendung des Begriffes „erzählen“ teile ich den beiden mit, dass das, was wir – ich, der oder die zuhörende Partner oder Partnerin – hören werden, Geschichten sind, die Narrative der jeweils erzählenden Person. Und sie oder er erzählt diese Narrative natürlich auch sich selbst und verstärkt sie dadurch in dem riesigen Universum der synaptischen Verknüpfungen seines Großhirns. Gleichzeitig weise ich darauf hin, dass das unterschiedliche Sichtweisen sind, keine Wahrheiten. Damit habe ich drei Narrative auf den Weg geschickt:
- wir werden mit Geschichten arbeiten
- Sie dürfen unterschiedliche Sichtweisen haben
- und Sie dürfen überhaupt unterschiedliche Menschen sein

Julian beginnt.

Julian: Sie, also Melanie, meine Frau, versteht mich einfach nicht. Sie glaubt mir kein Wort, obwohl ich so offen und ehrlich bin, wie ich nur kann. Sie hört mir gar nicht zu, glaube ich. Und dann schaut sie mich an – so, so …, nein, das sage ich lieber nicht. Sie will immer Gründe finden, dafür, dass, sagt sie, unsere Liebe vergeht.

Er redet sich mehr und mehr in Rage, während Melanie mit versteinertem Gesicht vor sich hinblickt.

J: Und immer sagt sie, ich verletze ihr Gefühl, nur, weil ich halt tue, was mir guttut. Das kann doch nicht sein, dass das immer so weitergeht.

Er macht eine Pause und sieht mich erwartungsvoll an.
Ich nicke und sage: Danke für Ihre Sichtweise. Damit bin ich wieder beim Narrativ der Unterschiedlichkeit. Dann wende ich mich an Melanie:

Therapeut: Möchten Sie mir Ihre Sichtweise zu meiner Frage erzählen: was führt Sie zu mir?

Wieder verwende ich die beiden Narrative: „Sichtweise“ und „erzählen.“

Melanie: Ja, zuerst muss ich einmal meine Wut loswerden, über das, was mein Mann da redet. Nicht, dass es mir neu ist. Ich verstehe ihn nicht? Er mich schon, oder was? Er ist offen? Das sind doch alles Lügen. Ich versuche die ganze Zeit, mit ihm über unsere Konflikte und meine Ängste um unsere Beziehung, unsere Liebe zu reden, aber er, er versteht mich nicht. Er will mich nicht verstehen. Bei der Herfahrt haben wir schon im Auto gestritten, und er hat gesagt, er kommt überhaupt nicht hierher zu Ihnen. Dabei ist das meine letzte Hoffnung! Ich habe versucht, Sie zu erreichen, um Sie zu fragen, ob ich auch alleine kommen kann.

Ein intensiver Beginn, und sehr starke und verletzende Narrative, die die beiden da erzählen. Wir überspringen jetzt eine Sequenz, in der die beiden heftig in der gleichen Tonart weiter diskutieren, nein, sie diskutieren nicht, sondern sie berichten weiter, und zwar mir, und das in der 3. Person, so, als ob der andere Mensch nicht anwesend wäre. Dabei fallen sie einander immer wieder ins Wort. Das Ganze verläuft so heftig, dass ich gar nicht zu meiner üblichen zweiten Frage komme: was brauchen und möchten Sie von mir? Der Behandlungsvertrag ist ja in der Regel meine zweite Intervention. Daher überspringe ich sie vorläufig und gehe zu einer anderen Intervention über: Feedback geben.

Das bedeutet, dass ich Rückmeldung über das gebe, was ich beobachte und wahrnehme, meist als Reaktion auf eine Auseindersetzung der beiden Personen, die sich im Kreis dreht. Ein langjährigen Freund und Kollege, mit dem ich vor Jahren viele Trainings geleitet habe, definiert  Feedback als ein Geschenk aus meiner Welt in deine Welt. Es ist nicht die Wahrheit, es ist mein subjektives Erleben. Es ist ein Impuls zum Nachdenken und Nachfühlen, mehr nicht. Die Person oder die Personen, an die sich das Feedback richtet, müssen es nicht annehmen. 

Th: Ich habe Sie jetzt eine Weile beobachtet. Ist es OK, Ihnen Rückmeldung über meine Wahrnehmungen zu geben?

Die beiden stimmen zu. Nach einer Erklärung, ähnlich wie der, die ich Ihnen gerade gegebene habe, fahre ich fort:

Th: Beide haben Sie die ganze Zeit über mich angesehen, nie Ihren Mann oder Ihre Frau, nicht, während Sie gesprochen haben und nicht, während Sie zugehört haben. Sie haben immer in der dritten Person gesprochen – „sie“ oder „er.“ Beide haben Sie mir eine Geschichte über Julian und über Melanie erzählt. Wenn Sie jeweils zu einer Einzelsitzung bei mir gewesen wären und ich Melanie oder Julian gar nicht kennengernt hätte, hätte ich den Eindruck kriegen sollen, dass er oder sie ein nur schwer erträglicher Mensch ist und dass Sie ihr oder sein unglückliches Opfer sind. Zwei gänzlich unterschiedliche Sichtweisen, und doch sehr ähnlich, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Wie geht es Ihnen mit diesen meinen subjektiven Beobachtungen?
J: Aber einer muss doch recht haben, und der andere unrecht! Eins muss wahr sein, und das andere gelogen!
Th: Das ist es wahrscheinlich, was Sie beide versuchen zu erreichen: den Anderen, die Andere dazu zu bringen, Ihnen zuzustimmen und Ihre Sichtweise als die „Wahrheit“ anzuerkennen. Niemand von Ihnen lügt. Beides ist Ihre jeweilige subjektive Wahrnehmung und damit Ihre eigene innere Wahrheit.
J: Das wird niemals geschehen, dass ich dem zustimme, was Melanie sagt!
M: Und ich niemals dem, was du sagst!
Th: ich weiß, das werden Sie niemals tun. Lassen Sie uns – auch wenn Sie das niemals tun werden - als Gedankenexperiment so tun, als ob Sie den Aussagen Ihrer Frau, Ihres Mannes doch zustimmen würden. Obwohl Sie das nie tun werden. Wenn Sie es doch tun würden – was niemals der Fall sein wird – was würde dann geschehen? Was ja nie geschehen wird, weil sie ja niemals zustimmen werden.

Hier schiebe ich in das Feedback eine weitere Intervention ein. Sie stammt aus der Hypnosetherapie. Ich habe sie bei Jeff Zeig, einem Schüler von Milton Erickson gelernt und nenne sie „Paradoxe Fantasie“: sich etwas vorzustellen ist etwas anderes als es zu tun. „Ich werde dir niemals zustimmen, denn dann muss ich dein Narrativ über mich übernehmen“ soll als Selbstschutz helfen. „Ich kann darüber eine Fantasie machen, und dabei werde ich etwas über dich und du über mich erfahren“ eröffnet neue Perspektiven und neue, vielleicht hilfreichere, Narrative.

M: Ganz schrecklich wäre das. Mir ist es ja schon nicht gut gegangen, als ich gehört habe, was Julian gesagt habe. Ich habe mich nach Kräften bemüht, das draußen zu halten.
Th: Denn wenn Sie es hereingelassen hätten?
M: Dann wäre ich mir als der unnötigste und schlechteste Mensch auf der ganzen Welt vorgekommen.
Th: Heißt das, Sie hätten sich geschämt?
M: Und wie! Und ich wäre verletzt gewesen.
Th: Und Sie, Julian?
J: Auch. Beides. Unerträglich!
Th: Sie erzählen einander Geschichten, mit denen Sie sich verletzen und versuchen, sich gegenseitig zu beschämen.
M: Voll arg! Und keiner will beschämt werden.
Th: Natürlich nicht. Das ist das scheußlichste Gefühl, das wir Menschen kennen. Das kommunikative Werkzeug, mit dem Sie das versuchen, heißt „Du-Botschaft“: du bist… du tust…du verstehst mich nicht…
J: Wir sollen also so tun, als ob alles in Ordnung wäre?
Th: Nein. Es geht um den Unterschied zwischen „ich erzähle dir eine Geschichte darüber, wie du bist“ und „ich erzähle dir eine Geschichte darüber, wie ich dich erlebe.“

Damit sind wir wieder zurück beim Feedback. Was ist sein Sinn und Zweck? Der Begriff „Intervention“ stammt aus dem Lateinischen und heißt so viel wie „dazwischentreten, dazwischengehen.“ Genau das ist der Plan, wenn wir als Paartherapeut:innen Rückmeldung geben. Die beiden Menschen haben dann die Möglichkeit, zu sehen, wie sie von außen wahrgenommen werden, wie sie mit- (oder gegen-) einander kommunizieren und vor allem wie sie ihre Narrative einsetzen. Das kann hilfreich dabei sein, das Beschämungs- und damit Verletzungspotenzial zu erkennen, das sie füreinander in diesen Geschichten bereithalten. Feedback kann dann ein Weg zu ersten Ideen für konstruktive Kommunikation sein: wie beispielsweise Augenkontakt zu halten, ausreden zu lassen, zuzuhören, Ich- statt Du-Botschaften zu senden oder keine Verallgemeinerungen („immer“, „nie“, „man“…) einzusetzen.

Wir bewegen uns psychologisch gesehen immer in drei Dimensionen: fühlen, denken und handeln. Viele psychotherapeutische Interventionen setzt beim Handeln, also auf der Verhaltensebene, an, so auch Feedback. Zugleich sind wir – Julian, Melanie und ich – auf die Folgen ihres Handelns zu sprechen gekommen: es löst Gedanken  aus („Das sind Lügen!“ „Niemals werde ich dem zustimmen!“), viel mehr aber Gefühle.

Zu dieser Trias aus Handeln – Denken - Fühlen möchte ich Sie auf einen kurzen Exkurs einladen. Während Sie mir gerade zuhören (also etwas tun), denken Sie vielleicht auch über das nach, was ich gerade erzähle. Sie fühlen auch etwas: Sie sind berührt, interessiert, gelangweilt, distanziert oder wie auch immer. Sie handeln weiter, schreiben etwas auf, betrachten die Charts, flüstern mit Ihrer Nachbarin, lächeln oder legen Ihre Stirn in Falten. Oder Sie sind ganz woanders, bei der Heimfahrt nach dem Ende dieser Tagung, Ihrer Rückkehr nach Hause. Im Moment sind diese Ihre drei Dimensionen Fühlen, Denken, Verhalten eher nicht sehr intensiv ausgeprägt und halten sich bei etwa je einem Drittel Ihres gegenwärtigen Ich-Erlebens. Sie erleben sich aller Wahrscheinlichkeit nach stabil. Bei der geringsten Veränderung dieser Stabilität würde sich das ausgewogene Drittel-Verhältnis rasch verändern.
Stellen Sie sich vor, ich würde sagen (was ich nicht tue, aber stellen Sie sich vor, ich würde es doch tun und sagen, was ich niemals sagen würde): „Ich brauche jetzt auf der Stelle unbedingt drei Freiwillige, bitte kommen Sie rasch nach vor!“

Was würden Sie fühlen? Angst, Überraschung, Verärgerung, Freude? Was würden Sie denken? Was würden Sie tun? Aufstehen und nach vor gehen, verwunderte Blicke mit Ihren Kolleginnen tauschen, sich klein machen?

Lassen Sie mich noch deutlicher werden. Stellen Sie sich vor, ich würde sagen (was ich nicht tue, aber stellen Sie sich vor, ich würde es doch tun und sagen, was ich niemals sagen würde): „So, es ist genug, mich interessiert das Ganze nicht mehr. Auf Wiedersehen, ich gehe jetzt“ und würde meine Unterlagen zusammenräumen. Merken Sie, was ich Ihnen verdeutlichen möchte?

Im Zweifelsfall ist es immer unser Fühlen, das die Oberhand hat. Denken und Handeln kommen erst danach. Alle unsere Narrative über uns, über andere, über die Welt und das Leben beinhalten Gefühle, mit denen wir etwas erklären, Bedürfnisse artikulieren und verwirklichen, uns verteidigen, andere angreifen oder etwas verändern wollen. Daher werde ich Ihnen mit der nächsten Intervention einen Weg vorschlagen, in die Gefühlswelt des Paares einzutreten, mit dem Sie arbeiten.

Menschen, die zur Therapie kommen, sind nahezu immer hoch emotionalisiert über das, was sie beschäftigt und zur Therapie führt. Aus all meiner Erfahrungen ist das nicht nur beim Erstgespräch so, sondern kontinuierlich in fast jeder Sitzung. Bei Paaren hat das eine besondere Qualität: sie fühlen nicht nur über sich selbst, ihre Situtation und zu mir als dem Therapeuten hin, sondern auch zueinander.

Lassen Sie uns kurz einige zentrale Aussagen der ersten Sitzung rekapitulieren:
Julian: Sie versteht mich nicht. Sie glaubt mir kein Wort, obwohl ich offen und ehrlich bin. Sie hört mir nicht zu. Sie sagt, ich verletze ihr Gefühl. Das kann doch nicht sein, dass das immer so weitergeht.

Und Melanie: Zuerst muss ich meine Wut loswerden. Das sind alles Lügen. Ich versuche die ganze Zeit, mit ihm zu reden, er versteht mich nicht. Er will mich nicht verstehen. Bei der Herfahrt haben wir schon im Auto gestritten, und er hat gesagt, er kommt überhaupt nicht hierher. Dabei ist das meine letzte Hoffnung!

Was für Gefühle hören Sie da? Angst, Traurigkeit, Ärger, Wut, Scham, Verletztheit, aber vor allem eine Mischung aus all dem: Hilflosigkeit. Sie bewegt die beiden und stimuliert sie zu ihren Narrativen. Ihr versuchen sie, mit verschiedenen Reaktionen zu entgehen: sie projizieren, rationalisieren, emotionalisieren, drohen und so weiter. In der Pandemie habe ich mich intensiv mit dem Thema „Hilflosigkeit“ beschäftigt, zuerst infolge meiner persönliche Situation und der meiner Familie, meiner Freunde, Freundinnen, Kolleginnen und Kollegen, dann natürlich in der therapeutischen Arbeit, online und dann wieder in Präsenz. Dabei ist mir deutlich geworden, dass dieses emotionelle Erleben der Hilflosigkeit und der Widerstand dagegen ein eminent starkes Movens in Krisensituationen sind. Wir finden dann zu Narrativen wie „ich bin ja gar nicht hilflos“, „ich darf nicht hilflos sein.“oder noch stärker: „Hilflosigkeit kommt in meinem Wortschatz nicht vor.“ In den persönlichen wie beruflichen Erfahrungen der letzten drei Jahre  habe ich erfahren, wie hilfreich es sein kann, sich dieser Hilflosigkeit zu stellen und sie zu akzeptieren. Natürlich waren wir alle hilflos mit dieser völlig unerwarteten und unbekannten Situation! In dieser Zeit habe ich das Konzept und das Narrativ der „Hilfreichen Hilflosigkeit“ entwickelt. Sie finden es ausführlich in unserem Buch „Das Ich in der Krise“ beschrieben. Darauf beruht die vierte Intervention, die ich Ihnen vorstellen möchte.

In der nächsten Sitzung mit Melanie und Julian mache ich das Fühlen der beiden zum Thema.

Th: Sie haben in der letzten Sitzung sehr intensiv von Ihrer Beziehung erzählt und darüber, wie Sie jeweils sich selbst und Ihre Frau, Ihren Mann sehen und erleben. Wie haben Sie sich denn gefühlt, als Sie erzählt und als Sie zugehört haben?
J: Nicht gut, natürlich.
Th: So haben Sie sich nicht gefühlt. Wie haben Sie sich schon gefühlt?
J: Frustriert. Leer. Und sauer auf Melanie.
Th: Und Sie, Melanie?
M (zuckt die Achseln): Weiß nicht. Irgendwie so, als ob das alles sinnlos wäre.
Th: Frustriert, leer, ärgerlich. Alles scheint sinnlos. Das klingt so, als ob es Ihnen beiden innerlich recht ähnlich gehen würde.
J: Vielleicht.
M: Ja.
Th: Möglicherweise haben Sie da etwas Gemeinsames. Sie wirken beide so, als ob Sie sich als hilflos erleben.
M: Ich bin überhaupt nicht hilflos, ich muss mich nur schützen.
J: Ich bin schon hilflos mit Melanies Schweigen, aber sie ist überhaupt nicht hilflos. Sie hat die Macht. Wenn sie nichts sagt, und ich meine wirklich gar nichts, dann kann ich tun, was auch immer, ich renne gegen eine Mauer.
Th: Ich habe eine Frage an Sie beide. Wie geht es ihnen denn mit diesem Gedanken: ich erlebe mich als hilflos?
M: Ist überhaupt kein gutes Bild. Geht gar nicht.
Th: Denn wenn es so wäre?
M: Dann wäre alles sinnlos. Das Ende der Fahnenstange.
Th: Alles?
M: Alles, die Ehe, das ganze Leben.
Th: Und bei Ihnen, Julian? Was löst das Erleben von Hilflosigkeit bei Ihnen aus?
J: Das macht mich rasend. Da kann man nichts mehr tun, es gibt keine Lösung, keinen Ausweg. Da kann man sich gleich die Kugel geben.

Was für mächtige und destruktive Narrative! In der Welt von Julians und Melanies Geschichten scheint Hilflosigkeit gleichbedeutend mit dem Ende zu sein, dem Ende der Beziehung, dem Ende ihres sinnvollen Lebens. Sogar Selbstmord wäre eine Alternative. Kein Wunder, dass die beiden diese (scheinbare) Ausweglosigkeit nicht erleben wollen. Wenn Sie versuchen, Menschen mit dem Erleben von Hilflosigkeit in Kontakt zu bringen, werden Sie nicht selten auf solche und ähnliche Reaktionen stoßen. Erinnern Sie sich, wie schnell wir mit scheinbaren Lösungsideen in dieser Zeit seit März 2020 zur Hand waren: da muss man doch einfach… Sie können jetzt Zutreffendes ankreuzen: alles zusperren, alles wieder aufsperren, Masken tragen, keine Masken tragen, auf eine Impfung warten, die Impfung bekämpfen. Aber hilflos? Nein, wir waren doch nicht hilflos!

Sie können aber fast immer mit einer Sickerwirkung rechnen. Lassen Sie die Vermutung über die Hilflosigkeit im Raum stehen und geben Sie Ihren Patient:innen und Klient:innen Zeit, argumentieren Sie nicht, und fragen Sie ein, zwei Sitzungen später nach.

Th: Wie ist es Ihnen denn mit meinen Impulsen aus der letzten Sitzung gegangen?
M: Das war ganz überraschend. Ich habe mich noch mit Ihrer Aussage über die Hilflosigkeit beschäftigt, und mir ist klar geworden, dass das stimmt. Es ist ja so, ich kann mir nicht helfen, Julian kann mir auch nicht helfen und wir gemeinsam können das auch nicht. Daher sind wir hilflos.
Th: Und wie ist das für Sie, wenn Sie „Ja“ zu diesem Ihrem Erleben sagen?
M: Seltsam erleichternd. Irgendwie war ich momentan sogar fröhlich (lächelt).
Th (nickt): Und Sie, Julian? Wir war das bei Ihnen?
J: Ja, ich bin auch hilflos. Aber fröhlich macht mich das nicht.
Th: Wie fühlen Sie sich denn?
J: Ärgerlich. Oder resigniert. Frustriert.
M: Du möchtest weg von der Hilflosigkeit. Du magst nicht Ja dazu sagen.
J (sieht sie lange an, nickt dann): Das stimmt.
Th: Was fühlen Sie jetzt, wenn Melanie das zu Ihnen sagt?
J: Berührt. Sie versteht mich ein wenig, glaube ich. Nach langer Zeit zum ersten Mal.

Erstaunlich, was das Akzeptieren dieser Erkenntnis „ich bin hilflos“ bewirken kann: Erleichterung, Klarheit und sogar ein Stück Verständnis: ihr, ihm geht es ja auch nicht anders als mir.

Wir können an dieser Stelle wieder an Wolfgang Ambros anknüpfen: I red und i red, aber ich bin hilflos, auch wenn ich offen und ehrlich bin, erreich‘ ich dich nicht. Aber hilflos will ich nicht sein, des kann doch ned sein, des geht ma ned ein – aber jetzt wird mir klar: du bist schuld! Du verstehst mi ned, du schaust nur bled und huachst goa ned zua – geh gib doch a Ruah! Denn dann wird‘ ich nicht mehr hilflos sein. Das ganze Lied ist ein Song über Hilflosigkeit – wie ein Mensch sich hilflos fühlt und es nicht sein will, nicht kann, nicht darf.

Die Narrative bilden eine Schicht, unter der die Hilflosigkeit nicht wahrgenommen werden muss. Wenn wir den Kampf gegen die Hilflosigkeit loslassen dürfen, kann eine noch tiefer sitzende Schicht sichtbar werden: intensive Gefühle von Ärger, Trauer, Angst, Schmerz und Scham über diese tiefe Lebenskrise, darüber, dass es so ist, wie es ist und dass es mit dieser Beziehung, mit dieser Liebe, so gekommen ist, wie es gekommen ist.

In jeder Psychotherapie ist der Umgang mit Gefühlen, ihr Erkennen, Zulassen und Ausdrücken von entscheidender Bedeutung. Gefühle bringen uns in Kontakt mit uns selbst und unseren Bedürfnissen – und sie bringen uns in Kontakt mit anderen. Sie sind wichtige Wegweiser, um andere Menschen verstehen und von ihnen verstanden werden zu können. Wenn wir die Emotionen anderer Menschen miterleben, stimuliert das unsere Spiegelneuronen und hilft uns, mitzufühlen. Daher kommt der Arbeit mit den Gefühlen in der Paartherapie besondere Bedeutung zu, noch mehr als in der Einzeltherapie. Wir haben das gerade an dem Gespräch zwischen Melanie und Julian gesehen: sie kommen über das Akzeptieren ihrer Hilflosigkeit in Kontakt mit ihren Gefühlen und mit ihrem Mitgefühl, und beginnen, ihr „Du verstehst mi ned“-Narrativ zu verändern.

In der transaktionsanalytische Psychotherapie spielen die Fragen „Wo komme ich her und wie bin ich der Mensch geworden, der ich heute bin?“, eine entscheidende Rolle, um die Frage beantworten zu können „Wo will ich in Zukunft hin?“ Die Beziehungserfahrungen, die wir früher und ganz früh in unserem Leben gemacht haben, beeinflussen die Art und Weise, wie wir unsere Beziehungserfahrungen von heute organisieren. In der Einzeltherapie hat die Arbeit mit dem Skript, dem unbewussten in der Kindheit entwickelten Lebensplan, natürlich breiteren Raum als in der Paartherapie. Vielleicht haben Sie in einem meiner Vorträge auf einer früheren Tagung des VPA meine Überlegungen dazu gehört, wie Paare sich in ihren Lebenspläne verwickeln und entwickeln. In allen Interventionen in der Arbeit mit Paaren, in dem gesamten Prozess, geht es darum, aus dem „Du verstehst mi ned“ ein „Ich kann dich verstehen, und ich fühle mich von dir verstanden“ als neuen Narrativ wachsen zu lassen. Dazu werfen wir – die beiden Menschen des Paares und ich – in der fünften meiner Interventionen immer wieder Blicke auf frühere Beziehungserfahrungen.

In den ersten Sitzungen schildern Melanie und Julian wieder und wieder ihre heftig ausgetragenen Konflikte und ihre Hilflosigkeit in diesen Auseinandersetzungen.

J: Wenn sie – wenn du dann einfach schweigst und so tust, als wäre ich gar nicht da, dann, dann macht mich das rasend! Da weiß ich einfach nicht mehr weiter!
Th: Keine Lösung, keinen Ausweg, so haben Sie das vor ein paar Sitzungen beschrieben.
J: Hab‘ ich das? Ja, genauso!
Th: Da kann man sich gleich die Kugel geben.
J: Na ja, vielleicht nicht so drastisch, aber …
Th: Das klingt so, als ob das eine für Sie sehr vertraute Situation wäre: keine Lösung,kein Ausweg, ich werde rasend vor Wut. Alles ist sinnlos.
J: Ja klar, mit Melanie geht das ja schon ewig so!
Th: Ich denke, Sie haben so etwas schon gekannt, lange bevor Melanie in Ihr Leben gekommen ist.
J: In meiner Kindheit, meinen Sie?
M: Wie war denn das, als die Oma zu euch gezogen ist und alle tyrannisiert hat? So hast du es auf jeden Fall erzählt.
J (schweigt)
Th: Julian, wo sind Sie gerade? Sie schauen so nachdenklich aus.
M: Verloren, finde ich. Verloren siehst du aus.
J: Ah, ja, ich habe nachgedacht. Da ist schon was dran. Nachdem mein Opa gestorben ist, ist die Oma zu uns gezogen und hat vom ersten Tag an das Regiment im Haus übernommen. Meine Mutter war nur mehr ihr Dienstmädchen, wenn die Oma nicht wollte, dass Wäsche aufgehängt wurde, dann durfte die Mama nicht waschen.
Th: Und wie war das für Sie?
J: Das ganze Leben war auf einmal völlig verdreht.
Th: Verdreht?
J: Ja. Die Mama hatte keine Zeit mehr für uns Kinder, weil sie für die Oma da sein und ihr mit ihrer kaputten Hüfte helfen musste. Ich hab‘ sie, ich meine die Oma, immer wieder gebeten, dass wir die Mama doch brauchen, ich war ja der Älteste. Sie hat nur durch mich hindurchgesehen, als wäre ich gar nicht da.
Th: Wie alt waren Sie da?
J: Ungefähr zehn, glaube ich. Ich weiß noch, ich habe mir gedacht, wie soll ich denn das aushalten? Alles ist so sinnlos.
Th: So verdreht. Das ganze Leben, wie es bisher war, ist zu Ende. Und sie sind rasend geworden vor hilfloser Wut.
M: So wie jetzt mit mir.
Th: Und wenn der kleine zehnjährige Julian nicht rasend vor Wut geworden wäre, was hätte er dann gefühlt?
J: Ich weiß nicht. Vielleicht …
M: Vielleicht traurig?
J (nickt): Verstehst du das?
Th: Ja, die kleine Melanie kann das gut verstehen. Denn auch sie hatte eine Menge Gründe, traurig zu sein. Stimmt das, Melanie?
M: Ja.
Th: Nur hatte die kleine Melanie eine andere Strategie, um damit umzugehen: sie hat sich zurückgezogen. Obwohl Sie vorher ein sehr lebenslustiges und fröhliches kleines Mädchen war.
M: Woher wissen Sie das? Ja, es stimmt. Wir waren eine fröhliche kleine Familie, Mama, Papa und ich. Doch dann hat sich alles verändert.
Th: Das ganze Leben, wie es bisher war, war zu Ende.
J: Ich glaub’s nicht! Was war denn los bei dir?
M: Der Papa hat Schwierigkeiten in seiner Firma bekommen und letztlich den Job verloren. Er ist immer wütender und wütender geworden, hat die Mama angebrüllt und mich auch.
Th: Wie alt waren Sie da?
M: Vielleicht zehn, als das begonnen hat. Ja, das war, bevor ich ins Gymnasium gekommen bin. Und es hat sich über Jahre hingezogen, bis weit in meine Pubertät. Als ich sechzehn war, war dann die Scheidung.
J: Und du warst dann auch so wie jetzt?
M: Ja. Schweigen, Schweigen, Schweigen. Der Papa ist dann zwar ausgezuckt, aber ich hab‘ bekommen, was ich wollte.
J: Und was wolltest du?
M: Gitarre lernen, zum Beispiel. Und später dann in den Tanzkurs gehen.
Th: Doch das, was Sie wirklich wollten, haben Sie nicht bekommen.
M: Nein, habe ich nicht.
Th: Ihr altes Leben zurück.
M (schüttelt den Kopf): Nein.
J (nimmt ihre Hand): Traurig ist das.
Th: Ja, sehr. Zwei hilflose und traurige Kinder. Der eine deckt seine Traurigkeit mit Wut zu, die andere mit Trotz.
J: Und Sie meinen, das spielen wir jetzt immer wieder durch?
Th: Was meinen denn Sie?
(Beide lachen)

Man könnte diese lange Intervention auch „Gemeinsame Einzeltherapie“ oder „Paartherapie mit Einzelpersonen“ nennen. Der Partner, die Partnerin werden dabei ein Stück weit zu Co-Therapeutin oder Co-Therapeut. Wir erleben, wie Melanie und Julian Gelegenheit haben, das alte „Du verstehst mi ned“-Narrativ zu entkräften und ein neues Narrativ zu finden, das ihre Konfliktmuster konstruktiv erklärt: wir wiederholen miteinander unbewusst die wundesten Punkte unserer frühen Lebensgeschichten, an denen wir uns wirklich nicht verstanden erlebt haben – und wir können daraus aussteigen.

Nun zur letzten der Interventionen, die ich Ihnen vorstellen möchte. Ich bin eigentlich kein Vortragender, kein Autor, kein Psychologe und kein Therapeut, sage ich immer wieder (obwohl ich das alles natürlich schon bin) – sondern ein Geschichtenerzähler. Wie ich das tue, das erleben Sie ja gerade mit, und verschiedene Varianten dafür habe ich Ihnen gerade erzählt. Diese Sichtweise auf meine Arbeit habe ich vor fast fünfzehn Jahren entdeckt und sie „Narrative Imagination“ genannt. Das bedeutet, dass ich einerseits selbst Geschichten intuitiv erfinde, die für den jeweiligen Kontext hilfreich sind. Andererseits rege ich Menschen, mit denen ich therapeutisch arbeite, dazu an, mit mir gemeinsam eine Geschichte – eine neue Geschichte – zu ihrem Thema zu erfinden. Diese Geschichte unterstützt dann metaphorisch ihre neuen Narrative. Ein besonders schönes Beispiel dafür haben Julian und Melanie gemeinsam mit mir erfunden.

Th: Haben Sie Lust, gemeinsam mit mir eine Geschichte zu diesen zwei Kindern zu erfinden, die in ihrer Ehe immer wieder mit ihren alten offenen Bedürfnisse aufeinandertreffen?
M: Oh ja, eine Geschichte, das hab‘ ich schon als Kind gemacht! Immer vor dem Einschlafen habe ich mir eine erzählt.
J: Ich weiß nicht, ob ich das kann. Wie soll das gehen?
Th: Ich erzähle Ihnen einen Anfang, und Sie machen dann weiter.
J: Und wenn wir hängenbleiben?
Th: Dann fragen Sie mich, und ich erfinde dann ein Stück weiter. OK?
(beide nicken)
Th: Es waren einmal vor langer, langer Zeit zwei Kinder…
M: … die lebten in einem weit, weit entfernten Land, das berühmt für den Wohlstand seiner Mensch war, denn der Boden dort war sehr fruchtbar und die Menschen sehr fleißig.
J: Die Kinder waren Nachbarn, ein Bub und ein Mädchen, die eng befreundet waren, solange sie sich zurückerinnern konnten.
M: Sie verbrachten all ihre Freizeit miteinander und durchstreiften den Wald und die Wiesen rund um das Dorf, in dem sie aufwuchsen. Für die beiden war immer klar, dass sie, wenn sie groß waren, heiraten würden. Doch sie ahnten nichts davon, dass ihre Zukunft nicht immer so sonning sein würde, wie sie sich das vorstellten.
J: In den Wäldern und Wiesen, in denen sie spielten, erzählten sie sich auch Geschichten, in denen sie sich ihre Zukunft ausmalten.(Pause, dann zum Th) Können Sie uns weiterhelfen mit der Geschichte?
Th: Eines Abends im Herbst übersahen sie, dass es schon dämmrig geworden war und sie noch mitten im Wald, weit weg von zu Hause, waren. Der Bub begann sich ein wenig zu fürchten, denn er erinnerte sich an Geschichten, die ihm seine Großmutter oft erzählt hatte – Geschichten von einem sehr alten Volk von Wald- und Wiesengeistern.

Wichtig beim Erfinden von Geschichten mit Einzelpersonen oder einem Paar zusammen ist sich in erster Linie von der kreativen Intuition leiten zu lassen und nicht von der Kognition. Zu dem Zeitpunkt, als ich die Wald- und Wiesengeister erfinde, habe ich keine Idee darüber, wo uns diese Geschichte hinführen wird. Ich beschäftige mich auch nicht damit, ob und was für eine Parabel daraus entstehen könnte. Das erleichtert es den beiden anderen erfindenden Personen, sich ohne Hintergedanken auf den Prozess einzulassen. Ich selbst bin nicht der Haupterzähler, sondern ein Impulsgeber.

Melanie greift die Idee von den Geistern eifrig auf.

M: Auch das Mädchen hatte diese Geschichten gehört, aber im Unterschied zu dem Jungen war sie weniger ängstlich als vielmehr neugierig.
J: Der Junge war nicht ängstlich, er war nur vorsichtig.

An dieser Stelle fangen beide zu lachen an. Die Geschichte beginnt zu einem gemeinsamen Narrativ zu werden: das neugierige Mädchen und der vorsichtige Junge. Die neugierige Frau und der vorsichtige Mann. Kurz übernehme ich die Erzählung wieder:

Th: Inzwischen war es dunkel geworden im Wald. Da schnappte der vorsichtige Bub erschrocken nach Luft: „Heute ist Neumond!“ sagte er und griff nach der Hand des neugierigen Mädchens.
J: Da kommen die Geister aus ihren Verstecken, hat meine Großmutter mir erzählt. Da haben Menschen nichts im Wald verloren.
M: Jetzt sind wir schon drin im Wald, sagte das Mädchen, das können wir nicht mehr ändern. Lass uns weitergehen!
Th: Ganz beiläufig hielten sie sich weiter an den Händen. So konnte der vorsichtige Bub ein wenig neugieriger sein und das neugierige Mädchen ein wenig vorsichtiger. Da! riefen sie plötzlich beide wie aus einem Mund.
M: Zwischen den Wurzeln eines mächtigen Baumes hatten sie eine Art Eingang gefunden. Das ist eine Höhle, und schau! meinte das Mädchen, da hängen eine Art Laternen.
J: Sollen wir hineingehen, fragte der Bub, und gleichzeitig wusste er, dass sie keine andere Wahl hatten. Es waren die einzigen Lichter in dem finsteren Wald.

Aus Zeitgründen überspringen wir die nächsten Passagen der Geschichte, in denen Julian und Melanie ihre beiden Figuren immer wieder zwischen Neugier und Vorsicht schwanken lassen. Schließlich kommen sie in dem Höhlensystem unter dem Wald in eine Art Besprechungszimmer, in dem an einem langen Tisch elf sehr verschiedene Wald- und Wiesengeister sitzen.

M: Schweigend werden dem Buben und dem Mädchen Plätze nebeneinander am unteren Ende der Tafel angeboten. Dann ergreift der Geist, der anscheinend den Vorsitz hat, das Wort.
J: Er ist der Größte von allen und nur wenig als körperliche Gestalt sichtbar, eher als Erscheinung. Wenn er spricht, sind seine Worte weniger zu hören als innerlich zu spüren.Die beiden jungen Menschen haben nicht aufgehört, sich an den Händen zu halten.
Th: Die Vorsitz-Erscheinung meint: Keine Angst, wir tun euch nichts. Wir wollen euch nur Glück wünschen.
M: Glück? fragt das Mädchen. Brauchen wir das denn?
Th: Das können alle Liebenden gebrauchen, sagt der vorsitzende Geist, und seine Worte fühlen sich warm und freundlich an.
M: Aber…sagt das Mädchen. Welche Liebenden denn? Wir sind doch…und sie möchte sagen, noch nicht erwachsen, doch sie merkt, dass das nicht stimmt. Sie sind älter geworden, seit sie die Höhle betreten haben, sie sind keine Kinder mehr, sondern ein junger Mann und eine junge Frau. Wieviel Zeit ist denn inzwischen vergangen? Sie sehen sich an und lächeln verwirrt. Gleichzeitig spüren sie, dass die Wald- und Wiesengeister besorgt sind.
J: Wegen was sollen sie denn besorgt sein? Die zwei passen doch gut zusammen!
M: … sagte der junge Mann.
J: Nein, das sage ich, Julian!
M: Sagte der junge Mann und war auf einmal gar nicht mehr vorsichtig. Und die junge Frau fühlte sich dadurch sehr ermutigt. Stimmt, sagte sie, was soll uns denn passieren? Wir lieben uns, wo soll da noch ein Problem sein?
Th: Die Geister raunten durcheinander, bis sie sich schließlich auf eine Stimme geeinigt hatten. Das Leben ist lang, meinten sie, das ist das Problem!
M: Das Leben ist lang, und eure Herzen werden sich verändern. Ihr werdet euch finden und verlieren und wieder finden und wieder verlieren. Aber wenn ihr nicht achtgebt, werdet ihr euch eines Tages ganz verlieren.
J: Niemals, sagten die beiden Menschen gemeinsam. Gut, sagten die Geister, wir verstehen, dass ihr uns das jetzt nicht glauben wollt. Wenn es eines Tages doch so weit sein sollte und ihr euch doch verliert, dann denkt an uns.
Th: Wir geben euch für diesen Tag, an dem ihr euch verliert, wenn er denn kommen sollte, etwas mit. Etwas für diese Zeit in eurem Leben, wenn eure Geschichten nicht mehr so romantisch sind, wie heute, für die Zeit, wenn diese Geschichte alt und bitter geworden sind.
M: Und was könnte das sein?
J: Ja! Was geben uns die Geister mit?
Th: Was die Geister Ihnen da mitgeben, weiß ich nicht, ich bin ja kein Geist. Aber ich als Therapeut kann Ihnen eine Zeile von Leonard Cohen mitgeben, einem der großen Geschichtenerzähler der letzten Jahrzehnte:
Lasst uns ein neues Lied singen, Leute,
Dieses hier ist alt und bitter geworden.
Let’s sing another song, boys
This one has grown old and bitter!

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