5. DER PROZESS DER SKRIPTBILDUNG IN TIEFENPSYCHOLOGISCH - TRANSAKTIONSANALYTISCHER SICHT
Workshop am Kongress 'Tage tiefenpsycho-
logischer Transaktionsanalyse
Kassel, September 1993
Ich möchte an den Beginn dieses Vortrags eine Begebenheit stellen, die ich vor wenigen Wochen selbst erlebte.
Seit 5 Jahren veranstalte ich jeden Sommer im Süden Österrreichs, in Kärnten, ein fünftägiges Therapiemarathon, bei dem wesentlicher Teil des Gruppenprozesses auch ist, daß die Teilnehmer stabile Kleingruppen bilden, die über die Dauer des Seminars hinweg konstant bleiben und unter anderem auch das Kochen für die gesamte Gruppe an je einem Tag übernehmen. Jedes Jahr funktionierte das mehr oder weniger klaglos - nur heuer stieß ich bei der Erklärung dieses Settings am Anfang des Seminars auf unerwarteten Widerspruch eines der Teilnehmer.
Thomas (fiktiver Name), ein etwa 40jähriger großer, etwas beleibter Mann, den ich vor dem Seminar nicht gekannt hatte, meldete sich erregt zu Wort:
T: Ich muß da offensichtlich etwas mißverstanden haben. Ich bin hierher gekommen, um mich zu erholen,und ich habe überhaupt keine Lust, zu kochen. In der Ausschreibung war die Rede von Selbstversorgung, und deswegen habe ich für mich auch genügend Lebensmittel mitgenommen. Ich hab' auch keine Lust, mir eine Kleingruppe zu suchen, die die ganze Woche über stabil bleiben soll. Dazu kenne ich die Leute hier zu wenig, und außerdem ist mir das zu eng.
Auf meine Bitte, seine Bedenken näher zu erläutern, sagte er:
T: Ich hab' ja gar nichts gegen euch alle - ihr schaut ja alle sehr sympathisch aus, aber ich hab überhaupt keine Lust, die Zeit hier auf so engem Raum zu verbringen und mich da mit anderen zu arrangieren. Ich hab' für diese Woche schon ein Angebot, auf Segeltörn zu gehen, ausgeschlagen. Ich hab keine Lust, auf so engem Raum mit Menschen zusammenzuleben. Mein Leben ist sonst auch eng genug. Ich überlege mir ernstlich, ob ich nicht abreisen soll!
In der Gruppe entstand daraufhin etliche Unruhe; die Stellungnahmen reichten von "Wenn er nicht will, soll er halt nicht kochen" über "Wie kommen wir dazu, für jemanden zu kochen, der das dann nicht auch für uns tut" bis hin zu "Wenn er ihm nicht paßt, dann soll er halt wirklich fahren". Teilnehmer, die schon auf früheren Seminaren gewesen waren, versuchten Thomas zu beruhigen, es sei ja nicht so schlimm und man gewöhne sich schon dran und er werde sehen, daß auch ihm das etwas bringen würde. Das alles führte jedoch nur zu einer Verhärtung von Thomas Position.
Auch ich, wurde zuerst ärgerlich, erkannte aber dann, wieviel Angst und Panik eigentlich hinter seinen Aussagen steckte. Darauf hin sagte ich zu ihm:
Th: Ich denke, daß wir hier mit Ärger und Gegenärger nicht gut weiterkommen werden. Selbstverständlich kann ich Ihnen nicht vorschreiben, ob sie hierbleiben oder nicht. Wenn Sie hierbleiben, halte ich es schon für wichtig, daß Sie sich an die gleichen Regeln halten wie die anderen. Ich kann aber gleichzeitig sehen, wieviel Angst Ihnen das zu machen scheint.
Auf diese Aussage hin entspannte sich Thomas merklich.
Th: Ich fände es im Moment sehr spannend, hier einzuhacken und mit Ihnen ein Stück therapeutisch zu arbeiten, was es denn ist, was Ihnen so Angst macht. Ich vermute, das hat sehr viel mit Ihnen, Ihrer Lebensgeschichte und Ihren momentanen Lebensproblemen zu tun. Allerdings ist der Zeitpunkt jetzt, am Anfang des Gruppenprozesses noch zu früh. Ich fände es aber sehr schade, wenn Sie vorzeitig abreisen würden und schlage Ihnen vor, hier zu bleiben, um genau an diesem Thema zu arbeiten.
T (nach einigem Nachdenken): Sie haben recht, daß ist es ja eigentlich was ich wollte. Ich möchte mir die Sache noch bis zum Nachmittag überlegen und dann meine Entscheidung bekanntgeben.
Als Transaktionsanalytiker haben wir es gelernt, über das Skript unserer Klienten zu denken und an der Veränderung oder Überwindung ihres Skripts mit ihnen zu arbeiten - an diesem halb- oder vorbewußtem Lebensplan, den Menschen in ihrer Kindheit unter äußerem Druck (vornehmlich den Druck ihrer Eltern) entscheiden und nachdem sie ihre künftigen Lebenserfahrungen und sozialen Beziehungen gestalten. Es ist offensichtlich, daß sich Thomas in diese Situation "scripty" wie es auf gut amerikanisch heißt verhält, daß er "in seinem Skript war" oder "aus seinem Skript heraus handelte", wie wir im deutschen Sprachraum vereinfachend zu sagen gelernt haben.
Wir könnten jetzt dieses Skriptverhalten näher explorieren und nach allen skriptdiagnostischen Kathegorien klassifizieren, die wir im Laufe unserer Ausbildung gelernt haben: wir könnten eine "sei nicht nahe" - Einschärfung feststellen und beispielsweise einen "sei stark" - Antreiber. Wir könnten eine Skriptmatrix zeichnen, wo diese Botschaften sich von verschiedenen Ich-Zuständen seiner Eltern an verschiedene Ich-Zustände an Thomas richten würden. Wir könnten Namen aus der griechischen Mythologie oder aus Grimms Märchen für die Beschreibung für Thomas Skriptverlauf finden. Wir könnten im Racket-System entsprechende Glaubenssätze und entsprechende Racketgefühle finden. Wir könnten sagen, daß der Auszahlungsgewinn seines Skripts möglicherweise darin liegt, allein und unverstanden übrigzubleiben. Wir könnten auch, wenn wir es gelernt haben, in tiefenpsychologischen Modellen zu denken - feststellen, daß Thomas sein Skript Übertragungsweise mit mir wieder auslebt und möglicherweise einen frühen ödipalen Konflikt mit seinem Vater mit mir wiederholt. Wir könnten in der Arbeit mit ihm regressiv skriptbildende Szenen erstellen, ihn frühe Entscheidungen wiedererleben und anschließend neu entscheiden lassen. Wir könnten ihn in der Gruppe neues Verhalten ausprobieren lassen und so versuchen, ob er einen Weg aus seinem Skript finden kann. Das alles könnten wir, und es würde wahrscheinlich durchaus solide Therapie dabei herauskommen. Aber würde es wirklich umfassend das Werkzeug nutzen, das ums Berne mit der Transaktionsanalyse in die Hand gegeben hat, wäre es wirklich von einem strukturiellen Verstehen der Persönlichkeit und ihres Ausbaus getragene Therapie zur strukturellen Veränderung der Persönlichkeit? Wäre es wirklich im eigentlichen Sinn "Skriptanalyse"?
Berne (1961) schreibt über die Entstehung von Skripts:
"Skripts gehören in den Bereich der Übertragungsphänomene, das bedeutet, sie sind Derivate, oder präziser Adaptionen infantiler Reaktionen und Erfahrungen" (Seite 117)
und über die Analyse von Skripts:
"das gegenwärtige Lebensdrama muß (...) in Beziehung gebracht werden zu seinen historischen Ursprüngen, sodaß die Kontrolle über das Schicksal des Individuums vom Kindheits-Ich-Zustand zum Erwachsenen-Ich-Zustand wechseln kann, von acheopsychischem Unbewußtsein zu neopsychischer Bewußtheit." (Seite 118)
Soweit scheint die Sache also klar zu sein. Das Skript, der Lebensplan, entsteht durch Erfahrungen in der Kindheit, das destruktive Skript passiert auf traumatisierenden frühen Erfahrungen. Diese Erfahrungen mit frühen Bezugspersonen werden auf Personen der Gegenwart übertragen und das Skript so im Sinne eines Wiederholungszwangs wieder und wieder ausgelebt, bestätigt und verstärkt.
Thomas' Verhalten in der vorhin geschilderten Gruppensituation läßt, insbesondere durch die Heftigkeit seiner emotionellen Reaktion, unschwer einen zugrundeliegenden Übertragungs- und damit Skriptkontext vermuten. In all den vorher erwähnten der Skriptarbeit würde es möglich, dieses gegenwärtige Verhalten auf frühere Lebenserfahrungen von Thomas zurückzuführen. Mit diesem Teil des Instrumentariums eines Skriptanalytikers können wir also verhältnismäßig einfach Antworten auf die Frage, was ist damals passiert, damit sich dieser Mensch heute so verhält?" beantworten.
In dem vorher erwähnten Zitat von Berne ist die Rede davon, daß aus archeopsychischem Unbewußtsein neopsychische Bewußtheit werden soll. Damit aber erhält unsere Fragestellung eine persönlichkeitsstrukturelle Dimension. Denn erst die Tatsache, daß Teile der Lebenserfahrung innerhalb der Persönlichkeitsstruktur von bewußtem zu unbewußtem verschoben werden, bedingen ja den Wiederholungszwang. Denn eine negative traumatische Erfahrung, die ein Mensch im Bewußtsein erhält wird er ja aller Wahrscheinlichkeit nach nicht wiederholen, sondern eher zu vermeinden trachten. Schlechte Erfahrungen, die ich in der Vergangenheit gemacht habe, lassen mich schlimmstensfalls bewußt befürchten, daß es mir mit anderen Menschen auch so gehen könnte, aber nicht unbewußt diese negativen Erfahrungen auf andere Menschen übertragen. Der zentrale Aspekt der Übertragung besteht ja darin, daß sie ein Mittel ist, schlimme Erfahrungen nicht zu Bewußtsein kommen zu lassen. Sigmund Freud (1912) sagt dazu:
"Die unbewußten Regungen (d.h. gespeicherten traumatischen Erfahrungen, KS) wollen nicht erinnert werden (...), sondern streben danach sich zu reproduzieren." (Seite 491)
Die Frage "Was ist damals passiert, daß sich dieser Mensch heute so verhält?" muß also nichtnur unterdem sozusagen dokumentarischen Gesichtspunkt gesehen werden (was könnte man auf einer Videoaufzeichnungs sehen, wenn damals in der Kindheitsfamilie des Klienten eine Kamera installiert gewesen wäre), sondern ganz wesentlich einen intrapsychischen Aspekt. Sie bedeutet dann: Was ist damals passiert, daß Dinge nicht in den Bereichen der Seele gespeichert werden konnten, die der Bewußtheit zugänglich sind, sondern ins Unbewußte abgedrängt werden mußten?
Lassen Sie mich, um diesen intrapsychischen Prozeß in seiner Dynamik faßbar zu machen, etwas weiter ausholen. Eine der Grundannahmen der Tiefenpsychologie ist seit Freud, daß die Wurzel patogenen Geschehens in einer subjektiven oder objektiven Unfähigkeit der Konflicklösung liegt. Freud sah die wesentliche Konflikebene zwischen der Triebspannung und der Möglichkeit zur Triebabfuhr. In der seit den fünfziger Jahren entwickelten tiefenspychologischen Schule der Objektbeziehungstheorien (Fairbairn 1952, Mahler/Pine/Bergman 1980) wird weniger der Sexualtrieb als viel mehr das Bedürfnis des Menschen nach Kontakt als zentrale seelische Dynamik gesehen. Dementsprechend spielt sich das wesentliche Konfliktgeschehen zwischen dem erwähntem Kontaktbedürfnis und seiner Befriedigung bzw. Nicht-Befriedigung ab. Im Kontaktbedürnis des Kindes sind zwei wesentliche einander scheinbar widersprechende Bestrebungen zu erkennen: einerseits die Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit, andererseits das Steben nach Autonomie und Getrenntheit. Nur die angemessene Befriedigung dieser beiden Bedürfnisse kann zu gesunden seelischem Wachstum führen. Dabei entstehen naturgemäß Konflikte: die Bedürfnisse des heranwachsenden Kindes (in der einen oder anderen Richtung bzw. eine Ambivalenz zwischen den beiden) werden nicht hinreichend wahrgenommen bzw. nicht hinreichend befriedigt. Das Entstehen dieser Konflikte an sich ist noch nichts ungesundes, im Gegenteil. Die normale Austragung solcher Konflikte (mit der Äußerung der dazugehörenden Affekte) führt erst zur Herausbildung des Ichs als dem Kern gesunder menschlicher Persönlichkeit. Erst wenn diese Konflikte aus verschiedenen Gründen nicht gesund, sondern ungesund verarbeitet werden müssen kommt es zur Herausbildung mehr oder weniger gestörter Ich-Strukturen (Blanck/Blanck 1980, Mentzos 1982).
Die Transaktionsanalyse bietet mit der Theorie der Ich-Zustände und der diesen zugrundeliegenden psychischen Organe einen wesentlichen Beitrag zur Ich-Psychologie. beziehe mich dabei auf die früheren Arbeiten Bernes (Berne 1961, 1991), der sich darin wieder auf die Erkenntnisse von Paul Federn (Federn 1978) beruft.
Die zentralen Erkenntnisse Federns und später Bernes waren, daß das Ich, also der Teil der menschlichen Persönlichkeit, der sichtbar und erfahrbar wird, in verschiedenen Zustandsformen in Erscheinung treten kann. Jeder dieser Ich-Zustände stellt sich als ein in sich zusammenhängendes System von Denken, Fühlen und Verhalten dar.
Berne unterscheidet innerhalb des Ichs
- ein System von Denken, Fühlen und Verhalten, das sich in angemessener Weise mit der Gegenwart sowie früheren Erfahrungen und äußeren Einflüssen auseinandersetzt (der Erwachsenen-Ich-Zustand),
- ein System von Denken, Fühlen und Verhalten, die als Ganzes aus der Vergangenheit in die Gegenwart übernommen wurden (die Kindheits-Ich-Zustände),
- und zusammenhängende Systeme von Denken, Fühlen und Verhalten, die als Ganzes von unseren Bezugspersonen übernommen wurden (die Eltern-Ich-Zustände).
Diesen Ich-Zuständen, als den Formen, in denen das Ich sichtbar und erfaßbar wird, legt Berne die sogenannten 'psychischen Organe' zugrunde:
- die 'Neopsyche' (von griechisch 'neo'für gegenwärtig),
- die 'Archäopsyche' (von griechisch 'archäo' für vergangen),
- und die 'Exteropsyche' (von griechisch 'extero' für außen, äußerlich).
Das ist so zu verstehen, daß die menschliche Psyche aus drei großen Bereichen aufgebaut ist . In einem Bereich, der Archäopsyche, wird wie in einem großen Behälter all das gespeichert, was ein Mensch im Laufe seines Lebens erfahren und erlebt hat. In einem zweiten großen Behälter, der Exteropsyche, wird all das gespeichert, was an Einflüssen von wichtigen äußeren Personen auf die Person eingewirkt hat. Gewissermaßen in der Mitte gibt es einen Bereich, der die Aufgabe hat, all das, was in der Gegenwart vor sich geht, wahrzunehmen und im Hinblick darauf zu agieren und zu reagieren - die Neopsyche. Dazu muß von diesem Bereich aus auch gleichzeitig auf die beiden anderen Bereiche zurückgegriffen werden . Die Aufgabe der Neopsyche besteht also darin, gegenwärtiges Geschehen, frühere Erfahrungen und Einflüsse von äußeren Personen miteinander in Beziehung zu setzten, zu integrieren, zu modifizieren, zu spezifizieren und zu differenzieren (vgl. Gurtner/Rath/Sejkora/Springer 1993). Je besser der Neopsyche der Zugriff und die Verarbeitung von früheren Erfahrungen und äußeren Einflüssen möglich sind, umso besser kann im Hier und Jetzt adäquat, also 'erwachsen' agiert und reagiert werden.
Im Zusammenhang mit traumatisierenden Erfahrungen wird es oft notwendig, die damit zusammenhängenden Gefühle abzuwehren, zu verdrängen, weil sie nicht beachtet oder bestraft werden. Durch diese Abwehrvorgänge wird die gesunde Verarbeitung der Ereignisse unmöglich gemacht: denn zur Verarbeitung von negativen Erfahrungen benötigen wir auch die dazugehörigen Gefühle. Es kommt zu Fixierungen im Bereich der Archäopsyche - das heißt, daß an manchen Stellen kein gesundes Wachstum möglich ist, sondern daß bestimmte Zustandsformen, Systeme von Denken, Fühlen und Verhalten, aus früheren Zeiten vollständig in das künftige Leben übernommen werden. (vgl. Erskine 1988, Sejkora 1989, 1991, 1992, 1993). Diese Bereiche der Archäopsyche sind dem integrierenden, modifizierenden und differenzierten Zugriff der Neopsyche entzogen. Wann immer der mittlerweile erwachsen gewordene Mensch mit Situationen in Berührung kommt, die an die unverarbeiteten schmerzvollen Erfahrungen von früher heranrühren, muß wieder Abwehr passieren - dazu werden frühere Zustandsformen des Ichs aktiviert. Die Person 'besetzt einen Kindheits-Ich-Zustand', d.h. sie denkt, fühlt und verhält sich so, wie es zum Zeitpunkt der ursprünglichen abgewehrten traumatisierenden Erfahrungen getan hat.
Ähnlich ist es sich mit der Exteropsyche: Wie unsere (vor allem elterlichen) Bezugspersonen mit uns in diesen traumatisierenden Situationen umgehen, kann ebenfalls nicht gesund verarbeitet werden, sondern muß durch Introjekte abgewehrt werden. Das heißt, daß die bedrohliche elterliche Figur als Ganzes, so wie sie vom Kind erlebt wird, gespeichert und verinnerlicht wird (vgl. Erskine 1988, Loria 1988, Sejkora 1989, 1991, 1992, 1993, Christoph-Lemke 1991). Auch diese Bereiche der Exteropsyche sind dann nicht mehr den integrierenden, differenzierenden und modifizierenden Funktionen der Neopsyche zugänglich. In spezifischen, an die traumatischen Ereignisse erinnernden Situationen ist es dann nicht mehr möglich, erwachsen auf Erfahrungen mit wichtigen Bezugspersonen zurückzugreifen, sondern es werden Eltern-Ich-Zustände aktiviert - zusammenhängende Systeme von Denken, Fühlen und Verhalten der elterlichen Personen, so, wie sie das Kind erlebt hat. Unter deren Einfluß wiederum wird das Auftreten fixierter Teile der Archäopsyche - von Kindheits-Ich-Zuständen - begünstigt. Mit einem Wort: die betreffende Person 'lebt ihr Skript aus'. Auf intrapsychische Vorgänge bezogen, heißt das nichts anderes, als daß neopsychisches, dem aktuellen Stand der Entwicklung angemessenes, erwachsenes Funktionieren nicht möglich ist - das Denken, Fühlen und Verhalten des Menschen wird durch fixierte Inhalte der Archäopsyche und introjizierte Inhalte der Exteropsyche bestimmt. Das aber wiederum bewirkt, daß auch die neuen, aktuellen Erfahrungen nicht auf gesunde Weise verarbeitet und integriert werden können, sondern daß mittels der Abwehrvorgänge weitere Verfestigungen im archäopsychischen und exteropsychischen Bereich auftreten: das Skript wird verstärkt und weiter ausgebaut.
Wir können also sagen, daß Skriptentwicklung immer dann eintritt, wenn aus irgendeinem Grund die neopsychische Verarbeitungsfähigkeit nicht oder nur eingeschränkt gegeben ist. Je kleiner ein Kind ist, desto schwächer ist diese Verarbeitungsfähigkeit naturgemäß ausgebildet, da sie ja immer ein dem aktuellen Entwicklungsstand gemäßes Resultat der allmählichen Herausbildung gesunder Ich-Strukturen darstellt. Mit anderen Worten: je weniger ein Kind aufgrund seines Entwicklungsstandes imstande ist, mit den auftauchenden Konflikten zwischen seinen Sehnsüchten nach Geborgenheit und Getrenntheit und deren schlechter oder fehlender Befriedigung umzugehen, umsomehr muß es zu Abwehrhaltungen, Fixierungen und Introjektionen kommen. Sobald diese aber aufgetreten sind, wird die zukünftige Fähigkeit der Neopsyche zur Integration weiter eingeschränkt. Die Ich-Strukturen, das angemessene Funktionieren im Hier und Jetzt, ist bereits beschädigt, wenn auf neuen Entwicklungsstufen wieder neue Konflikte der vorhin beschriebenen Art auftreten. Das wiederum bedeutet erneutes Auftreten von Abwehrhaltungen, erneute Fixierungen und Introjektionen, und damit gehen wiederum neuerliche Einschränkungen der neopsychischen Entwicklung einher.
Versuchen wir uns auf diesem Hintergrund anhand des eingangs geschilderten Fall an einem Stück Skriptdiagnostik.
Nehmen wir als erste Hypothese an, daß es sich bei Thomas' Verhalten um Übertragungstransaktionen handelt. Darauf läßt, wie gesagt, die Heftigkeit der emotionellen Reaktion schließen. 'Übertragung' aber bedeutet entsprechen vorher angestellten Überlegungen, daß die neopsychische, d.h. die Erwachsenen-Ich-Zustands-Fähigkeit zum Umgang mit dem Hier und Jetzt nicht ausreichend gegeben ist, sondern daß infolge von Abwehrmechanismen fixierte Inhalte der Archäopsyche und introjizierte Inhalte der Exteropsyche aktiviert werden. Die exteropsychischen Inhalte werden nach außen (in diesem Fall auf mich, den Therapeuten) projiziert, um so Erleichterung im inneren Dialog zwischen Eltern-Ich- und Kindheits-Ich-Zustand zu schaffen.
Abwehrvorgänge und in ihrem Gefolge Fixierungen und Introjektionen treten aber immer dann auf, wenn Traumatisierungen erfolgen - dann, wenn Grundkonflikte nicht positiv, d.h. mit Hilfe ausreichend entwickelter Neopsyche gelöst werden können.
Die Hauptkonfliktlinien in der Entwicklung des Kindes verlaufen, wie vorher erwähnt, entlang den Bedürfnissen nach Geborgenheit einerseits und nach Getrenntheit andererseits. Ein Versagen eines der beiden oder beider Bedürfnisse bzw. mangelnde Unterstützung bei der Auflösung der Ambivalenz zwischen ihnen müssen zu pathologischer Kon¡fliktlösung führen (vgl. Mentzos 1982). Pathologische, besser: pathogene Konfliktlösung aber bedeutet: Konfliktlösung ohne volle 'Inbetriebnahme' der Neopsyche, bedeutet Konfliktlösung unter der Mobilisierung von Abwehrvorgängen, bedeutet Fixierung und Introjektion.
Das führt uns zur zweiten Hypothese hinsichtlich Thomas: eine ungelöste, oder besser gesagt ungesund gelöste Ebene des Konfliktes scheint sich entlang der nicht genügend befriedigten Bedürfnisse nach Getrenntheit, nach Autonomie herausgebildet zu haben. Darauf deuten seine Definitionen des Gruppensettings als "eng" und seine verzweifelte Rebellion dagegen hin. Hinter diesen rebellischen Reaktionen steckten abgewehrte Angst, geradezu Panik - was Rückschlüsse darauf erlaubt, wie massiv ungelöst diese Konfliktebene für Thomas in seiner Entwicklung möglicherweise ist.
Bemerkenswert ist aber auch, wie deutlich sich Thomas entspannte, als ich seine Angst ansprach und ihm zu vermittelten versuchte, seine Bedürfnisse bzw. seine Gefühle darüber, daß sie nicht befriedigt wurden, wahrnehmen zu können. Daher können wir zu diesem Zeitpunkt als dritte Hypothese vermuten, daß es auch einen ungelösten Konflikt entlang der Bedürfnisse nach Schutz und Geborgenheit geben könnte.
Das wiederum erlaubt als vierte Hypothese, daß der eigentliche ungesund gelöste Konflikt möglicherweise mit der Fähigkeit bzw. Unfähigkeit zum Ertragen der Ambivalenz des Hin- und Her-Pendelns zwischen den beiden Bedürfnissen nach Getrenntheit und nach Geborgenheit zu tun haben könnte. Das wiederum aber wäre typisch für einen ungelösten narzistischen Konflikt.
Wenn wir diese Hypothesen erstellt haben - und in ihrer Essenz laufen sie auf diagnostische Hypothesen hinaus - wie können wir sie dann erhärten oder verwerfen?
Die Abwehrmechanismen, die wir in der Psychotherapie in Form von Übertragung zu sehen und zu spüren bekommen, lassen uns am eigenen Leib das Skript des Klienten erleben. Vorhin haben wir gesehen, daß 'Skript-Ausleben' nichts anderes bedeutet als: auf eine bestimmte Art und Weise die Fähigkeiten der Neopsyche zu Wahrnehmung, Integration, Modifikation und Differenzierung nicht wahrnehmen zu können, sondern auf fixierte Inhalte der Archäopsyche (Kindheits-Ich-Zustände) bzw. introjizierte Inhalte der Exteropsyche (Eltern-Ich-Zustände) zurückgreifen zu müssen. Wenn es uns nun aber gelingt, genau zu explorieren, auf welche Art und Weise die Funktion der Neopsyche gestört ist, an welchen Punkten sie gewissermaßen 'aussetzt', dann erlaubt uns das Rückschlüsse darauf, in welchem entwicklungspsychologischen Alter sich der/die KlientIn gerade befindet wie alt der revitalisierte Kindheits-Ich-Zustand, den wir aktuell vor uns haben, ist.
Bei Thomas gibt es da einige signifikante Aussagen: Eine z.B. davon ist: "Ihr schaut ja alle sehr sympathisch aus". Real gesehen, kann das gegenüber einer Gruppe von 18 nie vorher gesehenen Menschen ja wohl kaum so sein, daß alle auf Anhieb "recht sympathisch" aussehen. Möglicherweise ist diese Aussage ein Anzeichen dafür, daß der eben von Thomas durchgespielte, ursprünglich ungesund gelöste Kon¡flikt zu einer Zeit passierte, als die Welt gewissermaßen noch schwarz oder weiß war, wo Menschen entweder ganz gut oder ganz böse waren; d.h. also zu einer Zeit, wo bestimmte Fähigkeiten der Neopsyche, zu differenzieren und zu spezifizieren, noch nicht gegeben waren, sondern wo entwicklungspsychologisch Übergeneralisierungen nötig waren.
Eine weitere interessante Aussage dazu findet sich ein Stück zuvor: "Ich hab' auch keine Lust, mir eine Kleingruppe zu suchen, die die ganze Woche über stabil bleiben soll. Dazu kenne ich die Leute hier zu wenig ...".
Das kann unter Umständen bedeuten, daß sich Thomas regressiv in einem Alter befindet, wo die neopsychische Fähigkeit zum Suchen von sozialen Kleingruppen noch nicht entsprechend herausgebildet ist.
Das Alter, von dem in bezug auf diese beiden Aussagen die Rede ist, ist mit zumindest unter drei anzusetzen - was unsere Hypothese eines narzißtischen Grundkonfliktes erhärten würde.
Wir müssen uns allerdings davor hüten, zu schnell nur solche Informationen herauszufiltern, die in unsere Hypothese passen. Es gibt da beispielsweise auch noch das Faktum, daß Thomas die Ausschreibung offensichtlich mangelhaft gelesen hat (denn in dieser wurde das Setting einigermaßen deutlich beschrieben). Das könnte natürlich auch heißen, daß er sich regressiv in einem Alter befindet (oder zum Zeitpunkt des Lesens befand), wo er das, was er las, noch nicht in seiner Gesamtheit verstehen konnte, also etwa im Alter von sieben oder acht Jahren. Sein Verständnis der 'Selbstversorgung' als pfadfinderhaftes für sich selbst Kochen, könnte wiederum in einer nur vorpubertär entwickelten Fähigkeit des neopsychischen Begreifens angesiedelt sein. All das könnte heißen, daß unsere Hypothesen über den narzißtischen Grundkonflikt falsch waren und daß die entscheidenen Konflikte sich später abgespielt haben.
Es könnte aber auch bedeuten, daß es in späteren Entwicklungsstufen aufgrund bereits vorhandenen Defekte des neopsychischen Funktionierens zu neuerlichen Traumatisierun¡gen, Abwehrhaltungen, Fixierungen und Introjektionen in einem Wort: zur Verstärkung der Skriptentwicklung gekommen ist. Erst weitere ausführliche therapeutische Exploration kann darüber Aufschluß geben.
Sie sehen also, daß zu dem von mir beschriebenen Vorgang der Skriptanalyse ein genaues entwicklungspsychologisch diagnostizierendes Vorgehen bzw. eine genaue Kenntnis der entwicklungspsychologischen Stadien notwendig ist.
Auf die Implikationen dieser Darlegungen für Methodik und Technik werde ich in meinem Leitvortrag von Sonntag vormittag näher eingehen. Hier nur soviel: durch dieses skriptanalytische Vorgehen wird zweierlei therapeutisches Intervenieren möglich:
- Wir können die jeweiligen Fixierungen und Introjektionen in den entsprechenden Altersstufen lokalisieren und an ihrer Bewältigung und Auflösung arbeiten (vgl. Sejkora 1989, Erskine/ Moursund 1991).
- Gleichzeitig können wir aber auch an den neopsychischen Defiziten ansetzen. Denn mit dem Durcharbeiten kindlicher Traumatisierungen und dem Aufgeben der Abwehrhaltungen allein ist es ja nicht getan. Es geht auch darum, die blockierten neopsychischen Fähigkeiten, mit anderen Worten das Erwachsenen-Ich zu entwickeln. Und dazu müssen wir von dort ausgehen, wo die Beschädigungen begannen.
Im geschilderten Fall ist das einerseits mit der Intervention "Ich kann sehen, wieviel Angst Ihnen das zu machen scheint" geschehen (damit wurde die Abwehr der Angst als eine sinnvolle neopsychische Leistung des kleinen Jungen gewürdigt), andererseits damit, Thomas eine Lösung für seine Konflikte in Aussicht zu stellen ("Ich schlage vor, hierzubleiben, um an diesem Thema zu arbeiten."). Das Ergebnis davon war deutlich: Er begann zu denken und bat um Zeit, um zu überlegen. Es war nicht zu erwarten, daß er das ganz und gar auf der Stufe seines biologischen Alters, also einem Vierzigjährigen entsprechend, tun würde. Angesichts des Übertragungskonfliktes, in dem er bereits steckte, und hinsichtlich der Probleme, um die es dachte er an diesem Punkt mehr mit den neopsychischen Fähigkeiten eines vielleicht zwei- bis dreijährigen Kindes.- Aber das bedeutete ja bereits einen ersten Schritt zur Lösung des Konfliktes und den Beginn zur Nachreifung der Neopsyche, ansetzend auf der Ebene neopsychischen Funktionierens, wo der Konflikt entstanden war.
In einem kontinuierlichen therapeutischen Prozeß in dieser Art und Weise kann so allmähliche Reifung des Erwachsenen-Ichs bis zum gegenwärtigen biologischen Alter und Lösung der Übertragung und Heilung der beschädigten Ich-Strukturen erfolgen.