Mein psychologisches Corona-Tagebuch: Paarkonflikte

"So endet es immer: wir schreien uns an.“ (26.03.2020)
Die „Stay Home“- Situation, in der wir jetzt (und noch auf unbestimmte Zeit) leben, ist für viele Paare eine Herausforderung. Nur wenige sind es gewohnt, 24 Stunden am Tag mit dem Partner/der Partnerin zu verbringen. In „normalen“ Zeiten sind schon Urlaube oder Weihnachtsfeiertage nicht immer einfach. Statistisch erhöht sich nach solchen Anlässen die Zahl der eingereichten Scheidungen. Jetzt, wo wir miteinander außer Spaziergängen nichts miteinander außerhalb unserer vier Wände unternehmen können, werden Toleranz und Respekt oft auf eine harte Probe gestellt. Kinder brauchen jetzt besonders viel Aufmerksamkeit und Zeit, weil sie in vieler Hinsicht unter der Situation leiden (zum Thema „Umgang mit Kindern“ können Sie in den nächsten Tagen an dieser Stelle einen weiteren Beitrag lesen).
Noch belastender ist es für Paare, die schon vor dem Notstand eine Krise miteinander durchlebt haben. Da Paartherapie eines meiner Spezialgebiete ist, bedeutet die vorläufige Schließung meiner Praxis für viele Paare eine problematische Unterbrechung unseres gemeinsamen Prozesses.
So auch für Hanna und Emil F. Die beiden sind Ende 30, seit 12 Jahren ein Paar, seit 9 Jahren verheiratet. Sie haben zwei Kinder, einen elfjährigen Jungen und ein siebenjähriges Mädchen. Ihre Beziehung war ihrer Aussage „von Anfang an nicht einfach“, es gab Aufs und Abs, Außenbeziehungen, Trennungen, Neubeginne. Seit etwa einem halben Jahr arbeiten wir gemeinsam, es ist bereits ihr dritter Versuch einer Paartherapie. Unmittelbar nach Beginn des Physical Distancing nahm ich mit ihnen Kontakt auf, sie wollten zu diesem Zeitpunkt versuchen, ohne Hilfe mit der Situation klar zu kommen, „weil wir uns das online nicht vorstellen können.“ Gestern haben sie sich wieder gemeldet, und wir haben einen Skype-Termin vereinbart.

Hanna: Wir haben es gleich befürchtet, dass das megaschwierig für uns werden wird. Ich halte den Emil ja so schon oft kaum aus, und jetzt ist er dauernd da. Sitzt herum, schaut Löcher in die Luft und interessiert sich nicht für die Kinder.
Emil: Hallo! Ich bin im Home-Office! Ich hab‘ zu tun!
Hanna: Ja, und wenn irgendwer ein Lebenszeichen gibt während deiner superwichtigen Conference Calls, dann zuckst du aus!
Emil: Ich zuck nicht aus, ich brauch nur meine Ruhe! Es ist nicht meine Schuld, dass wir immer noch in dieser kleinen Wohnung sitzen, du wolltest ja nicht wegziehen aus der Stadt!
Hanna: Weil ich hier wenigstens Bezugspersonen habe, Menschen, mit denen ich mich treffen kann! Sonst würde ich komplett verkümmern an deiner Seite!
Therapeut: Ich habe Ihnen jetzt ein paar Minuten zugehört und sie beobachtet. Ich möchte Ihnen gerne Rückmeldung geben, wie ich sie erlebe. OK?
Hanna (lacht): Ja, so, wie sie uns immer erleben. Ist ja nichts Neues.
Therapeut: Stimmt, das Muster ist ein vertrautes.
Hanna: Und wir wissen auch, wo das alles herkommt: aus unserer Lebensgeschichte und aus unseren Familien.
Emil: Vor allem aus deiner Familie!
Therapeut: Ja, das haben wir schon einige Male analysiert, und Sie haben auch einiges verändert.
Hanna: Und jetzt sind wir total rückfällig.
Therapeut: So würde ich es nicht nennen. Sie sind in einer sehr, sehr angespannten Situation wie wir alle. Da ist es klar, dass wir alle fast automatisch unsere alten und uralten Mechanismen anwenden. Die haben wir schließlich in unserer Kindheit gelernt, um mit Belastungen fertig zu werden. Aber dort will ich jetzt gar nicht hin. Mir geht es darum, Ihnen zu helfen, die jetzige Situation zu deeskalieren.
Emil: Klingt gut. Und wie?
Therapeut: Wie gesagt, gehen wir von dem aus, was ich in den Minuten vorher beobachtet habe.
Beide: Ja.
Therapeut: Wenn wir uns vorstellen, dass jemand dieses Gespräch mitbekommen hätte, der unsere Sprache nicht versteht. Was wäre dem aufgefallen?
Hanna: Dass wir laut waren. Laut und immer lauter. So endet es immer: wir schreien uns an.
Therapeut: Genau. Und wenn Menschen laut und immer lauter werden, dann tun sie das entweder, weil der andere sie akustisch nicht versteht –
Emil: Was bei uns nicht der Fall ist. Wir haben kein Problem mit den Ohren.
Therapeut: Richtig. Der zweite Grund, warum wir das tun, ist dann, wenn wir uns menschlich nicht verstanden erleben. Was in Ihrem Fall ja auch kaum menschenmöglich ist: ein Vorwurf folgt auf den anderen, und sie wechseln mit fast jedem Satz das Thema. Sie haben mit einem aktuellen Konfliktpunkt begonnen und sind dann vom Hundertsten ins Tausendste gekommen. Und, wie gesagt, es war ein Vorwurf nach dem anderen. Wenn wir Vorwürfe hören, machen wir in der Regel dicht.
Hanna: Also ich soll nicht mehr sagen, was mich stört? Alles schlucken?
Therapeut: Darum geht es nicht. Es geht darum, dass sie ja wollen, dass Emil Sie versteht. Und er will, dass Sie ihn verstehen.
Hanna: Genau. Ich soll ihn verstehen und alles gut finden, was er macht.
Therapeut: Das ist ein häufiges Missverständnis: wenn ich das Bedürfnis eines anderen Menschen verstehe, dann muss ich es auch gutheißen und womöglich auch erfüllen. Nein, das muss ich nicht.
Hanna: Wie jetzt?
Therapeut: Unsere Gefühle zeigen uns, dass wir Bedürfnisse haben. Sie sind Strategien, um uns diese Bedürfnisse zu erfüllen – oder um damit umzugehen, dass sie eben nicht erfüllt werden.
Emil: Können Sie uns dafür ein Beispiel geben?
Therapeut: Gerne. Ich habe in der jetzigen Situation große Sehnsucht nach meinen Enkelkindern, also ein Bedürfnis nach Nähe zu ihnen. Dass das auf unbestimmte Zeit nicht möglich ist, ist traurig.
Emil: Sie sind nicht ärgerlich darüber?
Therapeut: Manchmal spüre ich einen Impuls in der Richtung. Ärger kann mir aber nur dann helfen, wenn mein Bedürfnis erfüllbar ist. Wenn es das nicht ist – dann ist das traurig.
Emil: Das hilft Ihnen aber auch nicht.
Therapeut: Doch, das tut es. Traurigkeit hilft dabei, etwas zu akzeptieren, was ich nicht ändern kann.
Hanna: Wenn Sie das so sagen – dann bin ich über eine Menge Dinge traurig. Dass Emil zwar zu Hause ist, aber so wenig Zeit hat. Weil seine Zeitung ihn so im Home-Office braucht. Dass wir den Frühling so wenig genießen können.
Therapeut: Emil, wie kommt das bei Ihnen an?
Emil: Ich bin verblüfft. Sie versteht mich ja!
Hanna (lacht): Hättest Du nicht geglaubt, oder?
Emil: Ich bin ja auch traurig, weil ich so wenig Zeit für euch habe.
Therapeut: Das heißt, Sie beide haben ein Bedürfnis nach Nähe miteinander und gemeinsam mit den Kindern. (beide nicken, Hanna greift nach Emils Hand)
Therapeut: Ich mache Ihnen einen Vorschlag: lassen Sie uns bei unserem nächsten Gespräch Ende der Woche noch ausführlich darüber reden, wie Sie das Verständnis füreinander und auch für sich selbst fördern können.
Hanna: Da gibt es doch sicher in einem Ihrer Bücher Übungen dazu, oder?
Therapeut: Stimmt.
Emil: Vielleicht schauen wir uns da die eine oder andere an. Ich habe mir ja das Paar-Buch und das Lebensplan-Buch auf meinen Kindle runtergeladen. Zeit hätte wir ja jetzt.

Anm.: Die erwähnten Bücher sind „Trennung oder Neubeginn. Hilfe für Paare in der Krise“ und „Vom Lebensplan zum Beziehungsraum. Wie Sie mit Hilfe der Transaktionsanalyse einschränkende Muster überwinden“ (das zweite habe ich gemeinsam mit Henning Schulze geschrieben). Nähere Hinweise und Auszüge daraus finden Sie auf dieser Homepage.

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