1. DAS WIEDERENTDECKEN DES VERDRÄNGTEN INNEREN KINDES: WEGE AUS DEPRESSIONEN, ÄNGSTEN, STRESS, PSYCHOSOMATISCHEM LEIDEN
Vortrag für das Katholische Bildungswerk Linz
Linz, Oktober 1995
Ich möchte Sie einladen, sich kurz folgende Situation vorzustellen: denken Sie sich, Sie sind auf einem fremden Planeten gelandet. Auf diesem Planeten leben Wesen, die zwar aussehen wie wir Menschen, aber ungefähr dreimal so groß sind wie wir. Diese Wesen verständigen sich und reden mit Ihnen in Lauten, die Sie nicht verstehen können. Manchmal sind sie freundlich, manchmal ohne erklärlichen Grund wütend, manchmal werden ihre Stimmen so laut, daß Ihnen fast das Trommelfell platzt. Diese Wesen bestimmen vollständig über Sie; sie können Sie hochheben, in einen bettähnlichen Gitterkäfig sperren und nur dann herausholen, wann es ihnen paßt; von ihnen hängt es ab, ob Sie etwas zu essen bekommen oder nicht. Es kann auch sein, daß manche von den Wesen grob und brutal zu Ihnen sind, und das ist sehr bedrohlich, denn ihre Hände sind allein so groß wie Ihr ganzer Brustkorb. Die Gegenstände des täglich Bedarfs sind auch überdimensional groß: Gabel und Löffel reichen Ihnen bis zum Ellbogen, die Tische sind so hoch, daß Sie nicht einmal drüberschauen können, wenn Sie sich auf die Zehenspitzen stellen, das WC ist so groß, daß Sie hineinfallen würden, wenn Sie sich nicht krampfhaft am Rand festhalten.
Klingt das bedrohlich? Fremdartig? Und doch haben Sie und ich, wir alle, in so einer Situation gelebt, über viele Jahre hinweg. Oft waren da noch viel schlimmere Dinge im Spiel: wir wurden hilflos allein gelassen, wurden unnötig bevormundet, geschlagen, beschimpft, verspottet, beschämt.
Natürlich war es nicht nur so - natürlich wurden die meisten von uns auch liebevoll und fürsorglich behandelt, sonst wären wir wahrscheinlich gar nicht mehr am Leben. Aber über einen großen Zeitraum wird es uns wahrscheinlich nicht viel anders erschienen sein, als ich es gerade beschrieben habe.
Bei Ihnen war das nicht so? Das alles hat nichts mit Ihnen zu tun? Ihre Kindheit war unproblematisch und harmonisch? Und die kleinen Schwierigkeiten, die es gab, mein Gott, gibt es die nicht überall? Und überhaupt, was soll das alles mit der Kindheit, schließlich sind Sie jetzt erwachsen, das alles liegt lange hinter Ihnen und seither sind 20, 30, 40 oder mehr Jahre vergangen?
Tatsächlich? Dann bitte ich Sie, sich selbst einige Fragen zu beantworten, die ich Ihnen jetzt stellen werde.
Erleben Sie sich manchmal in unangenehmen Situationen, in denen Sie eigentlich nicht so handeln, wie Sie handeln möchten? In denen Sie sich selbst auf eine unbestimmte Art gewissermaßen von innen her gezwungen oder getrieben fühlen?
- Fühlen sie sich gedrückt, lustlos, depressiv?
- Haben Sie Ängste oder Unsicherheiten? Schamgefühle, unter denen Sie leiden?
- Haben Sie manchmal unkontrollierte Wut- oder Gewaltausbrüche?
- Schlafen Sie oft aus unerklärlichen Gründen schlecht?
- Fühlen Sie sich mißverstanden, überarbeitet, gestreßt, unter Druck?
- Leiden Sie an hartnäckigen körperlichen Symptomen, wie Atembeschwerden, Druck auf der Brust, Herz-Kreislaufbeschwerden, Schwierigkeiten des Verdauungstraktes, Kopf- und Rückenschmerzen?
- Fühlen Sie sich einsam? Haben Sie Schwierigkeiten in Ihrer Beziehung? Haben Sie sexuelle Probleme?
- Gibt es Dinge in Ihrem Leben, die Sie gerne ändern würden, aber einfach nicht imstande sind, sie zu ändern?
- Glauben Sie, daß an Ihren Schwierigkeiten immer die Andern schuld sind - Ihr Mann, Ihre Frau, Ihr Chef, Ihre Kollegen?
Wenn sie ausnahmslos alle dieser Fragen mit Nein beantwortet haben, dann sind Sie möglicherweise im falschen Vortrag. Wenn Sie sich doch an manchen Punkten wiedergefunden haben, dann hat das, was ich Ihnen hier über das verdrängte Innere Kind erzähle, vielleicht auch mit Ihnen zu tun.
Was heißt ‘Inneres Kind’? Und was heißt ‘verdrängt’?
Erlauben sie mir, dazu ein bißchen auszuholen.
Wir Menschen werden geboren mit einem elementaren Grundbedürfnis, vielleicht elementarer als der physische Hunger, und der Inhalt dieses Bedürfnisses heißt KONTAKT. Das lateinische Wort ‘Kontakt’ kann man übersetzen mit ‘gemeinsam berührt sein’ oder ‘sich miteinander berühren’. Von der ersten Sekunde unseres Lebens an, schon im Mutterleib brauchen wir es, in Beziehung zu sein, brauchen wir es, daß jemand uns im umfassenden, also auch seelischen Sinn des Wortes ‘berührt’, und brauchen wir es, daß wir jemanden ‘berühren’ können. Wir brauchen diese spezifische, dem Menschen eigentümliche Art, mit anderen Menschen verflochten zu sein, von ihnen das Gefühl zu bekommen, daß wir etwas wert sind, daß unsere Existenz anerkannt wird. Wir können kein eigenständiges ‘Ich’ entwickeln ohne ein ‘Du’, mit dem wir in Beziehung sind und das mit uns in Beziehung ist. Kein Mensch kann sich aus dem Nichts heraus entfalten. Kontakt und Beziehung sind überlebensnotwendig, um eine Identität zu entwickeln: die Frage ‘wer bin ich?’ muß mir zuerst von jemand anderem beantworten werden, bevor ich sie schlüssig und gültig für mich selbst definieren kann.
Wir können ohne jegliche Art von sozialem Kontakt nicht überleben, wir würden vertrocknen und sterben. Friedrich der Große von Preußen hat an drei männlichen Säuglingen ein schauriges Experiment durchführen lassen: es ging darum, ‘wissenschaftlich’ zu beweisen, was die ‘Ursprache’ des Menschen sei, die Sprache, die er von Natur aus sprechen würde, wenn man ihm keine beibringen würde. In Diskussion waren, glaube ich, Latein, Griechisch und eine dritte Sprache. Friedrich ordnete an, daß diese drei Neugeborenen zwar mit Nahrung und Hygiene zu versorgen seien, aber mit keinerlei emotionellem oder gar sprachlichem Kontakt, ein Auftrag, dem die Pflegerinnen gewissenhaft nachkamen, so gewissenhaft, daß die Babys nach wenigen Wochen - tot waren.
Natürlich kommt uns aufgeklärten Menschen der Jahrtausendwende diese Idee von der ‘Ursprache’, diese Idee, Kinder im beziehungsleeren Raum leben zu lassen, bizarr vor. Aber unterbrechen wir nicht immer wieder an vielen, vielen kleinen Punkten die Beziehung zu unseren Kindern - diese gegenseitige Verflochtenheit, von der ich vorher gesprochen habe? Lassen wir sie nicht oft genug hören: ‘Frag’ nicht so viel!’? Oder: ‘Das ist so, weil ich es sage - und Schluß!’ Muten wir ihnen nicht oft genug zu, ohne unseren Schutz gefährliche Situationen durchzustehen - vom Alleinsein im Säuglingszimmer angefangen bis zur Konfrontation mit der ewig nörgelnden Lehrerin? Verwenden wir unsere Kinder nicht immer wieder für unsere eigenen Bedürfnisse, wenn wir von der Umwelt Anerkennung dafür haben wollen, wie gut sie schon laufen, sprechen, auf die Toilette gehen, ‘Grüß Gott’, ‘Bitte’ und ‘Danke’ sagen können? Und heißt all das und vieles andere nicht jedesmal, daß wir uns ein Stückchen von ihnen entfernen, ein Stückchen nicht ‘gemeinsam berührt‘ sind, ein Stückchen aufhören, uns von ihnen und dem, was sie wirklich bewegt, berühren zu lassen - und ebenso aufhören, sie so zu berühren, wie sie es brauchen?
Wir tun es, so wie alle anderen Eltern auch und so, wie auch unsere Eltern es mit uns getan haben: wir gehen aus dem Kontakt mit ihnen. Und damit tun wir - ob wir es bewußt wollen oder nicht - etwas potentiell Hochbrisantes: wir geben unseren Kindern zumindest punktuell, in dem gegebenen Augenblick, nicht die Berührung ihrer Seele, die sie brauchen - nicht die Nähe, die Geborgenheit, nicht die Selbständigkeit, nicht die Regeln, nicht die Freiheiten.
Mißverstehen Sie mich nicht. Ich möchte Ihnen weder einen Vortrag über Kindererziehung halten, noch Ihnen Schuldgefühle einreden für etwaige Fehler Ihren Kindern gegenüber. Ich mache selbst auch jede Menge Fehler in der Erziehung meiner Kinder und habe das sicher getan, seit sie auf der Welt sind.
Ich möchte Ihnen einen Begriff davon geben, wie selbstverständlich und alltäglich Verletzungen der kindlichen Seele durch Vernachlässigungen dieses elementaren Bedürfnisses nach Kontakt und Beziehung passieren - und daß Sie selbstverständlich auch Ihnen und mir passiert sind, als wir Kinder waren. Kinder werden vernachlässigt, verlassen, benutzt, mißhandelt, mißbraucht, bevormundet und vieles andere mehr. Wir sind Zeit unseres Lebens von anderen Menschen und dem Kontakt zu ihnen abhängig, aber am allermeisten und am existentiellsten sind wir das als Kinder von unseren Eltern - denken sie an das Bild, das ich Ihnen eingangs gezeichnet habe. Wir sind ihnen emotionell ausgeliefert. Sie müssen unseren Hunger nach Kontakt und Beziehung stillen - damit wir eine Identität entwickeln können, damit unser Leben einen Sinn macht.
Kürzlich erlebte ich auf einem Besuch bei Bekannten ein kleines zweijähriges Mädchen. Die Großeltern versuchten, wie das Großeltern so tun, das Kind und seine Fertigkeiten ‘vorzuführen’ - sie sollte alle möglichen Dinge sagen, tun, zeigen. Zwei-, drei Mal tat sie es auch, mit sichtlichem Spaß daran, bewundert zu werden, Dann trat deutlich ein Punkt ein, an dem sie begriff, daß es jetzt nicht mehr um sie ging, sondern darum, sich selbst aufzuwerten, indem sie zeigten, was für eine tolle Enkeltochter sie hatten. An dieser Stelle verweigerte sie sich schlicht und setzte sich auf ihr Schaukelpferd. Als die Großeltern weiter drängten und auch noch Bemerkungen machten wie „Dann ist die Oma aber traurig“, geriet sie sichtlich aus dem Konzept. Sie wußte nicht mehr, was sie mit sich anfangen sollte, ging von einer Person zur andern, nahm alle möglichen Spielsachen in die Hand, um sie gleich darauf wieder wegzulegen.
Die Großeltern, für sie wichtige Bezugspersonen, hatten den Kontakt, den ihren Bedürfnissen angemessenen Kontakt, zu ihr kurzzeitig unterbrochen. Sie verlangten von ihr etwas, das sie eigentlich nicht tun wollte, und subtil hatten sie dahinter die Drohung des Liebesentzuges gestellt. Dieser Konflikt -zwischen ihren eigenen Bedürfnissen und denen der Bezugspersonen - verwirrte sie, machte sie ärgerlich und unsicher.
Daß Kontaktunterbrechungen in Beziehungen passieren, ist normal. Auch Eltern sind Menschen und machen Fehler. Eltern können überlastet sein durch ein weiteres, kleineres Kind, durch Beziehungsprobleme mit dem Partner, durch Krankheit und Depression, durch soziale Probleme und durch vieles andere mehr. Das ist noch nicht der wirklich entscheidende Punkt.
Bitte stellen Sie sich in Ihrer Fantasie kurz folgendes vor: Sie begegnen auf der Straße jemandem, den Sie gut kennen und auch sehr mögen, jemand, der Ihnen wirklich nahe steht und den Sie einige Zeit nicht gesehen haben. Erfreut gehen Sie auf ihn oder sie zu und strecken die Hand aus, um ihn oder sie zu begrüßen. Da - aus Ihnen völlig unerklärlichen Gründen - schüttelt diese Person befremdet den Kopf, dreht sich etwas zur Seite und geht, sichtlich unangenehm berührt, an Ihnen vorbei. Nun, das ist es, was ich mit Kontaktabbruch meine. Aber was geht jetzt in Ihnen vor? Was fühlen Sie? Sind Sie verletzt, verärgert, traurig, wütend, verwirrt, verängstigt? Suchen Sie krampfhaft nach einer Erklärung?
Ähnliches geht in einem kleinen Kind vor, das mit der Situation des Kontakt- und Beziehungsabbruches konfrontiert ist: es wird von einer Flut von Gefühlen bestürmt, und es kann sich nicht erklären, was da passiert und warum es passiert. Daß das in dem Kind vorgeht, ist normal. Gefühle sind dazu da, um uns zu helfen, schwierige Situationen zu bewältigen: wenn wir beispielsweise jemanden durch Trennung oder Tod verlieren, hilft uns die Trauer, darüber hinwegzukommen. Aber diese Hilfe können uns die Gefühle nur geben, wenn sie da sein dürfen und nicht verboten werden.
Das kleine Mädchen aus dem Beispiel vorhin war vermutlich verärgert und verstört über das Verhalten der Großeltern. Ihr Vater leistete ihr in der Situation Beistand: er sagte „Jetzt ist es aber genug. Laßt sie doch in Ruhe!“ und nahm seine Tochter kurz tröstend auf den Schoß. Das genügte vollkommen: sie versteckte kurz ihr Gesicht in seiner Brust - sie durfte ihre Gefühle erleben und wurde mit ihnen angenommen. Dann rutschte sie wieder hinunter und setzte, jetzt unbehelligt, ihre kindlichen Spiele fort, nahm Kontakt auf mit den Erwachsenen, holte sich Spielsachen, hüpfte auf einem Kissen und so weiter.
Hätte der Vater statt dessen gesagt: „Was soll denn das, führ’ dich nicht so auf! Komm jetzt her und tu das, was die Oma will!“ und wäre verärgert gewesen, hätte sie also keine Erlaubnis gehabt, ihre unangenehmen Gefühle zu haben, dann hätte sie anders damit umgehen müssen. Die Gefühle wären ja dagewesen, sie hätten nicht einfach wieder verschwinden können. Aber sie hätte sie unterdrücken, verdrängen, in eine verborgene Schublade tief in ihrem Inneren stecken und zum Beispiel ganz wunderbar brav und sonnig sein können.
Aber mit dieser kurzen, momentanen Verdrängungsleistung wäre etwas Bedeutungsvolles passiert: sie hätte ein winzigkleines Stück von sich selbst, von ihrer Erfahrung, von ihrer Echtheit, von ihrer Identität abspalten müssen.
Ein unwichtiges, belangloses Beispiel? So etwas passiert alle Tage? Sicher. Aber wenn man sich vorstellt, daß unser kleines Mädchen laufend mit der Anforderung, brav und toll zu sein, konfrontiert ist, wenn sie laufend Verbote erhält, darüber ärgerlich und gekränkt zu sein, dann wird das allmählich ihre ganze Person umformen - oder besser verformen. Aus ihr wird vielleicht eine oberflächliche Frau, die nie gelernt hat, sich und ihre Bedürfnisse ernstzunehmen. All die verdrängten Inhalte aber, die echten Empfindungen, die unausgesetzte Kränkung, nicht wirklich sie selber sein zu dürfen, nicht ernstgenommen zu werden, das staut sich innerlich mehr und mehr auf und wächst allmählich zu einer ungeheuren Angst (die aber natürlich wiederum verdrängt werden muß). Langsam, aber sicher wird dieser Mensch immer lebensunfähiger, traut sich immer weniger Dinge zu, geht Beziehungen zu Männern ein, die ihre Abhängigkeit und Angst ausnutzen. Mit der Zeit wird das, was sie verdrängen muß, so viel, daß der Staudamm zu brechen droht. Also muß sie wirksamere Methoden finden, damit umzugehen: sie könnte beispielsweise zu trinken beginnen. Sie könnte Angstattacken erleiden, die es ihr unmöglich machen, ein einigermaßen normales Leben zu führen. Sie könnte depressiv werden, sie könnte aber auch eines Tages erkranken - beispielsweise an Krebs, Migräne oder Herzbeschwerden.
Der Grund dafür ist, daß sie ihr verletztes und unverstandenes inneres Kind in sich verstecken und vergraben, eben verdrängen mußte. Nichts läßt sich aber auf die Dauer verdrängen: es bricht an ganz anderer Stelle, verschoben, verzerrt, selbstdestruktiv wieder auf, immer dann, wenn die alten Wunden wieder angerührt werden.
Lassen Sie mich dafür ein anderes Beispiel erzählen. Stellen Sie sich einen kleinen Buben vor - nennen wir ihn Michael -, der einen Vater hat, von dem er niemals Lob und Anerkennung bekommt, sondern nur Tadel und Ermahnungen, egal, was er auch tut. Diese tagtäglich, über Jahre hinweg erlebt Kränkung darf nie zum Ausdruck gebracht werden, denn dann würde der Vater wahrscheinlich nur noch mehr schimpfen. Michael gibt sich sehr viel Mühe, wird ein ausgezeichneter Schüler und ein sehr braves, angepaßtes Kind - in der Hoffnung, vielleicht doch noch einmal Anerkennung und Liebe von seinem Vater zu bekommen. Aber immer wieder scheitert er damit - gibt aber immer wieder sich selbst die Schuld daran: die immer größer werdende Wut auf diesen harten Vater muß ja verdrängt werden. Er wird erwachsen, und er wird zum einsamen Arbeitstier. Aber auch hier erreicht er nie das Lob, das er sich wünscht: erstens ist das sowieso an seinem Arbeitsplatz nicht üblich, und zweitens ist es ja höchst selbstverständlich, daß Michael sein Allerbestes gibt. Etwas anderes ist man gar nicht gewöhnt. Er wird frustrierter und frustrierter, und trotzdem sucht er immer nur die Schuld bei sich selbst - er war eben nicht perfekt genug. Er wechselt den Arbeitsplatz, in der verzweifelten Hoffnung, daß es jetzt endlich klappen könnte. Aber sein Leistungsstreben und seine Frustration haben aus ihm im Lauf der Jahre einen Einzelgänger gemacht, der bei seinen Kollegen nicht sonderlich beliebt ist. Und immer, wenn etwas schiefläuft, ist er der willkommene Sündenbock - dem Chef gegenüber schiebt man die Schuld auf ihn. Schließlich läßt ihn der Chef zu sich kommen und sagt zu ihm: „Herr X, so geht es nicht weiter. Alle Kollegen beschweren sich über Sie. Nehmen Sie sich gefälligst zusammen und ändern Sie sich.“
Michael verläßt das Büro des Chefs, und eine unendliche Woge der Verzweiflung schwappt über ihm zusammen. Er kann ja nicht einmal wütend auf den verständnislosen Chef werden - zu tief hat er alle Gefühle von Wut und Ärger seit seiner frühen Kindheit tief in seinem Innersten vergraben. Alle nur notdürftig zugedeckten Wunden brechen auf, all die über die Jahre aufgestauten grenzenlose Angst, nicht geliebt zu werden. In der Nacht kann Michael nicht schlafen; von Stunde zu Stunde wächst eine bodenlose Angst davor, wieder in die Firma zu gehen. Am nächsten Tag fühlt er sich wirklich elend, und er meldet sich krank. Im Lauf der nächsten Tag leidet er unter schwerer Atemnot und Herzbeschwerden. Er geht zum Arzt, aber der kann nichts finden, gibt ihm ein leichtes Beruhigungsmittel und schreibt ihn wieder gesund. Verzweifelt reißt er sich zusammen und geht wieder arbeiten. Aber mit der Angst, die in ihm steckt, kann das nicht gut gehen - Michael ist so verunsichert, daß er am laufenden Band Fehler macht. Nach wenigen Wochen hält er es nicht mehr aus und kündigt. Die Arbeitslosigkeit wird erst recht zur Qual für ihn: einerseits hat er keine Möglichkeit mehr, sich wenigstens zu bemühen, Anerkennung zu finden - und andererseits traut er sich von Tag zu Tag weniger zu, wieder Arbeit zu finden. Es kommt zu massiven Konflikten in seiner Ehe, und schließlich trennt sich seine Frau von ihm.
Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, wie es mit Michael weiter bergab gehen könnte. Die Geschichte hat sich wirklich zugetragen; ich werde Ihnen später erzählen, wie es weitergegangen ist.
Und das alles, weil Michael von seinem Vater schlecht behandelt worden ist? Das alles, weil er manche Gefühle nicht erleben und zeigen durfte? Nein - so ist das zu verkürzt. Das alles, weil sich das immer und immer wieder, hunderte, vielleicht tausende Male über die Jahre hinweg ereignete. Das alles, weil er im Lauf dieser Zeit mehr und mehr von seiner Identität verstecken und vergraben mußte, weil er immer weniger er selbst sein durfte. Sie können sich das wie die Rinde eines Baumes vorstellen, die oft und oft tief eingekerbt wird. Sie wächst schon weiter, aber mit jedem Schnitt werden ihre Entwicklungsmöglichkeiten ein Stückchen eingeschränkt. Auch der kleine Michael wächst weiter; körperlich sowieso, das ist ein biologisches Gesetz. Auch seelisch, aber immer weniger so, wie er wirklich könnte. An all diesen verwundeten Stellen ist ein kleines bißchen Entwicklungsstillstand eingetreten. An all diesen Punkten gibt es etwas, das ihn hindert, voll und ganz erwachsen zu werden - und dieses Etwas ist das verdrängte Innere Kind. Mit dieser Bezeichnung wird es deutlich: es bleibt etwas im Inneren, das nicht erwachsen werden konnte, weil es daran gehindert wurde. Daher verhält sich Michael auch als physisch erwachsener Mensch in vielen Situationen - eben in solchen, die an seine inneren Wunden rühren - wie ein Kind mit entsprechend eingeschränkter Lösungskapazität. Aber das - und das ist das Fatale - ist ihm nicht bewußt: all das, was ihm zugestoßen ist und seine Entwicklung so behindert hat, wurde ja verdrängt - eben weil es so schmerzlich und unbewältigbar war.
Und damit sind wir am Punkt. Wenn Michael nämlich versucht, sein Problem zu lösen, wird er immer an die Grenzen diese großen entwicklungshindernden Bereiches stoßen, der ihm nicht bewußt ist. Freunde, Bekannte, seine Frau, Kollegen werden ihm vielleicht raten, er solle sich doch ‘einfach zusammennehmen’ oder er solle sich klarmachen, daß seine Ängste ‘einfach unlogisch’ seien. Er solle die Stelle wechseln, mit einem neuen Anfang werde sich sicher vieles ändern. er solle ein Arbeitsrehabilitationstraining machen oder sich umschulen lassen. All das wird Michael mit seiner großen Bereitschaft, sich anzustrengen, wahrscheinlich verzweifelt versuchen. Aber all das wird nichts daran ändern, daß Michael in weiten Bereichen seiner Seele schlicht nicht erwachsen ist. Und dabei helfen ihm alle Veränderungsversuche auf der Verhaltensebene nur sehr begrenzt.
Was ihm wirklich helfen würde, wäre sein Inneres, ihm nicht bewußtes Kind wiederzuentdecken - um sich weiterentwickeln, um erwachsen werden zu können. Was das bedeutet, möchte ich Ihnen im Folgenden erzählen.
Kürzlich sprach mich eine Klientin, die die Ausschreibung zu diesem Vortrag gelesen hatte, auf den Titel an. „Wiederentdecken des verdrängten Inneren Kindes“, sagte sie, „das klingt so putzig und niedlich. Wissen Sie überhaupt, wie weh das tun kann?“
Und sie hat recht. Ich bin nicht hier, um Ihnen über einen romantischen, verklärten Vorgang zu entdecken, das mit stimmungsvollen Meditationen zu klangvoller Musik vor sich geht. Wenn die Geschichte so einfach wäre, dann gäbe es nicht so viel Leid, dann würde sich jeder Mensch darum reißen, schnell sein Inneres Kind wiederzuentdecken und zu umfassendem Erwachsensein zu gelangen. Tatsächlich aber scheint es so zu sein, daß Depressionen, Beziehungskonflikte, psychosomatische Krankheit, Ängste vordergründig immer noch weniger wehzutun scheinen, als das, das damit verdrängt und abgewehrt wird, sichtbar werden zu lassen: die eigene schmerzvolle Geschichte. Der Weg, den ich Ihnen hier beschreiben will, der Weg zur Verarbeitung dieser Geschichte, ist der Weg der Psychotherapie.
Auf Empfehlung seiner Ärztin kam Michael schließlich zu mir in die Praxis.
Psycho-Therapie heißt ‘Heilung der Seele’, und das wiederum heißt nichts anderes, als die Stellen, an denen die Seele eines Menschen durch Unterbrechungen der Beziehung, des Kontaktes, krank geworden ist, zu finden und ihm zu helfen, diese Stellen zu verarbeiten. Das wiederum geht nur, wenn der Psychotherapeut an Stelle der bisherigen, krankmachenden Beziehungen eine neue, heilende Beziehung anbietet. Nur so kann das, was bisher verdrängt wurde, allmählich wieder zu Bewußtsein kommen.
Zuallererst heißt das viel Geduld und die Fähigkeit zum Zuhören zu haben. Michael kam also Woche für Woche zu mir und erzählte von seinen Problemen: von seiner schrecklichen Angst, wieder zu versagen, die es ihm unmöglich machte, sich um eine Stelle zu bewerben, von dem Schmerz über die Trennung von seiner Frau, über die körperlichen Beschwerden und die Angst, zu sterben. Anfangs bereitete es ihm große Schwierigkeiten, über diese Dinge zu sprechen - er fühlte sich ja als Versager und hatte Angst, daß auch ich mich - wie seinerzeit sein Vater - verächtlich von ihm abwenden könnte. Erst allmählich, als er merkte, daß ich ihn und seine Sorgen wirklich ernst nahm, taute er mehr und mehr auf. Diese Diskrepanz zwischen dem, was er mit mir erlebte und dem, wie sein Leben bisher verlaufen war, beschäftigte ihn immer wieder. Lassen Sie mich hier einen Dialog zwischen ihm und mir aus dieser Zeit wiedergeben.
M.: Ich merke immer wieder, daß ich mich vor Ihnen ziemlich schäme, wenn ich über das alles spreche.
Th.: Was meinen sie mit ‘das alles’?
M.: Na ja, zum Beispiel, daß mich meine Frau ‘rausgeschmissen hat, daß ich nicht mehr in meine Arbeit gehen konnte, daß ich mich einfach nicht um eine Stelle bewerben traue.
Th.: Und was ist daran für Sie so zum Schämen?
M.: Ich hab’ Angst, daß Sie sich über mich lustig machen könnten. Vielleicht nicht offen, aber heimlich könnten Sie sich ja denken ‘so ein Versager’.
Th.: Und wenn das so wäre?
M.: Dann wäre es so wie immer.
Th.: Das heißt, Sie sind immer für einen Versager gehalten worden?
M.: Eigentlich schon.
Th.: Und wer hat damit angefangen?
M.: Mein Vater, glaube ich. Dem habe ich nie was recht machen können.
Das ist ein wesentlicher Punkt der Therapie: hier fängt Michael an, auf der Ebene des Denkens klar zu kriegen, daß sich in seinem Leben etwas wiederholt und daß das etwas mit seinen frühen Erfahrungen zu tun haben könnte. Er hat begonnen, sein verdrängtes Inneres Kind wiederzuentdecken. Dieses Thema beschäftigt uns in den nächsten Wochen immer wieder, und er beginnt, seine Kindheit in einem etwas veränderten Licht zu sehen. Bisher hatte er nämlich geglaubt, daß er ein behütetes Aufwachsen hatte, daß seine Eltern bestmöglich um ihn bemüht waren und daß es nur an ihm gelegen hatte, wenn es Probleme gab - eben weil er so ein Versager war.
Durch diesen Vorgang verschwinden weder seine Probleme noch seine Ängste - aber er kann allmählich erkennen, daß diese Ängste nicht ausschließlich mit der Gegenwart zu tun haben, sondern daß seine Gegenwart oft deswegen so scheinbar ausweglos ist, weil er mit den Gefühlen und der Lösungskapazität eines Kindes an sie herangeht. In dieser Zeit findet er auch wieder eine neue Stelle, die allerdings nicht viel besser als die vorherige ist: auch hier hat er einen Vorgesetzten, der immer wieder an ihm herumnörgelt und dem er nichts recht machen kann. Realistisch gesehen, ist es zu diesem Zeitpunkt seiner Entwicklung ein durchaus positiver Schritt, daß er überhaupt eine Stelle finden kann. Eine wirklich grundlegende Änderung und Besserung ist noch nicht zu erwarten.
Aber seine Entwicklungsblockaden sind ja durch einen umfassenden Verdrängungsvorgang entstanden: er hat nicht nur die Erinnerung an das, was passiert ist, weggeschoben, sondern auch und vor allem die Gefühle dazu: den Schmerz über die vielen Verletzungen und die Wut darüber, so verächtlich behandelt worden zu sein. Erst wenn es möglich wird, auch diese Gefühle wiederzuentdecken, dann kann wirklich Verarbeitung passieren. Das aber ist der eigentlich komplizierte Teil des Geschehens -denn diese Gefühle wurden ja mit gutem Grund verdrängt, weil sie so unaushaltbar waren. Das ist der Teil, von dem die vorher erwähnte Klientin sagte, er sei überhaupt nicht putzig und niedlich, sondern überaus schmerzlich.
Zu diesem Zeitpunkt - Michael war etwa ein halbes Jahr in Therapie - hatte er einen Traum: er träumt, er ist daheim in seinem Elternhaus und wartet auf den Weihnachtsabend. Er ist schon voller Vorfreude und kann es kaum mehr erwarten - da öffnet sich plötzlich ein Fenster, und eisiger Wind bläst herein. Mit einem Mal ist die ganze Stimmung zerstört, und Michael friert.
Ich deutete den Traum so: Michael ist ein Kind und erwartet sich die Wärme und Geborgenheit, die er braucht. Aber Gefühlskälte zerstört diese Erwartung - zurück bleibt ein zitterndes Kind, zitternd vor emotioneller Kälte und vor Angst.
Über die Arbeit an diesem Traum erkennt Michael wieder, wie viel Zeit seines Lebens er in diesem frierenden Zustand verbracht hat: von seiner Kindheit bis herauf zu seiner Ehe und seiner beruflichen Situation. Diese Entdeckung macht ihn sehr betroffen, und ihm wird klar, wie groß seine Sehnsucht nach Wärme und Geborgenheit ist - eine Sehnsucht, die bis jetzt ein Leben lang unerfüllt geblieben ist.
Dieses Thema beherrscht die nächsten Monate der Therapie; Michael spürt allmählich nicht nur Traurigkeit über sein Leben, sondern auch Zorn und Ärger darüber, das ihm das, was er braucht, so lange verwehrt geblieben ist.
Aber seine Emotionen sind noch weitgehend ungerichtet, das heißt, sie gehen noch nicht zu den Personen hin, die ihm den Kontakt verweigert haben, sondern beschäftigen sich insgesamt mit der Tatsache, wie frustrierend sein Leben verlaufen ist und noch verläuft. Nicht umsonst war es im Traum der Wind, also eine anonyme Naturgewalt, die für die Kälte verantwortlich war.
Das hat seinen guten Grund: an dem Beispiel des kleinen Mädchens mit seinen Großeltern, das ich Ihnen vorhin erzählt habe, ist deutlich geworden, daß am Ausgangspunkt der Verdrängungsleistung ein Konflikt steht: ein Konflikt zwischen den eigenen Bedürfnissen und denen der geliebten Bezugsperson. Genauer gesagt, ist es letztlich ein innerer Konflikt zwischen zwei Bedürfnissen: dem, das tun und fühlen zu wollen, was gerade paßt, und dem nach der Liebe dieser Bezugsperson. Im Zweifelsfall muß sich das Kind für die Leistung entscheiden, die notwendig ist, um die Liebe nicht zu verlieren und sich damit die Gefühle des Ärgers, des Gekränktseins, des Schmerzes verkneifen. Das Ziel der Verdrängung des Inneres Kindes, der wirklichen Gefühle und Bedürfnisse, ist es also, sich die Liebe zu erhalten. Die Elternperson wird innerlich vor diesen Gefühlen geschützt, und das Kind nimmt die Schuld auf sich - eben um die Liebe des Vaters oder der Mutter nicht zu verlieren. Michael - statt wütend und gekränkt auf den Vater zu sein, der von ihm Leistungen fordert, die er nicht bringen kann - will sich die Liebe des Vaters erhalten und sucht die Schuld bei sich selbst: er fühlt sich als Versager.
Um den zentralen Teil des ‘verdrängten Inneren Kindes’ wiederentdecken zu können - die Gefühle - muß Michael erkennen, daß er die Liebe seines Vaters eigentlich heute nicht mehr braucht, weil er ja erwachsen ist. Aber das ist ein sehr schmerzlicher Prozeß: denn er bedeutet Abschied zu nehmen von einer Kindheit, die es nicht nur nie gegeben hat, sondern die es auch nie mehr geben wird. Es bedeutet, zu spüren, daß es da eine tiefe Wunde gibt, die zwar heilen kann, die aber eine zeitlebens bleibende Narbe hinterlassen wird.
Allmählich realisiert Michael, daß es nicht ‘der Wind’ war, der ihn frieren ließ, sondern ganz konkrete Personen - sein Vater, und natürlich auch seine Mutter, die ihn vor den Anforderungen und vor der Verachtung des Vaters nicht ausreichend in Schutz nahm. Hier wieder ein Gesprächsausschnitt aus einer Stunde nach etwa 1 1/4 Jahren der Therapie.
M.: Ich hab’ mir schon überlegt, ob ich mit meinem Vater darüber reden soll, was er mir angetan hat.
Th.: Über was, das er Ihnen angetan hat?
M.: Na, das, was wir da in den ganzen Stunden herausgefunden haben.
Th.: Was würden Sie ihm denn sagen?
M.: Ich würd’ ihm sagen - warum warst du denn immer so hart zu mir?
Th.: Warum hast du mir so wenig Liebe gegeben?
M.: Ich weiß nicht, ob ich mich das trauen würde.
Th.: Wovor hätten Sie Angst?
M.: Daß er alles abstreitet. Daß er - daß er sich wieder über mich lustig macht.
Th.: Und dann?
M.: Dann wäre wieder alles so wie immer. Ich wäre klein und dumm, und er groß und gescheit.
Th.: Und all ihre Gefühle würden wieder innen stecken bleiben.
M.: Am liebsten würde ich ihn anschreien - aber dann habe ich Angst, daß ich zu weinen anfangen würde. Und er würde wieder lachen.
Th.: Und wieder würden sie als Versager zurückbleiben.
M. (fängt an zu weinen): Warum ist er nur so unfähig?
Diese Erkenntnis ist zentral: er war unfähig, Michael die Liebe zu geben, die er brauchte. Damit ist ein Anfang gesetzt, daß Michael das Versagen und die Schuld nicht mehr auf sich nimmt.
Die Bezeichnung ‘Wiederentdecken’ des Inneren Kindes ist tatsächlich wörtlich zu nehmen, und zwar geht es dabei um ein zweifaches Wiederentdecken: einerseits werden immer mehr und mehr Situationen aus der Kindheit erinnert - und andererseits wird im Prozeß der Bewältigung der eigenen Geschichte der ursprüngliche vitale und gesunde Kern wiedererweckt.
Bei Michael kommt dieser Prozeß oft über Träume in Gang. So erzählt er einmal, im Traum sei der Teufel hinter ihm her gewesen und wollte sich seine Seele holen. Auf der verzweifelten Flucht sei ihm ein mächtiger Bär zu Hilfe gekommen, der dem Teufel eine Ohrfeige versetzt habe, sodaß Michael sich verstecken konnte.
Er selbst deutet den Traum so, daß ich der Bär sei, der ihn zum ersten Mal in seinem Leben in Schutz vor seinem Vater genommen habe. Die Erkenntnis, daß dieser Vater für ihn ein Teufel gewesen ist, kommt allerdings erschreckend.
M.: So deutlich habe ich das bis jetzt noch nicht gesehen.
Th.: Was schreckt Sie daran so?
M.: Daß ich mit dem Teufel leben hab’ müssen! - Aber es stimmt einfach, mir fällt da zum Beispiel eine Geschichte ein, wie ich mit einem nicht so guten Zeugnis heimgekommen bin. Ich hab’ mich eh sofort hingesetzt und hab’ Rechenübungen gemacht, um meinen guten Willen zu zeigen. Und er hat natürlich kapiert, was los ist, und ist ohne ein Wort hergekommen und hat mir links und rechts eine geknallt, daß ich aus der Nase geblutet hab’. Und dann hat er wieder dieses verächtliche Grinsen aufgesetzt und gesagt: was für ein schweres Schicksal - ein Sohn, der ein Versager ist.
Th.: Eine ungeheuerliche Gemeinheit.
M.: Wenn ich daran denk’, dann könnt’ ich ihm umbringen! Die Ohrfeigen waren gar nicht das Schlimmste - am schlimmsten war diese bodenlose Verachtung!
Über die Erinnerung an eine Vielzahl solcher und ähnlicher Szenen erkennt Michael, wie sich das Thema ‘Verachtung’ weiter durch sein Leben gezogen hat.
M.: Und immer, immer wieder haben sie mich so angeschaut, alle, meine Ex-Frau, mein Chef, meine Kollegen, alle, immer wieder dieses Grinsen: mein Gott, bist du ein lächerlicher Versager!
Th.: Und immer wieder haben Sie sich schlagen lassen.
M.: Und deswegen fürchte ich mich auch so, mir eine anständige Arbeit zu suchen! Weil ich Angst habe, dort wieder einmal der Versager zu sein - und geschlagen zu werden!
Th.: Das hängt von Ihnen ab, ob Sie sich weiter schlagen lassen.
M.: Nein, das will ich wirklich nicht mehr! Ich will endlich erwachsen sein!
Deutlicher könnte er es nicht mehr sagen: er hat einen wichtigen Teil seines Inneren Kindes wiedergefunden - den kraftvollen Wunsch, eigenständig zu sein und sich nicht mehr unterdrücken zu lassen. Und gleichzeitig entsteht aus diesem Wiederfinden ein Stück neuer Reifung, neuen Erwachsen-Seins.
Wenige Wochen später bewirbt sich Michael tatsächlich um eine neue Stelle und erhält sie auch. In vielen Gesprächen analysieren wir immer wieder die Situation an seinem neuen Arbeitsplatz, die Einladungen, sich wieder in die Rolle des Versagers zu begeben und was er tun kann, um sich dieser Rolle zu entziehen. Allmählich wird sein Erwachsen-Sein tragfähiger. In dem Maß, in dem die berufliche Arbeit weniger angstbesetzt wird, entsteht Raum für neue Kapazitäten in seinem Leben: er intensiviert den Kontakt mit seinen Kindern aus der geschiedenen Ehe und entwickelt mehr und mehr die Beziehung eines erwachsenen Vaters zu ihnen. Je mehr er sich den Kindern annähert, umso mehr wird aber auch die Erinnerung an seine eigene Kindheit wach. Deutlich wird ihm der Kontrast zwischen dem, was Kinder von einem Vater wirklich brauchen und dem, was er stattdessen von seinem eigenen Vater bekommen hat.
Das ist der Punkt, an dem Michaels Psychotherapie zur Zeit, nach etwa 2 Jahren, angelangt ist. Mit dem Mehr an Erwachsensein, das er bis jetzt entwickelt hat, haben sich die Kontakte zu anderen Menschen deutlich verändert, und allmählich wächst in ihm der Wunsch nach Liebe und Partnerschaft, nach einer neuen Beziehung.
Ich weiß nicht, ob in diesen kurzen Schilderungen plastisch geworden ist, was für ein langwieriger und komplizierter Vorgang das Wiederentdecken seines Inneren Kindes für Michael ist - was für ein zugleich schmerzvoller und bereichernder. Hier ist leider nicht genügend Raum, um ausführlich zu schildern, was für schreckliche Gefühle oft mit dem Auftauchen der Erinnerung an mehr und mehr verletzende Erlebnisse verbunden war, aber auch wie befreiend es für ihn war, nicht mehr wesentliche Teile seines Selbst abspalten zu müssen und zu einem ganzen Menschen, im Besitz seiner lebensgeschichtlichen Erfahrungen und seiner erwachsenen Kapazitäten zu werden.
Ich hoffe, sie können sich ein Bild davon machen, wie versteckt und vergraben das Innere Kind ist, und daß es Zeit und Geduld, auch mit sich selbst, braucht, um es behutsam aus seinem Versteck hervorzuholen. Jeder Mensch hat dieses Innere Kind mit gutem Grund so tief verborgen: es geschah, um mit einer oft übermenschlich schwierigen Welt voll ständiger Drohung mit Liebesverlust, möglichst gut durchzukommen. Für die Zeit, in der die entsprechenden Strategien entwickelt wurden - die Zeit der Kindheit -waren sie die wahrscheinlich bestmögliche Alternative. Im Leben des erwachsenen Menschen werden sie aber behindernd und verursachen seelisches Leid. Viel von diesem Leid kommt aus der unausgesprochenen Hoffnung, es könne endlich alles gut und vor allem ungeschehen gemacht werden. Wenn Michael sein Inneres Kind verdrängt, dann geschieht das in dem Wunsch, das, was passiert ist, vergessen, ungeschehen machen zu können. Das Wiederentdecken des Inneren Kindes beinhaltet das oft sehr schmerzhafte, aber letztlich befreiende Erkennen der Tatsache, daß nichts von dem, was passiert ist, ungeschehen oder rückgängig gemacht werden kann. Ein Mensch mit einer unglücklichen Kindheit kann nicht noch eine glückliche Kindheit haben, so schön das vielleicht auch manchmal wäre. Was möglich ist - und was auch genügt - ist, das was geschehen ist, zu bewältigen und zu integrieren, um gesund als erwachsener Mensch weiterleben zu können.
Was kann ich Ihnen von diesem Vortrag mitgeben?
Machen Sie sich mit der Idee vertraut, daß es auch bei Ihnen dort, wo Sie Probleme haben, Bereiche gibt, die nicht erwachsen werden durften - wo ein verdrängtes Inneres Kind auf seine Wiederentdeckung wartet.
Hören Sie auf, sich selbst die Schuld an Ihren Problemen zu geben und sie als individuelles Versagen zu sehen. Das, was heute Schwierigkeiten macht, hat oft seine Wurzeln in einer ursprünglich sehr kreativen Strategie, mit einer vielleicht sehr schwierigen Welt zurecht zu kommen.
Auch wenn es für Sie vielleicht kränkend ist - geben sie die Idee auf, da alleine herauskommen zu können. Verdrängtes ist mit gutem Grund dem bewußten Zugriff entzogen; es liegt in er Natur der menschlichen Seele, daß man es nur sehr bedingt wieder aufspüren kann.
Es ist keine Schande, Hilfe im Gespräch mit anderen Menschen zu suchen, und es ist keine Schande, Psychotherapie in Anspruch zu nehmen. Wenn Ihr Auto kaputt ist, werden Sie es auch nicht für eine Schande halten, damit in die Werkstatt zu fahren.
Und schließlich: was auf sie wartet, ist eine Reise, die sicher manchmal abenteuerlich und manchmal angstmachend ist - aber es ist in jedem Fall eine Reise, die sich lohnt. An ihrem Ende steht eine ungleich höhere Fähigkeit, erwachsen zu sein und ihre Lebenskapazitäten auszuschöpfen.